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5. Kapitel.
Die von drüben

Die halbe Stunde, die wir dann noch in der Villa zubrachten, war nur in sofern von Nutzen, als wir durch die Hausangestellten bestätigt erhielten, daß Irina ihnen für drei Monate den Lohn ausgezahlt und verlangt hatte, sie sollten die Villa sofort verlassen. Im übrigen konnten die vier – Zofe, Köchin, Diener, Chauffeur – nichts angeben, was die Dinge irgendwie geklärt hätte. Irina war offenbar sehr vorsichtig gewesen. Sie hatte das Personal immer früh zu Bett geschickt. Mit Ritschel und Spitzer hatte sie stets sehr gut gestanden, – was natürlich eitel Spiegelfechterei gewesen war, denn wir wußten es besser. Es waren ohne Zweifel von Ritschel und Spitzer seit längerem von Irina größere Summen erpreßt worden, denn Lücke hatte im Ofen der Zentralheizung unten im Keller eine Menge verbrannter Papiere gefunden, die zum Teil noch schwelten. Sie waren mit Spiritus begossen worden, und doch fischte Lücke noch ein paar Stückchen heraus, und auf dem einen war als Fragment zu lesen:

... 13. April an R. – 2 000
am 7. Mai an R. – 1 500
................................... 300
................................... 500

Lücke quartierte drei Beamte in die Villa ein und begleitete uns dann. Wir waren zu munter, um schlafen zu gehen. Inzwischen war es auch heller Tag geworden.

Hans Lücke saß im Klubsessel und betrachtete melancholisch sein zerrissenes Beinkleid.

»Das war wieder eine nette Nacht, Kinder ...!« meinte er und langte gierig nach der Tasse Mokka. »Hunger habe ich auch ... Aber auf etwas Handfestes ... Unter einem halben Meter Dauerwurst mache ich es nicht ...«

Ich schleppte also noch allerlei »handfeste« Dinge herbei, und Lücke futterte mit beneidenswertem Gleichmut. »Wir werden sowohl Irina als auch den Bleichen und die beiden Erpresser erwischen ...« redete er sich selbst das nötige Vertrauen ein

Harald, Liebhaber von Sardinen, fischte die letzte aus der Büchse. »Gott erhalte Ihnen Ihre Hoffnungsfreudigkeit! Glauben Sie wirklich, daß diese Sache so einfach zu erledigen ist?! Ich sage Ihnen: Wir wissen von alldem, was hier noch mitspielt, noch nicht einmal die Hälfte. Wir haben schon Ueberraschungen erlebt, die uns so ziemlich aus allen Himmeln stürzten, und wir werden noch mehr erleben. Eins ist gewiß, lieber Lücke: Der Bleiche mit dem drohenden Baß ist der Hauptmacher, ist der Mittelpunkt, ist Felix Ganottas Mörder und auch der, der Sie niederschlug. Ritschel und Spitzer hatten vor ihm eine gräßliche Angst, – sie kannten ihn sehr gut, sie kannten auch das Signal, mit dem er sein Erscheinen und Eingreifen ankündete. Dieser Bleiche hatte einen Helfershelfer, der den Hauptlichtschalter im richtigen Moment ausdrehte. – Weshalb griff nun dieser Mann überhaupt ein und rettete die beiden vor der drohenden Verhaftung?! – Darauf gibt es meiner Ansicht nach nur eine Antwort: Die beiden Erpresser wissen über Irina so allerlei, was nicht an die Oeffentlichkeit kommen sollte! Der Bleiche fürchtete vonseiten der beiden Verrat, daher entzog er sie uns. – Ich betone: Es kann so sein! Es kann aber auch ganz anders sein! Und – – ich habe so eine dunkle Ahnung, als ob auch diese meine Theorie nicht ganz stimmt.«

»Aber Ihre Dauerwurst ist erstklassig,« lobte Lücke ... »Ich finde, sie schmeckt am besten ohne Brot und Butter, und am allerbesten mit einem Schluck Rotwein, womit nicht gesagt sein soll, daß ihr noch eine Buddel Rotwein auffahren sollt, – immerhin, schaden kann es nichts ...«

Es war sieben Uhr morgens, als er sich verabschiedete. Auf dem Tisch standen fünf leere Flaschen. Die Sonne schien in mein Schlafzimmer, als ich in den schwarzseidene Pyjama schlüpfte und mir beim Gähnen beinahe die Kinnlade ausrenkte. Ich schlief bis halb zwölf. Um zwölf wanderte ich im Gemüsegarten hin und her, und Harst fütterte die Hühner und Tauben auf dem Hofe. Unser Nachbar Doktor Richard Pingalli war auch schon wieder sehr mobil und zankte sich jenseits der dichten Hecke mit seiner Haushälterin herum, die mit uns und besonders mit unserer alten Mathilde sehr schlecht stand. Fräulein Eva Jänsch hatte überhaupt wenig Freunde. Nur ein Gutes hatte sie: Sie war halb taub!

