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4. Kapitel. Der geheime Flur der Kaschemme

Sie griff nach dem Telefonhörer, nachdem sie den Umschalter verstellt hatte. »Rex, holen Sie die beiden Herren ab«, sprach sie in die Muschel hinein. Dann legte sie den Hörer wieder weg.

»Mein Pförtner Rex wird sofort erscheinen, Herr Harst«, meinte sie leichthin.

Harst betrachtete die mit Vereinserinnerungen geschmückten Wände des elegant ausgestatteten Raumes. Es hingen da auch über einem schmalen Gewehrschrank, der vier Kleinkaliberbüchsen enthielt, mehrere Scheiben, die sehr kunstvoll gemalt waren und in denen die Haupttreffer wie üblich durch kleine Pflöcke gekennzeichnet waren. An der Tür des Gewehrschrankes war zu lesen:

Schießsportverein »Ins Schwarze«.
Gegründet 192.

»War Hendrik Waterston ebenfalls Kleinkaliberschütze?«, fragte mein Freund mit besonderer Betonung.

Frau Bink erblaßte. Ihre dunklen Augen weiteten sich.

»Wie soll ich das wissen?! Ich interessiere mich nicht für Schießsport«, rief sie allzu schrill.

Harst lächelte nachsichtig, trat näher an den Gewehrschrank heran und prüfte die goldene Inschrift über der Tür.

»Hm, – der Verein »Ins Schwarze« hat den Schrank offenbar für alt gekauft ... Vielleicht von Waterston ...«

Er drehte sich jäh um und schaute Frau Bink ins Gesicht.

»Waterstons Atelier in der Pücklerstraße 16 war sehr feudal eingerichtet, Frau Bink. Waga erzählte mir, zur Einrichtung habe auch ein Gewehrschrank gehört. Die Möbel wurden versteigert ...«

»Ich kümmere mich nicht um die Ankäufe meiner Stammgäste«, fuhr Frau Bink gereizt auf. »Was soll das alles?! Ihre Spürmethoden sind mir zu undurchsichtig, Herr Harst.«

»Meine Warnung ist desto klarer«, meinte Harst sehr ernst.

Dann trat der Pförtner Rex ein, ein alter lahmer Bursche mit einer ausgesprochenen Gaunervisage.

Wir verabschiedeten uns, verbeugten uns nur sehr förmlich, und Rex schritt mit seiner Laterne voraus. Der winklige lange Flur, der mit Küchendünsten angefüllt war, war auch mit Schränken bestellt, – wir kamen an die Treppe, die mit fünf Stufen zum Hofraum und zur Hoftür emporführte, Rex ließ uns höflich den Vortritt, Harst öffnete die Tür und stutzte, wollte zurückspringen, stieß mich beinahe um und erreichte doch nichts.

Hinter uns war ein schmaler, großer Wandschrank, der bis zur Decke reichte, lautlos herumgeschwenkt, Rex war verschwunden, ich flog gegen die Schranktür, die seltsamerweise gar nicht dröhnte, sondern nur dumpf wie feste Balken auf meinen Anprall hin sich meldete. – Harsts Taschenlampe funkte auf, der Lichtkegel irrte umher, und wir sahen, daß der »Schrank«, der nur eine bewegliche Balkenwand und einen Verschluß für den Flur darstellte, uns dicht vor der Treppe von dem übrigen Flur abgesperrt hatte und daß die »Hoftür« nicht dieselbe war, durch die uns Rex vor einer halben Stunde zu Frau Binks Allerheiligstem geführt hatte. Nein, diese Tür mündete in einen fensterlosen, kleinen, notdürftig ausgestatteten Raum, dessen getünchte Wände von »Gästen« der Frau Bink, die hier in stiller Zurückgezogenheit außerhalb der Zugriffsmöglichkeit der Polizei einige Zeit hatten leben müssen, mit den üblichen Zeichnungen und vielsagenden Inschriften bedeckt worden waren.

Außer der Balkentür war noch eine innere Tür vorhanden, die mit ihren großen Glasscheiben nur den einen Zweck haben konnte, etwa unfreiwillige Gäste Mutter Binks bequemer beobachten zu können.

Während wir uns diese Zufluchtstätte noch ansahen, schlug hinter uns die Balkentür dröhnend zu, und wir waren nun regelrecht eingesperrt. Die Tür hatte innen weder Drücker noch Schloß und bestand aus Eisen mit einer äußeren Holzauflage.

