Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Ich war nicht recht zur Besinnung gekommen in den letzten zehn Minuten. Drängt sich mannigfaches Erleben in einer so kurzen Zeitspanne zusammen, wird stets nur das Eindrucksvollste als besonders klare Erinnerung sich herausheben. Merkwürdigerweise war dies hier in meinem Falle ein prägnanter Männerkopf und ein feines liebenswürdig-spöttisches Lächeln: Colonel Arthur Bluß, der Menschenfänger!

Ich war noch etwas außer Atem, aber als ich nun hier allein im grellen Lichte des Höhleneingangs saß und zerstreut meinen arg ramponierten Anzug beobachtete, dem der Sprung in die Baumkrone herzlich schlecht bekommen war, sah ich noch immer dieses tief gebräunte Gesicht vor mir, dem der breite Schlapphut etwas ungeheuer Verwegenes verlieh. Manch' denkwürdige Menschenblüte wucherte an meinen entlegenen Wegen. Nur bei einem Manne hatte ich dieses Lächeln in den Augen wahrgenommen und dieser Mann hatte seine Verachtung jeglicher Gefahr und seine zermürbte Seele hinter wohlfeilem Zynismus verborgen. Ich traf ihn dort unten im südlichsten Südamerika, wo die Natur sich den Scherz geleistet hat, ein Labyrinth wunderlicher Inseln zu schaffen und diese Inseln einmal mit eisigen Hagelschauern, dann wieder mit sengendem Glutatem des Pazifik zu überschütten.

Es war sonderbar, aber nicht wegzuleugnen: Arthur Bluß war mein Feind, und doch empfand ich Sympathie für ihn. Er redete nur zu viel, und er mochte ein guter Fährtenleser sein, ein Schüler Coys war er nicht.

Mein Blick streifte die Hütte aus Flechtwerk, und meine Gedanken sprangen auf Bell Dingos Mutter über. Ich hörte in der Hütte nicht das geringste Geräusch.

Die Pfosten der Hütte waren uralt, das sah ich. Sie waren reich geschnitzt, ganz nach Art der primitiven Bildhauerkunst der Australneger, und sie endeten oben in weißlichen, rundlichen Kugeln: Totenschädeln!

Sie maß etwa fünf Meter vorn, und mochte vier Meter tief sein und ebenso hoch. Die Tür, auch aus dichtem Flechtwerk, lag in der Mitte der Vorderseite. Das Dach war nach hinten leicht geneigt und hier eigentlich ganz überflüssig, da die Höhlendecke genügend Schutz gegen Regen bot.

Eins fiel mir auf: Das Flechtwerk war ganz neu. Die Schnittflächen der Zweige leuchteten noch hell. Aber ich machte mir hierüber weiter keine Gedanken.

Ich betrachtete die Umgebung. Ich sah eine Feuerstelle aus geschwärzten Steinen. Darüber hing an einem in den Fels gebohrten Eisenhaken ein fast blanker Aluminiumkessel. Die Kultur schien selbst bis zu Bell Dingos Mutter vorgedrungen zu sein. –

In einer Wandnische standen noch verschiedene andere Gegenstände, die mich in Erstaunen setzten: Konservenbüchsen, eine kleine Kaffeemühle, Blechteller, Kannen und drei große Pakete. Diese in Segelleinen gehüllten Pakete kamen mir bekannt vor. Wenn ich mich nicht irrte, waren es die Proviantvorräte, die wir von meiner Insel mitgenommen hatten. Aber nicht hierher. Dingo schien also verschiedenes gerettet zu haben.

Mein Holzklotz war auf die Dauer kein Korbsessel. Ich erhob mich, um draußen einmal Umschau zu halten. Durch die grüne Hecke des unwegsamen Gestrüpps, das den Eingang verdeckte, lief ein schmaler gewundener Pfad. Auch hier hatte ein Messer allzu hinderliche Schößlinge frisch entfernt. Tief gebückt verfolgte ich diesen Pfad und sah mich plötzlich im Freien, warf mich schnell zu Boden, denn tief unter mir erblickte ich die Bucht und die lange Sandbank und gerade dort, wo meine Insel nun bei hohem Wasser in der Tiefe ruhte, auch ein Motorboot, das soeben dem Ufer zuhielt.

