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5. Kapitel. Die zweite Bleikugel.

Das Mädchen konnte nur Elsie Waga sein.

Harst hatte ihr Gesicht als pikant bezeichnet.

Das war zu wenig.

Elsie Waga besaß jene seltene Schönheit, die dem edelgeschnittenen Gesicht auch Charakter verleiht, und die nur deshalb mit der Bezeichnung »pikant« abgetan wird, weil diese Charaktermerkmale den Eindruck der bloßen Schönheit zurückdrängen.

Dieses Antlitz verriet eine gewisse Schwermut, Herbheit und größte Entschlossenheit.

Um Mund und Kinn lag ein Zug von männlicher unbeugsamer Tatkraft.

Harst schaute Elsie Waga prüfend an.

»Treten Sie doch näher, Fräulein ›Herr Ungenannt‹«, meinte er ganz ernst.

Aber selbst dieser Hinweis auf den anonymen Brief konnte des Mädchens eigentümlich starre, finstere Blicke nicht von der plattgedrückten Bleikugel auf meines Freundes Hand ablenken.

Harst schloß schnell die Hand.

»Sie haben eine Weile gelauscht, Fräulein Waga«, meinte er sehr leise.

»Ja – – zum Glück! Und das Gehörte und die Bleikugel ändern alles ...«

Sie trat schnell zurück.

Mochte Harst nun auch mit einem wahren Panthersatz vorwärtsspringen, – die Tür klappte zu, und Elsie Waga hatte ihre Absicht, uns nunmehr nicht zur Freiheit zu verhelfen, durch ihre Worte und ihren eiligen Rückzug unzweideutig kundgetan.

Mein Freund zuckte die Achseln und setzte sich wieder.

»Pech, mein Alter!! Wir hätten achtsamer sein sollen!!«

Ich sagte zunächst gar nichts.

Ich mußte mich erst in die veränderte Sachlage hineinfinden.

Harst hielt mir sein Zigarettenetui hin.

»Bediene dich. Jetzt wird der Fall Waterston zur Lotterie. Wenn Elsie so klug ist, wie ich sie einschätze, müßte sie nun wissen, daß Thea Bink die Hauptgegnerin ist. Wenn sie weniger klug ist, glaubt sie, daß Frau Bink uns hier eingesperrt hat, weil sie – Thea Bink – uns als Spione in einer anderen Angelegenheit fürchtet.«

Er gab mir Feuer, rauchte drei Züge und fügte achselzuckend hinzu: »Diese Lotterie kann bei Frau Theas Vergangenheit um ein Menschenleben gehen ... – Und das ist der höchste Einsatz, den ein Spiel haben kann«, ergänzte er mit harter Stimme. »Ich habe die Bink gewarnt ... Wenn sie etwa den Arzt genau wie ihren Ehemann behandelt, wird sie diesmal nicht mit sechs Jahren Zuchthaus davonkommen.«

Ich war entsetzt, mir blieb die Sprache weg.

»Wie, – sie hat ihren Mann getötet, Harald«, brachte ich nur mit Mühe hervor.

Er nickte sehr nachdrücklich.

»Der Prozeß Thea Bink liegt fünfundzwanzig Jahre zurück, und es war für mich nicht ganz leicht, Einzelheiten darüber festzustellen, ohne die Polizei zu behelligen. Frau Binks Gatte, dem dieses Haus gehörte, war dem Namen nach Dekorateur und Malermeister. Er ... trank, er betrog seine Frau, er kam tagelang nicht nach Hause, hatte wiederholt Anfälle von Delirium tremens, zerschlug die Möbel, prügelte Frau Thea, und bei einer dieser nächtlichen Szenen griff sie zu einem Beil und ging nachher zur Polizeiwache und meldete kaltblütig: »Ich habe meinen Mann erschlagen. Ich hielt dieses Leben nicht länger aus.« Bei der Gerichtsverhandlung wurde nachgewiesen, daß Karl Bink gerade in dieser Nacht ausnahmsweise nüchtern nach Hause gekommen war, und daß seine Frau das Beil am Tage vorher hatte schleifen lassen. Sechs Jahre Zuchthaus erhielt sie wegen Totschlags. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. In den Tatbestandsmerkmalen des Mordes gehören bekanntlich strafrechtlich Vorsatz und Ueberlegung. Die Geschworenen nahmen damals Vorsatz an, verneinten jedoch die Frage, ob die Tat mit Ueberlegung geschehen sei.«

Ich hörte stillschweigend und geradezu benommen von diesen entsetzlichen Enthüllungen meinem Freunde mit größtem Mißbehagen zu. Einer Gattenmörderin traute ich es auch sehr wohl zu, daß sie uns beide beseitigte, wenn wir ihr bei ihren Racheplänen gegen den Arzt irgendwie hinderlich sein sollten, dessen Leben unter diesen Umständen allerdings an einem dünnen Fädchen hing.

