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8. Kapitel. Ida Müller lebt nicht mehr

Auf der nächsten Polizeiwache empfing uns der Oberwachtmeister vom Dienst mit der strengen Bemerkung, das Revier sei für das Publikum erst von neun Uhr geöffnet ...

»Jetzt ist es sieben!!«, brummte er unwirsch.

Harst legte seinen Ausweis vor. Wir waren mit dem Beamten allein.

»Ich möchte Sie mit der Bitte um strengste Verschwiegenheit um eine Gefälligkeit bitten, Herr Oberwachtmeister ...«

»Sehr gern, weil Sie es sind, – – falls ich es darf.«

»Sie dürfen ... – Wir kommen soeben von Frau Emma Klein, die in der Schloßstraße 104 Hochparterre wohnt und von ihren fünf Zimmern vier vermietet hat, darunter eins an eine gewisse Ida Müller. Diese Müller ist vor etwa anderthalb Stunden unter etwas eigentümlichen Umständen abgereist und hat ihrer Wirtin dreihundert Mark und einen Zettel zurückgelassen, daß sie ins Ausland gehe und nicht wiederkäme.«

Der Menschenkenner Harst berichtete Einzelheiten, und der Beamte zeigte immer stärkeres Interesse für diese seltsame Seifenreisende.

»Gut«, entschied er, »ich werde in Dresden sofort telefonisch anfragen. Hier ist die polizeiliche Anmeldung der Müller aus Dresden, Herr Harst ...«

»Ja, und hier steht, daß die Müller Hausangestellte war und nach Berlin verziehen wollte. – Hausangestellte!! Und die eleganten Toiletten!!«

Der Beamte meldete ein Dienstgespräch mit Dresden an. Wir warteten geduldig.

Das Ergebnis der Anfrage in Dresden war folgendes: Ida Müller hatte zwar Dresden verlassen wollen, war jedoch plötzlich an Grippe erkrankt und in Dresden verstorben. Sie hatte offenbar in Berlin einen neuen Dienst antreten wollen und ihre Papiere und Zeugnisse nach Berlin eingeschickt, – an wen, war nicht festzustellen.

Der Oberwachtmeister war ganz entsetzt.

»Tot, Herr Harst!! Wer war denn die hiesige Müller?!«

»Natürlich die Dame, bei der Ida Müller sich vermietet hatte und die ihre Papiere besaß. Mit Hilfe dieser Papiere spielte die Dame eben ›Ida Müller‹. Mir ist das alles vollkommen klar, ich rechnete auch damit, daß die echte Ida Müller nicht mehr lebe. Jedenfalls vielen Dank, Herr Oberwachtmeister.«

»Liegt gegen diese Unbekannte etwas vor?«, fragte der Beamte plötzlich wieder sehr dienstlich.

»Nein, nichts Strafwürdiges mit Ausnahme der Führung des falschen Namens.«

»Hm, – das sagen Sie, Herr Harst! Entschuldigen Sie schon, aber ich möchte nicht gegen meine Dienstpflichten verstoßen. Sie, Herr Harst, als Privatmann haben Ihre besonderen Methoden, das wissen wir. Weshalb rief die Dame Sie nach der Schloßstraße und wartete Ihr Eintreffen nicht ab, sondern entfloh? Sie müssen mir das erklären. Ich kann in Teufels Küche geraten, wenn sich hinterher herausstellt, daß diese Dame doch mit einem Verbrechen irgendwie in Verbindung stand und ich nicht Meldung erstattet habe.«

Harst erwiderte freimütig: »Die Dame steht allerdings mit einem Verbrechen in sehr lockerem Zusammenhang. Ich will Ihnen hier nichts verhehlen. Sie berichtete uns von einem Telefonautomaten aus in höchster Erregung, daß sie beobachtet habe, wie zwei Herren niedergeschlagen und auf einem kleinen Lastwagen entführt wurden ...«

Der Beamte war starr.

»Und das läßt Sie so gleichgültig, Herr Harst?!«

»Keineswegs. Ich kenne sogar die beiden Entführten, wenn auch nicht persönlich oder auch nur bei Tageslicht. Schraut und ich sahen sie nur nachts bei starkem Wetterleuchten. Der eine Entführte ist ein großer schlanker, eleganter Herr, der andere ein kleiner stämmiger Mensch. Der Elegante – bitte erschrecken Sie nicht! – hat den Fremden getötet, der am 15. März dieses Jahres nachmittags bei Schlachtensee im Walde gefunden worden ist. – Herr Oberwachtmeister, tun Sie Ihre Pflicht und melden Sie dies alles dem Kriminalkommissar Bhut, der den Fall ›Schlachtensee-Eichenhain‹ bearbeitet. Schraut und ich fahren jetzt nach Hause, und Herr Bhut trifft uns daheim an.«

Der Beamte trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte ...