Ich lag hier auf einer Bergterrasse, dicht am Abhang, hinter mir waren der Busch und die Höhle und vor mir die Unendlichkeit des Meeres im letzten Schein der bereits dem Horizont sich zuneigenden Sonne. Die Terrasse wölbte sich im Bogen weit vor, und als ich im Schutz einiger Steine nach links spähte, hielt ich unwillkürlich den Atem an: Auf der benachbarten Kuppe lehnte an einer einzelnen dickstämmigen Buche Oberst Arthur Bluß und rauchte eine Zigarette und beobachtete das große Motorboot, auf dem sich vier Polizeibeamte befanden. Zu Füßen des schlanken Colonels aber lag ein großer pechschwarzer Hund, ein Dobermann, den Kopf auf den Vorderpfoten, die spitzen Ohren spielten andauernd, und es machte ganz den Eindruck, als ob Bluß hin und wieder mit dem Hunde sprach.

Ich zog mich schleunigst in das Dickicht zurück. Hätte der Colonel nur einmal den Kopf nach rechts gedreht, würde er mich gesehen haben. Mir lag vorläufig nichts daran. Wir würden uns wohl noch unter für mich günstigeren Umständen begegnen. Der Fußtritt zwischen uns war wettgemacht, und Ethel Murrays Befreiung sollte ihm beweisen, daß auch außerhalb Australiens die Romantik noch zu finden war.

Als ich die Höhle erreicht hatte, war Bell Dingo noch immer nicht zurückgekehrt. Was trieb er eigentlich da unten vor dem geheimen Eingang?! Die Berittenen hatten es doch offenbar aufgegeben, die Schlucht zu erobern. Sonst wäre Bluß wohl kaum so behaglich in den Anblick der Bucht und in den Genuß seiner Zigarette versenkt gewesen. – Ich schritt also tiefer in die Grotte hinein und den natürlichen Felsengang abwärts. Der Pfahl war noch fest gegen den riesigen Stein gestützt, aber mein schwarzer Ai Ai glänzte durch Abwesenheit. Das beunruhigte mich. Ich blickte durch die schmalen Spalten zwischen Felsloch und Verschlußloch in den Talkessel hinaus. Die beiden Leute, die dort am Feuer lagen, waren leider Polizisten. Die Schlucht war mithin doch schon vom Gegner besetzt.

Wo war Bell Dingo?!

Ich eilte nach oben vor die Hütte und rief seinen Namen.

Ich pochte gegen die Flechtwerktür, ich riß sie schließlich auf …

Die Hütte war leer.

Was bedeutete das?!

Ich trat ein, ich scherte mich den Teufel um den Kamu-Ausschlag, obwohl ich in Sydney Leute getroffen hatte, deren Gesichter dadurch grauenvoll entstellt waren.

Das Halbdunkel im Innern ließ mich die Gegenstände nur erraten. Da war ein Tisch, zwei Klappstühle, ein eisernes Klappbett mit blendend weißer Wäsche, – da waren ein Schränkchen, eine Hängelampe für Petroleum, ein zweites Schränkchen mit einem großen Stehspiegel und allerlei Toilettensachen, Bürsten, Kämmen, Zahnbürsten, Tuben, mit allerlei Kultursalben, Fläschchen mit Mundwasser, Parfüm, Haarwasser … Da lagen drei Taschenlampen mit frischen Batterien, Nagelfeilen, Puderdöschen – weiß Gott was noch alles.

Ich war starr. Dingos Mama schien doch außerordentlich anspruchsvoll zu sein. Die alte Dame mit der grauen Krimmermütze gab mir mehr Rätsel auf als Ethel, Dingo-Bell und der brutale Arthur Bluß, der so überlegen zwinkern konnte

In einer Ecke lehnten sogar die beiden Karabiner, die Freund Ai Ai den schlafenden Hütern des Gesetzes abgeknöpft hatte.

Sehr merkwürdig war das alles.

Ich nahm den einen Karabiner mit mir. Der Patronenrahmen war gefüllt. Mit der Taschenlampe suchte ich nochmals die ganze Höhle ab.

