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Der rote Sonnenschirm


1. Kapitel.
Der Engel des Friedens

Harald als Beichtvater, als Tröster der Bedrängten ist vielleicht in seiner unübertrefflichen Art, geknickte Herzen wieder aufzurichten, noch unerreichbarer als auf seinem Spezialgebiet, der Entwirrung verschlungener Fäden eines Verbrechens.

Er nahm Helgas Kopf in seine Hände, schaute ihr in die tränennassen Augen und sagte leise – mit jener suggestiven Kraft, die nur ein Mann von ungewöhnlicher Konzentrationsfähigkeit aufbringt: »Mein liebes Kind, – bilden Sie sich das nicht auch lediglich nur ein?! Wie wollen Sie ein Rätsel lösen oder gelöst haben, das so unüberwindliche Schwierigkeiten bietet?! Gerade dieser Mord, kleine Helga, verleitet so leicht zu Trugschlüssen. Ich kann mir nicht denken, daß, sollten Sie auch irgend etwas gesehen oder gehört haben, dadurch eine Klärung der schwebenden Fragen eintreten könnte. Hüten Sie sich also, sich selbst die Seele unnötig zu beschweren ... Sprechen Sie ganz offen. Sie werden doch sicherlich auch Ihrem Vater, mit dem Sie so innige Liebe verbindet, davon Mitteilung gemacht haben ...«

Diese letzte Bemerkung Haralds war nur scheinbar ein höchst überflüssiger Fühler. Doktor Pingalli hätte uns ja niemals das verschwiegen, was ihm sein Adoptivkind anvertraut hätte, – er hätte es gar nicht verschweigen dürfen, da wir ihm so rückhaltlos reinen Wein eingeschenkt hatten. Harsts Frage bezweckte etwas anderes, das war mir sofort klar. Die blonde Helga mit den braunen Aeuglein hatte Pingalli eben nichts erzählt, und Harald wollte von ihr, ohne direkt danach zu forschen, die Begründung dieser Unterlassung erfahren.

Dis Wirkung dieser nur durch die Umstände gebotenen Diplomatie war überraschend, mehr noch: erschreckend!

Helgas Antlitz wurde starr, und ein Zug erhöhter Qual erschien um den blassen Mund. Sie schlug scheu die Augen nieder, und dann sprang sie auf, suchte ihre Hände aus denen Haralds zu befreien und rief: »Oh – lassen Sie mich gehen, ich bitte Sie ...! Ich war ja von Sinnen, als ich Ihnen mein Leid anvertrauen wollte ... Ich darf es nicht ... Lassen Sie mich gehen, bevor noch der Vater zurückkehrt ...«

Aber Harald hielt sie fest. Er erhob sich gleichfalls, legte den einen Arm um sie und sagte eindringlich: »Mein Kind, Ihre kleinen, zarten Geheimnisse werden wir hüten ... Nicht wahr, Heribert Prank ist der, der Ihrem Herzen nahe steht ...«

Ich war erstaunt. Woher wußte Harald dies?! Hatte Prank ihm gebeichtet?!

»... Kleine Helga, Sie müssen ehrlich sein ... In der verflossenen Nacht hörte ich, daß Irina Vanderkott Prank heimlich etwas zuflüsterte. Ich verstand nicht alles, ich habe mir den Satz falsch ergänzt, wie ich nun weiß. In dem Satz kam Ihr Name vor: Helga. – Irina raunte Prank zu: »Bestellen Sie Helga, daß ich nicht ...« – Mehr vernahm ich nicht. Ich verstand, wie gesagt, zuerst: »Bestellen Sie auch die anderen ...« oder ähnliches, und ich glaubte, dies bezöge sich auf Irinas Gäste. Jetzt kann ich mit aller Sicherheit behaupten: Sie waren gemeint, an Sie sollte Prank eine Bestellung ausrichten, also kennen Sie sowohl Irina als auch Prank genauer, und ... Ihr Vater weiß nichts davon.«

Helga ließ den Kopf mit einem leisen Stöhnen auf Harsts Schulter sinken und flüsterte schluchzend: »Es ist so ... Und ... und ... ich habe Heribert im Garten gesehen, als ... als der Herr ermordet wurde ... Heribert ... hatte ... eine ... eine Pistole in der Hand ... Er ... er stand links am Hause aus dem Stumpf der alten Eiche, der als Blumenkrippe hergerichtet ist ... Er ... er stand hinter den Efeuvorhängen der einen Kiefer ... und ... er zielte ... und ich sah ... sah, wie ... der Schuß aufblitzte ... sah auch den Doktor Ritschel am Fenster, aber Ritschel sprang mit einem Male vom Fenster weg ...«

Ihr Stimmchen erstarb in einem qualvollen, unverständlichen Murmeln, – – wurde wieder lauter ...