Was nun den Privatgelehrten, Doktor Pingalli, betrifft, so wäre über ihn folgendes zu sagen. Er besaß das Häuschen neben uns seit etwa zehn Jahren. Er war ein Sonderling, nicht geradezu menschenscheu, aber doch sehr zurückhaltend. Sein Spezialgebiet war das Studium der Steinzeit. Er hätte längst irgendwo Professor sein können, aber seine angeborene Scheu vor der Oeffentlichkeit ließ ihn jede Berufung auf einen Lehrstuhl ablehnen.

Wir sahen ihn selten, da außer der Dornenhecke noch ein hoher Bretterzaun uns trennte. Immerhin kannten wir ihn als einen liebenswürdigen, klugen Kopf, der mitunter, wenn er seine Hecke beschnitt und oben auf der Leiter stand, uns lange Vorlesungen hielt, die er mit sarkastischen Bemerkungen gegen die von ihm gründlich verachtete Menschheit geistvoll durchwob. Außer der schon erwähnten Eva Jänsch, einer Jungfrau von fünfzig Lenzen und beispielloser Magerkeit, hielt er sich noch ein Faktotum, einen kleinen buckligen Kerl, den jeder nur mit »Moritz« anredete, obwohl dieses Original in Wahrheit Friedrich Morwitz hieß. Die Hauptperson drüben aber war Pingallis Adoptivtochter Helga, ein schlankes, lustiges Mädel von achtzehn Jahren, die er vor einiger Zeit als Waise an Kindesstatt angenommen hatte. Wenn ich Helga drüben singen und trällern hörte, ging mir das Herz auf. Wenn ich ihr auf der Straße begegnete, bedauerte ich, nicht fünfzehn Jahre jünger und etwa so flott und hübsch zu sein wie Heribert Prank. Helga war drüben die Sonne, Eva Jänsch aber das Gewitter, und Moritz das Aprilwetter.

Wie gesagt, – ich rauchte meine Nachmittagsnudel, ging hin und her, sammelte Raupen von den jungen Spalierstammen und lächelte über Pingalli und seine Xantippe, die drüben wegen der Erdbeeren sich zankten. Des alten Gelehrten Fistelstimme überschlug sich zuweilen, und seine Redewendungen waren zum Teil so derb, daß Eva sicher gekündigt hätte, aber sie hörte zum Glück alles nur halb.

Dann mischte sich Moritzens Baß ein, und mit einem Male erschien die Spitze der Trittleiter über Zaun und Hecke, und Pingalli, bewaffnet mit der großen Gartenschere, wünschte mir einen guten Morgen und begann die Hecke zu köpfen. Sein tief gebräuntes Gesicht – er arbeitete fast den ganzen Tag in seinem großen Garten – hatte fast edle Züge. Das graue, lange Haar trug er frei zurückgestrichen, und um seinen Mund lag wie immer das gütige, halb verlegene Lächeln.

»Der Gewitterregen kam wie gerufen, Herr Schraut ...« leitete er die Unterhaltung ein. »Nur die Erdbeeren haben gelitten ... Ich werde die erste Erdbeerbowle verschieben müssen ... Ein paar Donnerschläge hat selbst Eva gehört, behauptet sie. Aber sie schwindelt gern. Ich wünschte mir ihren Schlaf. Damit ist es bei mir schlecht bestellt. – Was sagen Sie nur zu dem Morde nebenan bei der Kotty?! Moritz ist bereits auf dem Laufenden über alles. Er spioniert überall herum ...«

Aber Moritzens Baß protestierte unsichtbar: »Der eine Kriminalbeamte hat mich ausgefragt, ob ich nichts gehört oder gesehen hätte! So war's!«

»Sie und was hören, Moritz!« meinte Doktor Pingalli und lachte. »Der Moritz schläft noch fester als die Eva ... Ich habe übrigens dem Beamten bestellen lassen, daß es richtig ist, daß eine Frau gegen ein viertel Zwölf gestern auf dem Fontänenrand gestanden hat. Ich war auf meinem Balkon und sah sie ganz deutlich. Das heißt, – so weit man gestern bei dem Regen überhaupt etwas deutlich sehen konnte. Sie waren ja auch drüben, Herr Schraut. Soll diese Frau den Legationsrat tatsächlich erschossen haben?!«

»Mit Bestimmtheit läßt sich das noch nicht sagen, Herr Doktor ... Haben Sie denn nichts bemerkt, das die Sache klären könnte?«

Harald kam herbei, winkte Pingalli zu und übernahm die Fortsetzung der Unterhaltung, die durch das Klappen der Gartenschere etwas gestört wurde.