Harst nahm die Sache absolut nicht tragisch.

»Ganz interessant«, meinte er und zündete eine auf dem Tische stehende Petroleumlaterne an. »Eine Kaschemme ohne derartige nette Ueberraschungen wäre eben keine Kaschemme, wie du zugeben mußt, mein Alter ...«

Er setzte sich in einen Korbsessel, streckte die Beine von sich und zog seine Brieftasche hervor.

»Auch klügere Leute wie wir wären in diese Falle getappt ... Ich will dir eine Skizze zeichnen, mir ist der Trick vollkommen klar ...«

Später erwies sich, daß Harald die Lage der Räume ganz richtig erkannt hatte. Seine Skizze zeigte genau den Mechanismus dieser Falle.

Ich möchte um jeden Preis hier den Eindruck vermeiden, in dieses Erlebnis etwa »Hintertreppenromantik« hineingekünstelt zu haben. Kenner der Berliner Unterweltzustände und der Schlupfwinkel in den berüchtigten Vierteln werden mir bestätigen, daß die Polizei immer wieder auf ähnliche Verstecke gestoßen ist, die zumeist durch nachträgliches Errichten von Zwischenwänden, einen Stein stark, hergestellt werden.

Das alte Haus in der Lavendelgasse, Mutter Binks Eigentum, enthielt noch weit mehr »Romantik« als nur diese.

Jedenfalls: Harst fand sich mit seiner Rolle als Gefangener überraschend schnell und gleichgültig ab und meinte nur gähnend: »Zum Glück sind zwei eiserne Bettstellen mit sauberem Bettzeug da. Ich bin sehr müde. Dieser Todesfall ›Hendrik Waterston‹ hat mir zu viel durchwachte Nächte gekostet.«

Auch ich hatte mich gesetzt, konnte mich jedoch nicht zu derselben Abgeklärtheit wie mein Freund aufschwingen ...

»Harald, keine Seele ahnt, wohin wir gegangen sind, und wenn Mutter Bink uns verschwinden lassen will, wäre ihr das ein Leichtes, und ziemlich risikolos«, sagte ich gedämpften Tones, da wir ja nie wissen konnten, ob dieser Raum nicht eine Abhörvorrichtung enthielt.

Harst entgegnete genau so leise: »Keine Seele ahnt etwas von unserem Verbleib?! – Du irrst dich, mein Alter. Frau Bink hat mich beobachten lassen, und außer ihr und ihren Spionen weiß vermutlich noch jemand, daß wir die Kaschemme noch nicht verlassen haben. Je weiter die Zeit vorschreitet, um so unruhiger wird Fräulein Elsie Waga werden. Sie warf uns den Brief mit der Bleikugel durch den Türschlitz, sie war die verschleierte Frau, die aus dem Atelier entfloh, wo sie mit zwei Männern eine Besprechung hatte, sie wird Frau Bink besser kennen als wir, und sie dürfte vom Fenster ihrer Kellerwohnung aus den Hof beobachtet und uns gesehen haben. Wir beide sind leider trotz der besten Masken, sobald wir vereint auftreten, sehr leicht an dem Größenunterschied als Harst und Schraut zu erraten, zumal dein Bäuchlein sich ebenfalls schon einer gewissen Berühmtheit erfreut.«

Er schaute nach der Uhr.

»Drei Viertel Vier ... Draußen bricht sehr bald der neue Tag an. Frau Theas Geburtstagsgäste werden sich entfernen, sie scheuen das Morgengrauen. In einer halben Stunde fällt die Entscheidung.«

»Ob Elsie Waga uns zu befreien versucht?«

»Ja.«

»Weshalb hat Frau Bink uns denn überhaupt hier eingesperrt, wenn sie nichts Böses gegen uns vorhat?!« Diese Frage war sehr berechtigt.

»Sie will durch uns in ihrer Rache nicht gestört werden«, erwiderte mein Freund mit größter Selbstverständlichkeit.

»Rache?!« Ich war sprachlos. Das war ja ein ganz neues Moment, das Harst hier anführte.