Harst reichte mir abermals Feuer, da meine Zigarette längst erloschen war ...

»Rauche doch ... Wir können an der Sache nichts ändern, gar nichts ... Es sei denn, daß« – seine Stimme sank zum vorsichtigsten Flüstern herab – »daß Thea Bink ihre Taktik ändert. Auch das wäre möglich ...«

Und ohne Uebergang fügte er hinzu:

»Draußen muß es wie aus Eimern gießen. Elsie Wagas Mantel und Haar waren ganz naß. Bei solchem Unwetter läßt sich viel unternehmen, selbst wenn es schon Tag geworden ist.«

Er schaute jetzt andauernd nach der Eisentür hin, und wie richtig er abermals gefolgert hatte, zeigten schon die nächsten Minuten. Plötzlich ging die äußere Balkentür auf, die Glastür war nur angelehnt, Frau Bink trat schnell ein, ließ die Haupttür weit offen und drückte nur die innere hinter sich zu.

»Nun, wie weit sind Sie mit Ihren Racheplänen gediehen, Frau Bink?«, begrüßte Harst sie mit erbarmungsloser Ehrlichkeit. »Hoffentlich haben Sie sich nicht zu Torheiten hinreißen lassen, die nicht wieder gutzumachen wären.«

Mutter Bink war nicht allein gekommen. Seit langem besaß sie eine Leibgarde von vier Unterweltlern, die für sie durchs Feuer gingen.

Diese vier Männer, die sehr wohl ahnten, worum es bei dieser Unterredung zwischen ihrer Herrin und den beiden Gefangenen sich handelte, konnten nur aus den Gesten Harsts und Thea Binks ungefähr entnehmen, wie diese Aussprache verlief.

Was sie dann aber hinter der Glastür erblickten, war zu unheimlich, als daß sie sofort eingegriffen hätten, unheimlich insofern, da sie es noch nie erlebt hatten, daß Thea Bink mit so totenbleichem Gesicht und so eindrucksvoll abwehrend erhobenen Händen vor irgend jemandem zurückgewichen wäre. Hier geschah es. Für diese rätselhafte Frau war Harsts Andeutung, daß er um ihre Rachepläne wußte, zu überraschend gekommen. All ihre Selbstbeherrschung brach jäh wie ein lockeres Kartenhaus zusammen. Sie sah sich durchschaut, und im Augenblick fand sie auch nicht ein Wort, diese eindeutige Anklage zu widerlegen. In ihrem widerspruchsvollen Charakter, der doch einen großen, fast heroischen, wenn auch auf irriger Grundlage beruhenden Zug aufwies, empörte sich ebenso plötzlich ihr starkes Selbstgefühl dagegen, daß ihre Leibgarde draußen Zeuge werden sollte, wie sie hier vielleicht noch mehr gedemütigt wurde. Mit einer herrischen Gebärde nach der Tür hin schickte sie ihre vier Getreuen davon, deren Gesichter ich nur ganz undeutlich wahrgenommen hatte. Daß diese Burschen nicht lange gefackelt hätten, bewies mir schon der helle Lichtreflex auf der Pistole des einen, der vom Lampenschein am stärksten getroffen wurde. Nun verschwanden die vier, und Thea Bink sagte nach einer minutenlangen Pause inneren Ringens mit etwas unsicherer Stimme:

»Herr Harst, ich bedauere es außerordentlich, daß der Pförtner Rex mich mißverstanden hat, wie ich soeben erst erfahren habe. Sie beide, meine Herren, werden begreifen, daß ich dieses kleine Geheimnis meines Hauses nicht gern bekannt werden lasse. Ich entschuldige mich bei Ihnen und bitte Sie, mir zu versprechen, dieses Geheimnis für sich zu behalten und sofort heimzufahren. Draußen wartet mein Auto ... Es regnet sehr stark und gewittert.«

Ich möchte hier nicht die weitere Unterredung zwischen Harst und Frau Bink anführen, denn deren Inhalt ist recht belanglos.

Wir einigten uns mit der seltsamen Kaschemmenmutter und waren um halb fünf daheim.

Wir hatten ihr versprochen, von dem Geheimkorridor zu schweigen, und Harst hatte der Frau, die ich nur mehr voller Scheu ansehen konnte, lediglich seine Warnung nochmals eingeprägt:

»Frau Bink, hüten Sie sich vor Unüberlegtheiten! Ich werde den Mann finden, den Sie Waterston nachsenden möchten – ins Jenseits!«

»Sie reden da Dinge, die ich nicht verstehe«, hatte sie sehr kühl erwidert.

So schieden wir.


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