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8. Kapitel – Nach dem Sturm

… Genau acht Tage sind vergangen, seit Jane Bellcastle mich aus der Brandung zog und – meinen Mukki.

Da waren wir noch so gut wie tot, der Fennek und ich … Da waren wir vollgepumpt mit Seewasser, zerkratzt, blutend, verschunden …

Am Morgen nach dem Taifun fand Jane uns, als die Sonne friedlich lachte und die Palmen rauschten und knisterten und die schwache Brandung ein zahmes Lied sang.

Da fand sie, die Einsame, uns.

Ich erwachte.

Sie saß neben mir am Fuße der Palme, und unsere Blicke ruhten lange ineinander.

»Das hatten Sie wohl nicht erwartet, Mr. Abelsen,« sagte sie mit müdem Lächeln …

Irgend etwas, das noch sehr schwach auf den Beinen war, schob sich näher und kroch auf meinen Schoß: Fennek mit dem Schlappohr!!

Er hatte ein Schlappohr seit jener Schießerei, die ihm einen Teil seines Ohres kostete, und er sieht jetzt ein wenig komisch aus, der treue Mukki.

Mukki ist ein schamloser Egoist. Nur er will beachtet sein. Jetzt mehr denn je. Seine Freudenbezeugungen lenken meine Gedanken ab, bis er sich beruhigt hat und ich Jane fragen kann: Wie kommen Sie hierher. Wo sind wir?«

Auf ihrem Antlitz ist keine Spur von Schminke mehr, ihr Leinenkleid, die Schuhe, die Seidenstrümpfe – Lumpen nur noch!

Die Herzogin von Bellcastle erwidert mit demselben müden Lächeln: »Ich kam zwölf Stunden vor Ihnen hierher – ich schwamm, Sie und Ihren Fennek trieb eine freundliche Strömung an diesen Strand, an diese leere Insel … Wir sind allein hier, wir drei …«

Mein wirres Hirn klärte sich allmählich.

»Hier – trinken Sie, Mr. Abelsen … » – und sie hielt mir eine halbe Kokosnuß hin, in der noch das weiße Fleisch schimmerte. »Es ist Whisky mit Quellwasser … Der Whisky stammt aus der Kajüte, die nach Ihnen samt anderen Wrackteilen angesegelt kam. Der Taifun zog südwärts vorüber, ich spürte hier wenig davon.«

Ich trank, und dann … kippte mein Magen um.

Nachher fühlte ich mich weit kräftiger und trank nochmals. Das behielt ich bei mir.

»Entschuldigen Sie … » meinte ich doch etwas verlegen …

»Oh, es war ja nur Seewasser, und wir beide werden wohl das Schamgefühl etwas herabmindern müssen, Mr. Abelsen: Robinson und Frau Robinson – ich bitte Sie!« In ihren dunklen Augen zwinkerten kleine Teufelchen harmloser Schelmerei.

Ich gab ihr die Hand. »Sie haben mir und Mukki das Leben gerettet, Jane,« sagte ich zwanglos-herzlich. Ich danke ihnen. Wir wollen alles Geschehene vergessen, wir sind hier aufeinander angewiesen, wir wollen gute Kameraden sein …«

»Vielleicht,« – und sie schaute zur Seite.

Zwischen den Gräsern und dem Korallengeröll lag der Zinkkasten, der mein Tagebuch stets verschloß. Er war offen …

Eine peinliche Pause …

»Sie haben gelesen, Jane?«

»Ja – alles. Aber das ist ja so gleichgültig … Was bedeutet uns noch die Vergangenheit?! Nichts! Wir sind abgeriegelt von aller Welt – ich war dort oben auf dem Berge, ringsum nichts als Wasser – Meer – Himmel – Einsamkeit. Diese Insel gehört zu keinem Archipel … Sie liegt völlig abseits. Es kann die Baker-Insel sein – kann … Zwei Menschen, die wenig Aussicht haben, je wieder mit anderen in Berührung zu kommen, sollten unter das Einst einen Strich ziehen und ein neues Blatt ihres Lebensbuches beginnen – und schreiben: »Zwei Menschen, durch das Geschick aneinandergeschmiedet, sprechen nie mehr über Vergangenes!« – Wollen Sie das tun, Olaf?« – Es klänge lächerlich, wollte ich Sie noch fernerhin Mr. Abelsen anreden,«