»Es ist ja nicht wahr, daß, wie der Beamte unserem Moritz erzählt hat, die drei Herren im Augenblick der Tat im Salon weilten ... Sie ... sie waren alle drei im Garten: Heribert, der Major und Direktor Hirsch ... – Heribert hat es mir ja eingestanden ... Ich sprach ihn ja, bevor er verkleidet wieder die Villa betrat ... sprach ihn nur wenige Minuten, und ... und zwischen uns ist nun alles aus, denn als ich ihm in meiner Herzensangst vorhielt, er habe doch geschossen, sagte er nur: »Also das traust du mir zu!!« Und dann eilte er von der Zaunlücke weg und ließ mich im Regen stehen ... – – Mein Gott, wie soll ich all das ertragen ...?! Wenn ich es nicht gesehen hätte, daß Heribert die kleine Pistole ...«

Die Tür, durch die vorhin Helga hereingekommen war, flog auf, und der bucklige, rotbärtige Moritz stürzte herein ... Mit einem Gesichtsausdruck, als ob er uns zerfleischen wollte, brüllte er Harst an:

»Was haben Sie hier mit dem verrückten Mädel zu schaffen?!«

Und schon packte er Helga, riß sie zurück und stieß sie vor sich her in das Nebenzimmer. Die Tür knallte zu, der Schlüssel wurde umgedreht, und wir beide, die wir doch nicht so leicht außer Fassung zu bringen sind, schauten uns an und machten ziemlich hilflose Gesichter.

Dann aber erschien auf Haralds Gesicht ein schwaches, befreiendes Lächeln – so, als ob er auch dieses Eingreifen des kleinen Buckligen mit dem Wasserkopf und den langen Affenarmen nun völlig verstände.

»Ach so ..!« sagte er – und nickte. »Ach so ...! Es war ja auch zu merkwürdig. Mir hätte das längst auffallen sollen ... Es ist beinahe dasselbe Gesicht, nur die andere verrät die Stürme des Lebens, und diese hier ist rein wie ein Engel ...«

Ich starrte ihm wortlos aus die Lippen ... Und er flüsterte als Nachsatz: »Es sind Schwestern, mein Alter, Irina und Helga ...«

Er setzte sich und trank einen Schluck Wein, beugte sich zu mir ... »Ich bin nur neugierig, was Pingalli nun ... zusammenlügen wird. Wir haben ihn gänzlich falsch eingeschätzt ...«

Draußen knarrte die Treppe, – Doktor Pingalli mit seinen schweren Gartenstiefeln trat ein.

Schweigend nahm er Platz. Seine klaren, klugen Augen hatten nur flüchtig unsere Gesichter gestreift ... Er fuhr sich mit der braunen, verarbeiteten und doch so schmalen Hand über die Stirn und meinte: »Es ist ein Elend mit dem Moritz und der Eva ... Diese ewigen Zankereien!! – Ich habe mehr Sorgen, als Sie ahnen, meine Herren ...! Und mein größter Kummer ist Helga ... Ich war mit ihr bereits bei zwei Nervenärzten. Ihre Mutter starb im Irrenhause, und jetzt, wo dieses holde Kind zum Weibe erblüht ist, meldet sich auch das vergiftete Blut ihrer leiblichen Eltern. Der Vater war ... Säufer. Die acht Kinder zerflatterten in alle Welt – wie armselige Papierschnitzel, die der Sturm der Armut und des Lasters entführt und durch Schmutzpfützen treibt. Helga ist ... nicht normal, beide Aerzte haben es mir bestätigt. Sie bildet sich Dinge ein, die nur in ihrer kranken Phantasie existieren.«

Er sprach seltsam tonlos, seine Hände glitten nervös hierhin und dorthin.

Ein Blick von mir zu Harald hinüber. Er hatte die Augenbrauen hoch gezogen, und der Zug von Ironie um seinen Mund war geradezu gefährlich ...

Doktor Pingalli hüstelte ...

»Entschuldigen Sie, daß Moritz Helga von hier etwas roh fortbrachte ... Helga wird Ihnen sicherlich allerlei törichtes Zeug vorgeschwatzt haben, sie hat heute ihren schlechten Tag ...«

»Sie auch!!«

Pingalli fuhr bei diesem spöttischen Zwischenruf Harsts merklich zusammen. Dann blickte er langsam auf, und in seinen Zügen schimmerte es feucht.

»Komödiant!« dachte ich.

Er meinte seufzend: »Ja, auch ich habe meinen schlechten Tag ... Wie sollte es wohl auch anders sein, wenn ich meine kleine Helga nun doch in ein Sanatorium bringen muß. Ich trenne mich so ungern von ihr ...«

Vielleicht hätte er noch mehr, noch schlimmer geheuchelt und gelogen. Harst verdarb ihm das Spiel.