»Allerdings ... Die Sache ist jedoch noch lange nicht spruchreif, und meine Kombinationen können auch falsch sein, obwohl ich dies nicht glaube. Bevor ich nicht weiß, wer Elsies Verbündete sind, also der elegante Kletterer im Wettermantel und der nicht minder geschickte Stämmige, hängen meine Schlußfolgerungen so ziemlich in der Luft. Stimmen sie, so ist der Herr im Wettermantel der Arzt, der den todwunden Hendrik Waterston verbinden wollte.«

Ich versank in Nachdenken, ich brauchte eben Zeit, dieses Neue geistig zu verarbeiten: Rache!!

Wer hatte nun eigentlich Waterston getötet?! Mord lag nicht vor, Harst hatte soeben ausdrücklich von einem Todesfall gesprochen. Handelte es sich um einen Unfall, der von Frau Bink verschleiert wurde?! War sie mitschuldig an diesem Unfall?!

Ich verlor mich immer tiefer in Grübeleien. Ich dachte an die eigenartige Tatsache, daß Waterston sein Gepäck auf dem Bahnhof gelassen hatte und offenbar direkt nach dem Eichenwäldchen bei Schlachtensee geeilt war. Ich erinnerte mich an Harsts anonymen Brief an die Polizei, an Bhuts Erscheinen im Atelier und an seine Aeußerung, daß Harald sehr wohl den Anlaß der Razzia kennen dürfte.

Dann stieß mir bei diesen Abwägungen der einzelnen Vorgänge des Falles Waterston noch etwas auf. Und dies zwang mich zu einer neuen Frage an Harst, der mit geschlossenen Augen bereits im Einschlafen war. – Beneidenswerte Nerven!!

»Harald ... Entschuldige ... War es ein Zufall, daß Bhut gerade heute die Razzia veranstaltete, also in derselben Nacht der Zusammenkunft Elsie Wagas mit ihren Verbündeten?«

Er blinzelte mich an. Ich merkte, er war vollkommen wach und hatte nur seinem Hirn Ruhe gegönnt.

»Zufall? Nein! Derartige ›Zufälle‹ scheide ich stets aus. Die Dinge liegen so. Siegfried Waga und seine Enkelin suchen nur den Eindruck zu erwecken, als bekämpften sie den, durch dessen Hand Waterston den Tod fand. In Wahrheit stehen sie auf dieses Unbekannten Seite und wollten uns durch den Brief und die plattgedrückte Kugel zur Hilfeleistung anonym heranziehen. Dies wieder beweist, daß Elsie, ihr Großvater und besonders die beiden Unbekannten, der Elegante und der Stämmige, sich ernsthaft bedroht fühlen, jedoch nicht wissen, von wem diese versteckten Angriffe ausgehen. Und das sollen wir ermitteln. Der am meisten Gefährdete ist der ›Arzt‹, also der Elegante. Sie sind unbedingt miteinander identisch. Die Gegner aber haben in dieser Nacht Bhut gleichfalls nach dem Atelier geschickt, weil sie wußten, daß zumindest der Elegante und der Stämmige dort zu finden seien. Sie wollten ihnen Ungelegenheiten bereiten.«

»Und zu den Gegnern gehört Frau Bink«, erklärte ich nun mit aller Bestimmtheit.

»Ja. Sie ist die Hauptgegnerin. Aber ich betone nochmals, mein Alter: Vorläufig sind das alles Schlußfolgerungen, denen das Fundament fehlt. Sie stützen sich in der Hauptsache hierauf ...«

Und nun erlebte ich abermals eine jener Überraschungen, die mein Freund mir zwar verspätet, aber stets im richtigen Augenblick zu servieren weiß.

Er faßte in die Uhrtasche der Weste und brachte einen kleinen, in Seidenpapier gehüllten Gegenstand zum Vorschein.

Es war eine Bleikugel, die gleichfalls etwas plattgedrückt war und an der noch Holzfäserchen hingen.

»Ich fand diese Kugel in einer der Eichen des Eichenhaines unweit der Fundstelle des ausgeplünderten Toten«, erklärte er. »Ich schnitt sie heraus, und diese zweite Kugel brachte mich erst auf den Gedanken, daß ein Todesfall vorliegen könnte, kein Mord.«

Während er mir die Kugel noch auf der flachen Hand hinhielt, fiel ein greller Lichtschein auf uns beide.

Wir schauten hin. In der Tür, die völlig lautlos aufgegangen war, stand ein schlankes blondes Mädchen ohne Kopfbedeckung im regentriefenden dunklen Gummimantel. Ihre Radfahr-Karbidlaterne beleuchtete Harsts Hand mit aller Deutlichkeit.


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