Ich zauderte, überlegte: »Nur eine Frage,« bat ich. »Woher schwammen Sie an dieses Gestade? Ist ihre Jacht untergegangen?«

Sie krauste etwas die Stirn.

»Wäre sie untergegangen!! Wäre sie gesunken, Olaf!!« Ihre Stimme war hart und bitter. Dann beherrschte sie sich wieder. »Es muß Ihnen genügen: ich schwamm von der Jacht hierher, die noch ein wenig den Taifun zu kosten bekam – zu wenig! – Und damit ist's genug … Haben Sie Hunger?«

Ich aß das Fleisch einer Kokosnuß …

So begann der erste Tag.

Unsere Hütte aus Blättern und Zweigen und dem Dach der Kajüte der Astarte steht im Grünen auf dem flachen Gipfel des Berges. Nach Osten zu schließt sich an diesen Berg, der seinen vulkanischen Ursprung durch allerlei klare Zeichen verrät, die Laguneninsel unmittelbar an. Die fleißigen Korallentierchen haben an diesen Berg ein Atoll, eine Ringinsel mit einer einzigen Durchfahrt angeklebt – in Jahrtausenden …

Grün der ganze zerklüftete Berg mit den tiefen Lavarillen, mit den schroffen Ufern – vielleicht fünfzig Meter hoch, vielleicht zweihundert unten im Durchmesser – grün der Ringstrand des Korallenteils dieser Insel, deren Namen ich nicht kenne, auch nicht kennen will.

»Name« ist schon Entweihung.

Es ist die Insel, unsere Insel …

Grün der Ringstrand, Palme an Palme, Busch an Busch, Blume an Blume …

Paradies – nicht das Paradies der Enterbten, sondern das Paradies der Geläuterten.

Die Lagune, der Binnensee, mag fünfhundert Meter Durchmesser haben, der Korallenstrand ist nirgends breiter als fünfzig Meter, an manchen Stellen sogar nur zehn Meter, und dort ist er kahl, dort fegt der Sturm in die Lagune hinein und hat all den fruchtbaren Guano und den verwitterten Kalk, die Erde längst weggespült, spült ihn immer wieder weg.

Bisher hatten wir hier keinen Sturm. In den acht Tagen, die wir hier sind, hat sich vieles geändert. Ich habe mit Jane die Wrackteile geborgen, wir haben diese Hütte gebaut, die in der Mitte eine Scheidewand hat – jeder hat sein Gemach. Eine Küche brauchen wir nicht, denn wir haben weder Kochtöpfe noch Fleisch. Wenn wir in der Lagune Fische fangen, rösten wir sie gleich am Korallenstrand am offenen Feuer. Aber wir fangen selten etwas … Die Lagune ist zum Teil sehr flach, dann wieder abgrundtief, und wenn wir ins Wasser waten, fliehen die Fische … Wir haben kein Boot, kein Floß – noch nicht. Wir sind Vegetarier … Für Seevogelbraten danken wir. Und auf unserer Insel gibt es leider keine Tauben, die doch sonst auf allen Atollen anzutreffen sind. Fennek frißt mit Behagen Kokosnuß – Fennek liebt Jane, und zuweilen verschwindet er nachts von meinem Graslager und besucht Jane. Dann schlafe ich stets sehr unruhig.

