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I.

Alles, was das Leben mir schenkte, waren nur Seifenblasen. Es schenkte mir Liebe, Glück, Freiheit. Von den dreien blieb mir nur die Freiheit. Es schenkte mir Coy Cala, den Treuesten der Treuen: er starb – für mich.

Und jetzt hat dieses grausame Leben mir auch den einzigen Begleiter auf dieser Fahrt ins Ungewisse geraubt, meinen Hund …

Nur ein Hund.

Ja – ein Hund. – Vom Hunde, den du Köter nennst, lern eines, lern die Treue.

Eine heimtückische Woge trug meinen vierbeinigen Freund davon, ich hörte im Donnern und Toben der Wellen noch sein letztes schnell ersterbendes Heulen. Und nun bin ich ganz allein.

Ganz allein auf einer einsamen Insel, die es nur einmal auf diesem Erdenrund gibt.

Mein Pfad abseits des Alltagsweges hatte mich vor langen Wochen zur Südspitze Amerikas, nach Patagonien geführt. Und hier hatte ich unter den primitiven Indianern wirklich treue, aufrichtige Menschen gefunden. Und der beste unter ihnen war Coy Cala, von dem ich an anderer Stelle sprach. Aber auch ihn habe ich verloren.

Und dann war ich mit seinen Kameraden ausgefahren, um ein gestrandetes Schiff zu besuchen und war dabei auf diese eigenartige Tauchinsel gelangt.

Es war das geniale Werk eines tüchtigen Ingenieurs, geschaffen, um verfolgte Menschen aufzunehmen. Ein Bau aus Stahl und Bimsstein, ein Werk höchster technischer Vollkommenheit.

Den Bewohnern winkte die Freiheit. Sie verließen dieses künstliche Eiland, ich aber blieb freiwillig zurück. Ich wählte die Einsamkeit, die mich jetzt bedrückt.

Es ist Mitternacht, und fast drei Monate sind verstrichen seit jenem Tage, an dem der Orkan die Ankerketten meines seltsamen Heimes sprengte. Es war das Paradies der Enterbten, dieses Eiland aus Stahl und Bimsstein, diese Insel, die ich jederzeit verschwinden lassen kann. Dann treibt sie genau zwanzig Meter unter der Meeresoberfläche, und über mir gleiten Dampfer und Segler hinweg, und durch die dicken Fenster glotzen wunderbare Fische neugierig auf meinen Schreibtisch.

Es ist Mitternacht, und ich bin ganz allein.

Unruhe ist in meinem Blut.

Ich sehne mich nach Menschen, und ich belüge mich selbst und rede mir ein, daß ich mich nicht sehne. Wir sind uns selbst gegenüber die ärgsten Betrüger. –

Drei Monate …

Wohin mögen die unberechenbaren Strömungen mich entführt haben?! Ich habe ferne Inselgestade gesehen, ich habe dreimal nachts starke Stöße verspürt –, dann wird meine Insel mit einer echten Insel Billard gespielt haben. – Ich habe Schiffe gesehen, und ich habe sie genarrt. Sie haben den Kurs geändert, die Menschen auf ihnen hofften, ein neues Eiland entdeckt zu haben – – und das Eiland versank vor ihren Augen. – Einmal begegnete ich einem Wrack mit gekappten Masten. Es taumelte hin und her, und es war keine lebende Seele an Bord. Da habe ich mir aus der Kajüte des Kapitäns ein Paket englischer Zeitungen mitgenommen. Das war vor einer Woche. Ich habe die Zeitungen gelesen, und die Welt und das bunte Leben, das ich so gründlich verachte –, sie griffen nach mir mit gehässigen Fingern und haben mir die Sehnsucht ins Blut gegossen wie Gift.

Ich bin so allein. Und es ist Nacht, und über mir leuchten Milliarden Sterne, und von all den vielen Millionen Erdbewohnern ist nicht ein einziger so einsam wie ich. Was das Leben mir schenkte, waren Seifenblasen … Sie zerplatzten, sie zeigten mir schillernde Bilder … Und alles zerrann in nichts.

Der Dreimaster kam aus Melbourne, Australien, kleinster, fünfter Kontinent. Der Dreimaster wurde ein Wrack, und das Wrack brachte mir die Zeitungen. Und Zeitungen sind eng zusammengedrängtes Leben, sind wie ein Gigant, in dem das Dasein in schwarzen, bedruckten Adern und Arterien pulsiert. Menschenschicksale, Völkergeschichte enthüllen sie, und ich habe an alledem keinen Anteil, für mich ist alles, alles nur leeres Wortgeklapper wie das ferne, ferne Geräusch einer Schreibmaschine: Man hört die Tasten anschlagen, man weiß, daß sich dort Buchstabe an Buchstabe reiht und daß das Geschriebene wohl einen Sinn haben muß.