Ich begriff nicht, wo Mutter und Sohn geblieben sein konnten. Wenn wenigstens noch die Alte vorhanden gewesen wäre! Dann hätte ich mir gesagt, Bell Dingo sei von ihr durch das Felsloch hinausgelassen worden und sie könnte den Pfahl wieder gegen den Stein gelehnt haben.

Behutsam wagte ich mich wieder durch das Dickicht auf die Terrasse hinaus, nachdem ich mir ein Bündel grüner Zweige abgeschnitten hatte, die ich am Rande des Abhangs vorsichtig festklemmte, um Deckung zu haben. Dann erst spähte ich zu der kahlen Kuppe mit der einzelnen Buche hinüber.

Mir fiel fast der Karabiner aus der Hand. Die Szene dort drüben hatte sich peinlich verändert. Colonel Bluß und sein Hund waren nicht mehr allein. Vier der Leute in Englischleder standen abseits und hielten einen Strick in den Händen, und am anderen Ende dieses Strickes, der über einem Ast lag, befand sich eine Schlinge, in der zu meinem Entsetzen Bell Dingos Hals steckte. Arthur Bluß aber lehnte noch immer an dem Baume, rauchte noch immer Zigaretten, unterhielt sich jedoch nicht mit dem Dobermann, sondern mit dem gefesselten Ai Ai, der ihm das von der Abendsonne vergoldete Gesicht zugekehrt hatte.

Diese Vorbereitungen, meinem armen Bell die Luft für immer abzuschnüren, mußten unbedingt Vorbereitungen bleiben. Viel Zeit zum Überlegen hatte ich nicht. Ob der Karabiner etwas taugte, wußte ich nicht. Der erste Schuß würde das ja zeigen. Die Entfernung schätzte ich auf zweihundert Meter, ich brauchte also das Klappvisier nicht zu benutzen.

Ich schob die Büchse vor, zielte mit aller Sorgfalt auf den ruhig vom Ast herabhängenden hellen Strick und drückte ab, lud sofort wieder und feuerte diesmal – der Strick war unversehrt – auf den Unterschenkel des vordersten der Galgenknechte. Da die vier ziemlich in einer Reihe standen, schien diese Kugel mehrfach getroffen zu haben.

Die Kuppe war urplötzlich wie leergefegt, nur Bell Dingo stand noch wie eine Statue, gegen den rötlichen Himmel scharf umrissen gleich einem Kinobilde.

Dritter – vierter Schuß, – nun war der Strick drei Handbreit über Dingos Kopf zerfetzt, und der schlaue Ai Ai tat das unter diesen Umständen einzig Richtige: Er warf sich zu Boden und rollte sich mit erstaunlicher Fixigkeit den Abhang hinab, tauchte in der Tiefe in den Büschen unter und war vorläufig geborgen. Ob seinem weißen Anzug diese neuartige Flucht sonderlich bekommen war, blieb fraglich.

Colonel Bluß war zweifellos übelster Laune. Die, ungeheure Verschwendung an Patronen, die er jetzt inszenierte, schadete ausschließlich dem Gestein ringsum. Die Queensländer schossen miserabel. Mochten sie. Wenn nur Dingo mit ein paar blauen Flecken davonkäme. Er war nur an den Armen gefesselt gewesen, und ein Kerl wie er, würde sich dort unten im Busch schon weiterhelfen.

Allmählich flaute der Kugelregen ab. Der Colonel stand hinter der Buche, ich sah hin und wieder den Hutrand und den Stummelschwanz seines Hundes. Allmählich wurde es auch dunkler, und als ich mich nun gerade rückwärts verflüchtigen will, spüre ich eine Berührung.

»Mussu, sehr schönen Dank …« sagt Bell Dingo und schiebt sich neben mich.

Ich stiere ihn sprachlos an. Der Strick hängt noch um seinen Hals, aber die Hände hat er frei.

»Ai ai, du dich wundern, Mussu«, fügt er beneidenswert richtig hinzu.

»Allerdings, mein lieber Ai Ai, ich wundere mich beträchtlich … Wie bist du denn in diese scheußliche Lage geraten? Wie hast du die Höhle verlassen, und wo ist deine Frau Mama?«

Aber er hat lediglich Augen und Ohr für die Kuppe drüben.

