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1. Kapitel.
Irina und ihre Gäste

Die bildschöne Irina Vanderkott, die sich als Filmdiva Irina Kotty genannt hatte, war nach dem bösen Autounfall, der ihren rechten Fuß um drei Zentimeter verkürzte, für die große Welt und die Filmateliers tot – erledigt. Nur ein kleiner Kreis ihrer Getreuen genoß noch die Gunst, in ihrer Villa empfangen zu werden. In der Oeffentlichkeit sah man Irina nur noch in ihrem eleganten Auto auf entlegenen Waldwegen der schönen Umgebung Berlins, von der die Fremden so wenig wissen.

Irina Vanderkott war unsere Nachbarin. Zwischen dem Harstschen Grundstück und ihrer Villa liegt nur noch das bescheidene kleine Häuschen Doktor Pingallis, des bekannten Privatgelehrten, – eines Sonderlings aus verklungenen Zeiten. Weder Irina noch Pingalli unterhielten zu uns nähere Beziehungen. Wir standen auf Grüßfuß, das war alles. Irina hatte, so lange sie nicht lahm war und nicht die Narbe am Kinn ihr liebliches Gesicht verunstaltete, über uns beide mit der oberflächlichen Anmaßung so junger Filmgrößen hinweggesehen, und Richard Pingalli wieder war zu menschenscheu und zu sehr strenger Wissenschaftler, als daß ihm unsere Vagabundennaturen zusagen konnten.

Das alles sollte sich mit einem Schlage ändern. Irina hatte freilich schon nach dem schweren Verhängnis, das sie betroffen und das ihr den lahmen Fuß und die tiefe Kinnarbe eingetragen, etwas freundlicher gegrüßt und sogar meine geringe Person zweimal eines vertraulichen Lächelns gewürdigt. Aber gesprochen hatten wir bisher mit ihr nie, und als es geschah, war es Nacht und Irina in Tränen aufgelöst. –

Es war zwei Tage nach der nächtlichen Aufklärung des Doppelmordes Menk-Gelling. Wir hatten nachmittags wieder einmal bei Cladow in der Havel geangelt, waren durch ein Gewitter überrascht worden und daher bereits um acht Uhr wieder daheim. Es wurde ein behaglicher Abend mit Haralds Mutter, der Regen störte uns nicht, wir saßen im Wintergarten und Harst las Teile aus Waldemar Bonsells wunderbarer Indienfahrt vor. Die köstliche Schönheit der Sprache Bonsells, die eindrucksvolle Art seiner Charakterisierung, die einzigartige Anschaulichkeit seiner Naturschilderungen weckten stillen Neid in mir. Bonsells ist ein großer Künstler, ich bin nur ein armseliger Chronist, der das beste Wollen hat, dem aber das Können versagt ist.

Es war der 29. Juni. Man erinnert sich unschwer dieser schwülen Nacht, in der andauernd in der Ferne Gewitter grollten und ein lauwarmer Regen die dürstende Erde tränkte. Gegen elf zog sich Haralds Mutter nach oben in ihre Räume zurück, küßte ihren großen Jungen und drückte mir herzlich die Hand. Sie war ja stets so froh, wenn wir unruhigen Geister einmal daheim blieben und nicht unsere Haut aus Abenteuerlust auswärts zu Markte trugen.

Wir beide gingen in Haralds Arbeitszimmer hinüber. Vor ein Uhr meiden wir den friedlichen Pfühl. Wir brauchen wenig Schlaf. Schlafen ist Angewohnheit. Harst saß am Schreibtisch und klebte Zeitungsausschnitte in unsere Sammelbände ein. Ich faullenzte im Klubsessel am Kamin. Das Zimmer, war bald grau von Rauch. Wir sind Nikotinverehrer.

Dann klirrte und quietschte draußen die Vorgartenpforte – es läutete, und ich ließ Irina Kotty ein. Sie hatte nur einen Seidenmantel übergeworfen, sie war sehr bleich und sank sofort in einen Sessel und weinte völlig fassungslos.

»Ganotta ist soeben bei mir erschossen worden ...« rief sie dann verzweifelt. »Felix Ganotta, der Legationsrat ... Bitte – bitte – – kommen Sie mit ..! Ich habe die Polizei schon verständigt ...«

Wir begleiteten sie denn auch. Im Salon ihrer Villa fanden wir vier verstörte Herren im Abendanzug vor, nebenan im Musikzimmer, dessen Fenster nach dem Garten hinausgingen, lag Ganotta neben dem Bechsteinflügel auf dem Perserteppich mit einer Kugel im Herzen. Neben ihm kniete Medizinalrat Kempner, den der Diener sofort im Auto geholt hatte.