Ich stehe außerhalb dieser Welt. Ich stehe an einem der Bimssteinfelsen meiner Küste und blicke in die milchige Dämmerung der Nacht und bin allein mit meinem Sehnen.

Wenn mir nur der Hund geblieben wäre! Wenn ich nur einen der flüchtigen scheuen Vögel mir fangen und zähmen könnte mit unendlicher Geduld und Güte – wie die Zuchthäusler, die eine Spinne abrichten und diese Spinne lieben und hüten und pflegen, weil es doch immerhin ein lebendes Wesen ist.

Olaf Karl Abelsen, du hättest die Zeitungen verbrennen sollen – in die See werfen – oder sonstwie benutzen. Du warst ein Narr. Der gedruckte Gigant mit den schwarzen, gesprenkelten Adern hat dir das Blut vergiftet.

Ich werde schlafen gehen. Und morgen wird wieder die Sonne scheinen, und alles, alles wird sein wie immer, und die Einsamkeit wird mein Hirn zernagen …

Ich schreite über Bimsstein zur offenen Falltür und steige die Eisentreppe hinab und betrete mein Wohngemach. Der, der diese Insel baute, diese Zuflucht der Enterbten, war ein großer Geist. Auf meinem Schreibtisch, der vor Monaten der seine war, brennt die elektrische Lampe, und vor der Lampe liegen die weißen Bogen, die ich mit meinen lebendigen Erinnerungen gefüllt habe. Diese weißen Blätter, jetzt bedeckt mit den Spuren der eilenden Feder, reden von denen, die ich lieb gewann und die ich wieder verlor …

Seifenblasen.

Nachdenklich stehe ich da und schaue auf den Aschbecher.

Asche – ja.

Aber die Stummel der drei Zigarren, die ich heute abend rauchte?! Das ist merkwürdig. Ich habe es noch nie erlebt, daß drei Zigarrenstummel, die noch vor einer Stunde in dieser Schale da tot und kalt und zerkaut lagen, sich in Luft auflösen oder spazieren gehen.

Ich sinne nach, und erinnere mich: schon gestern fehlten die Stummel. Vielleicht auch vorgestern … Heute erst beachte ich dies.

Ich ziehe die eine Schieblade auf und nehme die kalte, schwarze Pistole heraus.

Die Unruhe in meinem Blut hat eine Erklärung gefunden. Meine Sinne sind feiner als die eines Wilden geworden, und ich habe gefühlt, daß etwas Fremdes um mich war.

Ich nehme die Laterne und wandere durch die unterirdischen, unterseeischen Räume meines Heims.

In der großen Proviantkammer hinter sechs Säcken Mehl kauert ein Mensch.

»Komm' hervor. Dir geschieht nichts.«

Meine Stimme zittert.

Ich bin nicht mehr allein.

Er kommt demütig hervorgekrochen, und seine phantastische Häßlichkeit und die Angst seiner glühenden Augen rührt mich.

So fand ich Bell Dingo oder Dingo-Bell, den Kajütwärter des Dreimasterwracks.

»Setz' dich, Dingo …«

Er kauert nun auf einer Stuhlkante, und ich sitze im Schreibtischsessel und lächle ihn an.

»Also Bell Dingo heißt du …«

Seine linke Backe ist verdächtig geschwollen. Sicherlich sind die drei Zigarrenstummel die Ursache. Australneger in einem bescheidenen Stadium der »+ + + = Zivilisation« lieben Kautabak mehr als den Tabakrauch.

»Ai, ai!« nickt Dingo eifrig und glotzt mich an wie Satanas in Person. Meine Insel muß ihm als Teufelsspuk erschienen sein, und ich als Oberteufel, obwohl ich mich jeden Tag rasiert habe und einen weißen Leinenanzug trage.

Dingos englische Sprachkenntnisse genügen gerade zu gegenseitiger Verständigung.

»Als ich die Zeitungen holte, schlichst du dich hier ein, Dingo … – Weshalb?«

Er macht ein hilfloses Gesicht, sein Mund zieht sich plötzlich bis zu den Ohren hin und seine dicke kurze Nase macht diese Verbreiterung mit.

»Ai, ai, Mussu –, so schon sein … Keine Trinkwasser auf Wrack, große Durst …«

»Ach so, deshalb auch die schnelle Abnahme im Wassertank!«

Bell Dingo hat Hände wie Bärenpranken, und diese Pranken reibt er verlegen aneinander und erklärt mit seiner tiefen, knarrenden Stimme:

»Ai, ai, Mussu –, das schon so sein … Große Durst … sehr große.«

Seine Angst schwindet allgemach, und sein Ton wird freier, und in seinen klaren schwarzen Augen flackert die edle Flamme der Dankbarkeit. Ein Schluck Whisky besiegelt die Freundschaft, und Bell Dingo erzählt.

Ja – ein Mensch erzählt mir von seinem Leben.

Mir. – Ich bin nicht mehr allein.


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