»Dumme Kerle das, Mussu«, meint er wegwerfend. »Wollten mich gar nicht hängen, wollten nur Ethel Murray haben … Wollten mich machen Angst, Mussu … Ich sage zu Colonel Bluß: Mister Colonel, Frau sind entflohen, ich nicht wissen, wo sein. Und dann er fragen, wo Mister Abelsen. Ich sagen: Mussu sein in Sicherheit. – Ich nie lügen. Und dann Mussu schießen, Kerle hüpfen wie Känguruh und werfen sich hin, und das sein alles.«

»Also hast du keine Ahnung, wo Frau Murray ist?«

»Sein entflohen, – gut so«, erklärt er hundeschnäuzig. »Ihr schon finden, Mussu, ai ai, und jetzt ich haben Hunger. Mutter schon kochen zwei Büchsen …«

Er kriecht davon, und ich muß wohl oder übel folgen. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Buche und des Dobermanns Stummel schwänz, und in der Höhle empfängt mich appetitlicher Duft …

Bell Dingo füllt mir einen Blechteller, holt den zweiten Klappstuhl aus der Hütte, und nun höre ich ihn dort drinnen mit seiner Mutter in seinem Heimatsidiom schnattern … Ich kann genau alles hören, aber ich verstehe kein Wort, ich bin nur erstaunt, daß diese Niggersprache so zahlreiche helle Kehllaute hat, – und dann sitzt der schöne Dingo neben mir und ißt mit fast gezierten Bewegungen und lobt die dicke Suppe, ein unergründliches Gemisch von Fleisch, Pflaumen und Speckstücken.

»Wo also war deine Mutter«, beginne ich wieder, »und wie verließest du die Höhle, da doch …«

Er gähnt diskret und meint: »Mussu, Höhle noch einen Zugang haben … Du das denken können. Zweites Loch dort sein, wo Hütte steht, Mussu … in Hinterwand Tür sein …«

»Das hättest du mir sofort mitteilen sollen«, – aber an Bell Dingo prallen derartige Vorwürfe einfach ab. Bei all seiner Höflichkeit hat er ein ziemlich dickes Fell und Trommelfell.

Ich wechsle die Art des Angriffs. »Sage mal, mein schöner Dingo, – deine Frau Mama verfügt ja über …«

Er gähnt noch diskreter und fährt unbekümmert fort: »Tür in Hinterwand der Hütte durch Schrank verdeckt, Mussu … Als du waren zum ersten Mal auf Terrasse, ich mit liebe Mutter gehen durch Tür in anderes Tal hinab und wollen Ethel Murray-Missu suchen. Da mich greifen Colonel Bluß, und Mutter nicht greifen, aber Mutter große Angst um mich. Wir dir sehr danken, sehr …« und aus treuen Augen blickt er mich an und reicht mir die Hand und zerquetscht mir wieder halb die Finger. Es ist wundervoll, einen solchen Kameraden wie ihn zu haben, nur bei Händedrücken muß man vorsichtig sein.

Aus der Hütte ertönt der lieben Mutter schrilles Schnattern, und Dingo läuft zu ihr, wirft die Tür hinter sich zu, und ich bin allein …

Ich lehne am Höhleneingang und bewundere die Farbenpracht des Abendhimmels, ich schleiche durch die Büsche auf die Terrasse und will mich gerade aufrichten, als ein Tierkörper mich niederwirft und des Dobermanns Gebiß meine Kehle umfängt.

»Rühren Sie sich nicht!« sagte Colonel Bluß mahnend. »Mein Charlie schnappt zu, wenn Sie auch nur die große Zehe bewegen.«

Diesmal siegt Bluß. Seine vier Queensländer sind auch zur Stelle, aber zwei hinken arg, und der farbige Sergeant James Mistar fesselt mir die Hände und schiebt mir einen Knebel hinter die Zähne.

»Jetzt werden wir das Nest ausheben«, meint der Colonel. »Und dann sollen Sie mit zusehen, wie Bell Dingos Hals sich ziemlich lang reckt.«

Dingos Hals kam nicht in Gefahr, denn die Höhle und die Hütte sind ein leeres Nest, und das »Ausheben« mußte Colonel Bluß ein wenig verschieben.


 << zurück weiter >>