»Ich habe nur kurze Zeit auf dem Balkon geweilt,« erklärte unser Nachbar. »Ich kümmere mich nicht um das, was bei der Kotty geschieht. Filmkünstlerinnen und ihr Anhang sind nicht mein Fall. Die schöne Irina dankt kaum, wenn ich grüße. Herren über fünfzig schätzt sie wohl nicht.«

Die Schere biß wütend ein paar Schößlinge ab.

Harst rief: »Herr Doktor, ich hätte Sie so einiges zu fragen ... dürfen wir Sie mal besuchen?«

»Natürlich ... Kommen Sie nur, Moritz kann die Arbeit hier fortsetzen.«

Pingallis Haus gehört mit zu den ältesten Schmargendorfs. Es ist ein schmuckloser, zweistöckiger Ziegelbau mit Veranda und Balkon nach dem Garten zu. Das Haus ist von der Straße kaum zu sehen. Hecken, Büsche, alte Linden und Buchen bilden im Vorgarten eine grüne Wildnis.

Der Doktor in seiner schäbigen Arbeitskluft führte uns in den ersten Stock hinauf in sein Studierzimmer. Die Türen nach dem Balkon standen offen, und wir sahen sofort, daß von hier aus die Fontäne durch eine Baumlücke bequem zu überschauen war. Pingalli bot uns ein Glas Burgunder an, dazu tadellose Importen, – er war schwer reich, das wußten wir.

»Herr Doktor, ich muß Sie zunächst in großen Zügen mit dem Drama drüben bekannt machen,« meinte Harald. »Ich rechne dabei auf Ihre Diskretion. Uns kommt es darauf an festzustellen, ob Irina Vanderkott durch Erpresser bedrängt wurde und ob Sie vielleicht nächtliche Zusammenkünfte Irinas mit Herren im Garten drüben beobachtet haben. Hier sind meine Aufzeichnungen zu dem Mordfall, hier das, was ich Schraut diktierte. Lesen Sie alles am besten durch ...«

Pingalli nahm die Blätter ohne viel Interesse und erklärte nachher: »Ich habe bisher niemals für Detektivgeschichten etwas übrig gehabt. Dies hier bietet so viel spannende Einzelheiten, daß ich ehrlich eingestehe: Ich bin dadurch selbst zum Nachdenken angeregt worden, mein Gedächtnis hat sich geschärft, – vielleicht kann ich diese spannenden Details noch vermehren.«

Er reichte Harald die Notizen zurück. »Die Vanderkott hat häufiger nachts im Garten an der Fontäne sowohl einen Herrn als auch eine Frau erwartet, wie ich beobachtet habe. Besonders vor etwa drei Wochen, als wir Vollmond hatten, konnte ich eines Nachts deutlich sehen, daß die drei sehr erregt miteinander stritten und daß die Kotty heftig weinte. Die Frau war ohne Frage dieselbe, die ich gestern auf dem Fontänenrand stehen sah. Es ist eine schlanke Person mit dunklem Mantel und Hut und Schleier. Ich besinne mich auch, daß ich einmal ein Fernglas benutzte und feststellte, daß diese Fremde trotz der Wärme und Trockenheit Ueberschuhe anhatte – graue, moderne Ueberschuhe mit Reißverschluß. Gestern nacht – auch dies ist mir jetzt erst eingefallen – hatte die Frau einen Schirm mit und ein langes Etwas, das wie ein Stativ einer Kamera aussah. Sie knipste einmal für Sekunden eine Taschenlampe an, und das Licht fiel gerade auf diesen länglichen Gegenstand. Es ist möglich, daß es eine Schußwaffe, etwa ein kurzer Karabiner war. Doch möchte ich dies nur unter Vorbehalt behaupten. Meine Augen sind noch vortrefflich, aber ...«

Er fuhr hoch ...

Auch wir sprangen auf.

Unten im Hause war ein gellender Schrei erklungen, dem ein schrilles Pfeifen folgte ...

Pingalli war leichenblaß geworden.

Er stotterte verstört: »Das war Eva ... Sie hat sich wieder mit Moritz in den Haaren ... Entschuldigen Sie ... Ich bin sofort wieder da ...«

Er rannte hinaus. Wir hörten ihn auf der Treppe schelten, dann wurde alles still.

Wir blickten uns an. Ich sagte leise: »Das war nur ein Zank?!«

Da tat sich die Tür zum Nebenzimmer auf, und Helgas blonde Lieblichkeit schwebte herein und sank vor Harst weinend in die Knie ...

Armes Mädel! In solcher Verfassung hatte ich sie nie gesehen, auch nie geglaubt, daß sie, die allzeit fröhliche, so entsetzlich vergrämt aussehen könnte.

»Herr Harst,« wimmerte sie, »Herr Harst, ... ich ... ich ... weiß, wer den Legationsrat getötet hat!«


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