Es ist ein wunderbares Leben auf unserer Insel. Jane und ich begreifen jetzt so recht, wie paradiesisch das Dasein der Südseeinsulaner gewesen sein muß, bevor die Europäer dieses sonnige Nichtstun, dieses köstliche urwüchsige Charakterbild harmloser Naturkinder gründlich und für immer vernichteten. Arbeit gab es nicht … Die wenige Arbeit war mehr Spiel, Zeitvertreib. Lebensmittel wuchsen diesen Glücklichen buchstäblich in den Mund. Daß sie zum Teil Menschenfresser waren, daß blutige Kämpfe, Piratenfahrten, gelegentlich auch ein Mord jähe, krasse Abwechslung brachten: es wurde schnell vergessen! In sauberen Pfahlbauten, in sauberen Hütten, in reichgeschnitzten Booten, unter strahlendem Himmel, in reiner Luft, in strenger Ehrbarkeit, Keuschheit und primitiver Aufrichtigkeit flossen ihre Tage dahin … Die Häuptlinge der einzelnen Inseln führten ein strenges, gerechtes Regiment. Wuchs aus ihrer Zahl einmal ein besonders befähigter Kopf hervor, dann unterwarf er sich die Nachbarinseln, gründete ein größeres Reich, hielt sich eine stattliche Truppe von Kriegern … Trotzdem blieb das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten stets ein durchaus Patriarchalisches. War der »König« bei Laune, ordnete er ein allgemeines tagelanges Gelage von Palmwein an – man tanzte mit Blumen im Haar, man bezechte sich – alldem blieb immer der kindlich naive Anstrich.

Ja – wir begriffen nun, was man diesen Glücklichen gestohlen hatte, als man ihnen »die Kultur« schenkte! Man bestahl sie um ihr Bestes: um die Herzensreinheit, die auch der Mörder besitzen kann, dem der Mord nicht als Verbrechen gilt!

Wir lebten ebenfalls wie Kinder … Wir badeten, schwammen in der Lagune, wir schliefen, fischten, suchten Kokosnüsse, wir berührten nie die Vergangenheit, unsere Gespräche drehten sich um Dinge, die uns allein angingen, unsere Insel, den Fennek, die Seevögel und … die Stechmücken.

Leider gab es hier nur zu viele davon. Sobald der Abend anbrach, überfielen sie uns in ganzen Schwärmen. Da half nur Feuer und Rauch. Da halfen nachts nur die von uns selbst geflochtenen Decken, die wir auf Pfählen um unsere Lagerstätten schnürten. Jane lernte das Flechten überraschend schnell. Sie war geschickt, eifrig, fast künstlerisch … Sie färbte diese Palmfasermatten mit Blattgrün und Schneckenrot – eines Tages erschien sie selbst in einer Art Kittel, unter dem sie nur noch einen Lendenschurz trug. Wir näherten uns sehr schnell echt paradiesischen Zuständen.

Und doch …

Diese acht Tage zeigten mir, daß zwei Menschen vielleicht unter dem Einfluß einer ungewohnten Umgebung und völlig veränderter Lebensbedingungen für eine Woche Vergangenes ausschalten können. Vielleicht so lange …

Schon gestern gab es zuweilen in unserem müßigen Geplauder beklemmende Pausen, wenn das Gespräch doch einmal Dinge zu streifen drohte, die für uns tot sein sollten.

Heute entschlüpfte mir unbewußt der Name Aristide. Das war für Jane und mich wie ein lähmender Blitz. Wir starrten uns fast entsetzt an, und – dann trennten wir uns – angeblich um notwendige Arbeiten zu verrichten.

Jetzt, wo Stunden darüber verstrichen sind, wo ich allein hier in meinem Hüttengemach an dem Tisch aus Peter Bolks Koje sitze, haben wir noch nicht wieder zueinander gefunden.

Es war Unnatur, ein derartiges Bündnis zu schließen – und ich will mit Jane noch heute allen Ernstes dieses Uninnige erörtern und den Widersinn aus der Welt schaffen …

Schon deshalb, weil ich es nicht länger ertrage, meine toten Gefährten angeblich nicht zu betrauern – es ist unwahrhaftig, eine Lüge gegen mich selbst. Ich denke so oft an den munteren geschwätzigen Hiruto, so oft an den stillen Matauo, noch häufiger an Alfred Eversham, der doch Jane geliebt hat, der sie verteidigte, der tausend Entschuldigungsgründe für sie fand.