»Herr Doktor, schenken Sie sich jedes weitere Wort ... Helga ist genau so gesund wie Sie und wir. Ich werde es zu verhindern wissen, daß das arme Mädchen nur deshalb verschleppt wird, damit sie ... nicht beichten kann.«

Pingalli tupfte wieder den Schweiß von der Stirn. Seine Hand zitterte, und ein seltsam ergreifender Ausdruck unendlichen Grams versteinerte sein fahl gewordenes Antlitz. »Ich dachte es mir, daß es so kommen würde, Herr Harst ... Aber – überzeugen Sie sich selbst ... Ich werde Helga herbeirufen ...«

Er wollte aufstehen.

»Bleiben Sie sitzen ... Sie gestatten wohl, daß ich Helga rufe,« sagte Harst rücksichtslos. »Hier geht irgendein Intrigenspiel vor sich, das ich vorläufig nicht durchschaue – nicht ganz ... – Sie können uns freilich die Tür weisen, Herr Doktor, und so unsere Einmischung wieder ausschalten. Sie würden dabei jedoch schlecht fahren, denn ich würde sofort die Beamten aus der Villa Vanderkott herüberrufen und ihnen einige Winke geben, die vielleicht diesen verschlungenen Knoten endgültig lösen dürften. Entscheiden Sie sich.«

Pingalli schien zu überlegen. Sein Gesicht hatte seine sonngebräunte Farbe zurückgewonnen. Er war sichtlich bestrebt, seine ungeheure Erregung vollkommen zu unterdrücken.

»Rufen Sie Helga,« erklärte er dann. »Wenn die Polizei käme, Herr Harst, – – auf mein Wort! – würden Sie namenloses Unglück heraufbeschwören.« Er blickte dabei Harald fest in die Augen, und – jetzt war er nicht Komödiant. Jetzt war er ein Mensch, der für das Wohl und Wehe anderer sich einsetzte. Meine Sympathie für ihn steigerte sich wieder. Ich hatte dem Gedanken, er könnte ein verkappter Schurke sein, nur ungern Raum gewährt.

Harald ging zur Tür, die zur Treppe führte. Er versuchte sie zu öffnen. Sie war verschlossen. Als er am Schlosse rüttelte, hörte ich auf dem Balkon draußen ein Geräusch ... Eine Leiter wurde angelehnt, – – und plötzlich schwang sich Moritz über das Geländer ... war im Nu im Zimmer, – – sein rotes Borstenhaar sträubte sich ... sein schiefes Gesicht troff vor Schweiß ...

Er hatte in der rechten Hand einen uralten, plumpen, verrosteten Revolver ... Er schien völlig von Sinnen ... Seine Glotzaugen hingen ihm förmlich aus dem Schädel ...

Der Mann war in dieser Verfassung ohne Zweifel gefährlich. Wenn es hier im Hause einen Verrückten gab, dann war es Moritz.

Doktor Pingalli schien ähnlich ernste Befürchtungen zu hegen. Er war dem Buckligen entgegengeeilt, wurde jedoch zur Seite gestoßen, und der kleine Kerl fauchte uns wie ein toller Kater an ...

»Euch beiden werde ich's schon eintränken!!«

Er hob seinen Revolver ... Er hatte sich ganz zusammengeduckt ...

Plötzlich hörten wir das leise Kreischen des Schlüssels in der Flurtür, – sie ging auf, und herein trat Helga, im blonden Haar einen Kranz aus Stiefmütterchen, in der Linken aber einen Palmenzweig – wohl von den Palmen aus Pingallis Gewächshaus. Ein leeres, törichtes Lächeln verzerrte ihre reinen Züge, und mit monotoner Stimme – etwa wie ein Geistlicher, der eine Litanei hersagt – sprach sie in die Luft hinein, ohne jemand anzusehen: »Friede sei mit euch ...!! Gott ist die Liebe, und die Liebe duldet alles und verzeiht alles! Die Philister sind eingedrungen in das Reich der Gläubigen, und Simson mit der Keule will sie erschlagen. Aber Gott sendet mich als den Engel mit dem feurigen Schwerte, und Simson wird gehen, woher er gekommen ...« Dabei berührte sie Moritz' Borstenhaar mit dem Palmenzweig ...

Pingalli hatte beide Hände vor das Gesicht gepreßt und weinte. Mir lief es eisig über den Rücken. Harald beobachtete Helga mit nüchterner Sachlichkeit, und Moritz machte kehrt und kletterte wieder in den Garten hinab und nahm die Leiter weg. Ich hatte noch gesehen, wie auch ihm die Tränen in die Augen getreten waren und wie sein Gesicht nur noch tiefen Schmerz verriet. Helgas Einfluß auf ihn war zweifellos sehr groß.

Helga selbst wandte sich langsam und verließ das Zimmer wieder, indem sie leise einen Choral vor sich hin summte.


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