»Herr Harst, so geht das nicht ... Unter diesen Umständen muß ich mit Ihnen ein Protokoll aufnehmen.«

»Bitte ... Aber bedenken Sie den Zeitverlust. Die beiden Entführten werden sich in keiner angenehmen Lage befinden ... Man wird ihnen ja nichts antun, dafür habe ich gesorgt ... Aber ...«

»Dafür ... haben Sie gesorgt?! Wie soll ich das verstehen?!«, rief der Oberwachtmeister verzweifelt.

Und ich konnte ihm seine Stimmung nachfühlen. Mir erging es ähnlich.

»Ja, gesorgt. Ich kenne die Entführerin ... Es handelt sich um einen Racheakt.«

»Racheakt ...?!«, echote der Beamte kopfschüttelnd ...

»Es ist so. All das hängt mit dem unbekannten Toten von 15. März zusammen. Ich werde Herrn Bhut das näher erläutern.«

»Ja schön, Herr Harst ... – Sie bleiben also zu Hause?«

»Ja, wir sind bereits die ganze Nacht auf den Beinen. Falls inzwischen nicht gerade daheim etwas geschehen ist, legen wir uns schlafen, bis Herr Bhut erscheint.«

Wir verabschiedeten uns in bestem Einvernehmen, und eine Taxe brachte uns nach Hause.

Als ich die Haustür aufgeschlossen hatte, lag hinter der Glasscheibe des immer angebrachten Briefkastens eine Depesche.

Harst riß sie auf und las.

»Bitte ...! – Ahnte ich doch, daß wir eine Ueberraschung vorfinden würden!«

Das Telegramm lautete:

»Für all ihre Güte nochmals herzlichen Dank. Meine Enkelin Elsie und ich sind zur Erholung in ein Seebad gereist, die Großmut eines Bekannten hat uns dies ermöglicht. Das Atelier beziehe ich erst später.

Ihr ergebenster
Siegfried Waga.«

Harst lachte über mein erstauntes Gesicht.

»Dieser Fall Waterston hat sich so wunderbar logisch fortentwickelt, was die Entwirrung angeht, daß er als Schulfall gelten könnte. Auch die Schlußszenen sehe ich im Geiste schon vor mir. Frau Bink dürfte zur Zeit bei einem Notar weilen und ihr Haus verkaufen ... Einen Käufer dürfte sie seit langem an der Hand haben. Auch sie wird ins Ausland gehen, und ich werde ihr nichts in den Weg legen ...«

Mittlerweile hatte ich es mir längst abgewöhnt, mich noch über irgend etwas zu wundern, was den Fall Waterston anging.

»Mithin hast du für Mutter Binks Rachepläne volles Verständnis«, sagte ich nur.

»Ja. Sobald Bhut hier erscheint und ich dann den Fall abrolle, wirst du das begreifen. Jetzt störe mich nicht. Ich muß noch die alten Zeitungsbände durchsehen, denn ich möchte Bhut auch den Namen des Eleganten nennen können ...«

Zu meiner Schande mußte ich gestehen, daß ich vor Uebermüdung in der Sofaecke einnickte.

Stimmen weckten mich.

Gleichzeitig schlug unsere Standuhr elf, – elf vormittags. Draußen schien die warme Junisonne, Bhut und noch zwei Herren verneigten sich sehr förmlich, ich rieb mir den Schlaf aus den Augen, und dann nahmen wir um den Sofatisch Platz.

»Herr Harst«, begann der Kommissar ganz gereizt, »Sie haben da durch den Oberwachtmeister vom Revier Schloßstraße-Charlottenburg Meldung über gewisse Vorfälle erstatten lassen, die mich leider zu spät erreichte, da ich bei Frau Bink Haussuchung gehalten habe.«

»Wann?«

»Um zehn ...«

»Und Frau Bink war nicht mehr da?«

»Nein ... Nur der neue Hausbesitzer. Sie hat heute früh halb neun Uhr ...«

»... Notar, – – verkauft, – – ich weiß ...: Abgereist!«

Bhut hustete ...

»Woher wissen Sie das?!«

»Es lag in der logischen Entwicklung der Dinge. – Ich will Ihnen, meine Herren, den Fall Waterston nun so schildern, wie er sich abgespielt haben muß. Ich beginne mit Thea Binks Verbrechen, mit der Beseitigung ihres Mannes ...«


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