Und Jane weiß dies. Jane hat mein Tagebuch gelesen. Sie weiß, was ich ihr zu Last lege, sie weiß alles …

Und – wir sollen schweigen!!

Ich werde mit ihr reden … Es soll keine Schranke zwischen uns aufwachsen … Aber wie sollten wir beide dann in dieser Einsamkeit, jeder innerlich noch vereinsamter, weitervegetieren?!

… Ich höre draußen ihren Schritt …

Sie geht eiliger als sonst …

»Olaf!!«

»Ja – und?!« – Sie hat die Türmatte gehoben … Trotz des Abendglanzes erscheint ihr Gesicht verfärbt …

»Olaf – die Jacht!!« stößt sie hervor und taumelt mir in die Arme … Zitternd, von Sinnen …

»Olaf – es … es gab ja schon damals in Batimar Meuterei an Bord … Die Meuterer töteten den Kapitän, suchten Aristide zu töten.«

Ihr Kopf ruhte an meiner Schulter …

»Olaf – mich hatten sie eingeschlossen … Die ganze Zeit … Hier erst, als der Taifun die Jacht streifte und allen der Untergang drohte, ließen sie mich frei – und ich sprang über Bord! So war's!«

Ein Vorhang zerriß. Eversham hatte doch recht gehabt. Jane war schuldlos!

»Ich glaube dir … » – und ich bog ihren Kopf zurück … Wir blickten uns an … »Jane, mußte wirklich erst das Meuterschiff erscheinen, um dich zu einer so wichtigen Erklärung zu zwingen?! – Verzeih mir …«

In ihren Augen glühte die Angst …

»Sie werden dich töten … Rizzard, der Erste Offizier, ist ihr Anführer … Er muß irgendwie erfahren haben, daß mein Riesenvermögen von Malmotta stammte – er wollte Malmotta finden, er gewann die Besatzung für sich, er …«

»Was … ist Malmotta?« fragte ich atemlos.

»Du … weißt es nicht?! Ich glaubte, du wärest von Bolk eingeweiht worden … Malmotta ist zweierlei, Olaf: eine Insel und eine Brigg!«

»Und – wo liegt die Insel?«

»Irgendwo nördlich der Baker-Insel …«

»Und die Brigg?!«

Ein hilfloses Lächeln irrte um ihre Lippen.

»Da fragst du mich zuviel … Ich kenne von alledem nur Bruchstücke – wie du! Aber dich – dich kenne ich bereits von dem hohlen Boabab-Baum her, der mein Gefängnis war … – Olaf, Jan Terpe und ich sind eins – ich war Jan Terpe, und John Friedrich Petersen, den Bolk erschoß, war mein Vater …«

Sie war totenbleich geworden …

»Ja – mein … Vater,« wiederholte sie … »Hier … » sie riß das Medaillon von ihrer Brust, das ich einst dem Toten abgenommen hatte, » – hier – dies gab mir die Gewißheit, Olaf, dieses winzige Bild eines Säuglings! Hättest du je das Bild aus dem Medaillon genommen, würdest du auf der Rückseite gelesen haben:

Johanna Petersen – Malmotta, 2. 3. 1905.«

Ich starrte sie wortlos an … All das kam zu plötzlich, zu überraschend. Ich brauchte Zeit, Ordnung in meine Gedanken zu bringen.

Zeit?!

Und dort draußen auf See die Jacht mit den Meuterern?!

»Komm, Jane, beobachten wir da Schiff … Ein Glück, daß die Dunkelheit naht … Rasch, packen wir zusammen, was uns wertvoll …«

Es war bereits finster, als der Star of London vorsichtig durch die schmale Einfahrt in die Lagune einlief, Anker warf und ein Boot aussetzte …


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