Kempner erklärte achselzuckend, daß der Tod augenblicklich eingetreten sein müsse. Der Schuß sei aus größerer Entfernung abgegeben, und da die Fenster weit offen ständen, müßte der Schütze im Garten gestanden haben.

Wir rührten nichts an, wir waren in der Tür zum Salon stehen geblieben und ließen uns nun von einem der Gäste Irinas das Nähere erzählen.

Ich komme hierauf später zurück, möchte nur folgendes sofort anführen: Ganotta lag auf dem Rücken. Der Klaviersessel war umgefallen und bedeckte seine Füße. Das Gesicht des Toten zeigte einen Ausdruck von Schreck und Wut, wie ich ihn so deutlich kaum je in den erstarrten Zügen eines Ermordeten bemerkt habe. Sowohl der Deckel der Klaviatur als auch der des Flügels selbst waren geöffnet, letzterer in üblicher Weise abgestützt. Auf dem Notenhalter lehnte ein Notenblatt, ein moderner Schlager: »Und ist mein Herz auch noch so klein, es reicht bestimmt zum Glücklichsein.« – Welch' bittere Ironie war das!!

Nun die Wunde.

Felix Galotta trug zum Smoking ein halbweiches weißes Oberhemd. An der Stelle des Herzens hatte der Hemdeinsatz ein kleines Loch mit nach innen gedrückten Rändern. Blut war nicht zu bemerken. Der Arzt hatte das Hemd nach erfolgter Untersuchung wieder zugeknöpft. Die tödliche Wunde saß genau im Herzen und dicht am Rande des Westenausschnitts.

Das Musikzimmer hatte zwei Fenster. Beide standen offen. Ich hörte draußen den Regen plätschern und das Rauschen der Bäume. Ich kannte den Garten von Ansehen, denn auch er stieß an den Feldweg, der am Laubengelände entlanglief. Er war schmaler als der unsrige, das ganze Grundstück und die Villa kleiner. Sie hatte nur sieben Zimmer.

Sowohl die Klavierlampe als auch die Deckenbeleuchtung und die elektrische Krone brannten, und diese blendende Helle mußten es dem Meuchelmörder leicht gemacht haben, von draußen sicher zu zielen. – Im übrigen wäre über den Tatort nichts zu sagen.

Harst hatte, genau wie ich, all diese Einzelheiten sich genau eingeprägt. Sie schienen wenig bedeutungsvoll, und doch gaben sie die Unterlagen für bestimmte Schlüsse, die später außerordentlich wichtig werden sollten.

Harald und ich eilten nun zunächst in den Garten, bevor etwa der Regen die Spuren des Schützen und Mörders völlig verwaschen hätte. Wir hatten unsere Taschenlampen mit, und da der Regen nur schwach war, fanden wir auch auf dem Hauptwege neben einer Fontäne mit hohem Bassinrand eine Stelle, wo jemand längere Zeit gestanden haben mußte. Der nasse Kies war zertreten und der Rand des Bassins zeigte eine Menge Kiesstückchen: Der Mörder war auf das Bassin gestiegen und konnte nur von dort gefeuert haben. Vom Wege selbst war ein freier Einblick in das Zimmer unmöglich, wie wir sofort gesehen hatten.

Die Fährte des Täters war jedoch nirgends so klar ausgeprägt, daß man sie hätte messen können, sie war nur recht groß, – der Mensch mußte mindestens Schuhgröße 47 haben. Sie ließ sich bis zum Feldweg verfolgen, hier verschwand sie. Der Mörder war über den Zaun geklettert und schien oben auf dem Zaun die Stiefel ausgezogen zu haben und auf dem Grasrand des Weges geflüchtet zu sein.

Wir kehrten ins Haus zurück, und Harald telephonierte sofort an die Polizei und bestellte einen Polizeihund nebst Führer. –

Ich kann die nächsten zwei Stunden übergehen. Die Arbeit einer Mordkommission ist stets dieselbe. Irina Vanderkott und ihre Gäste gaben ihre Aussagen zu Protokoll, – der Polizeihund versagte wegen des reichlich fallenden Regens und genau um halb zwei morgens waren wir wieder daheim. Der Fall schien ziemlich aussichtslos. Irina hatte betont, daß Legationsrat Ganotta kaum einen Feind besäße, und die anderen Herren pflichteten ihr bei: Ganotta war ein liebenswürdiger harmloser Lebemann, alles andere als ein Wüstling, sogar ein sehr gediegener Charakter, eine durch und durch vornehme Natur. –

Und nun mag der Leser sich im Geiste in Harst's Arbeitszimmer versetzen ... Harst lehnte im Klubsessel am Kamin, ich hatte den zweiten Sessel inne, zwischen uns stand das Rauchtischchen mit der dampfenden Mokkamaschine, Tassen und Zuckerdose und Sahnennäpfchen, Aschbecher und Zigarettenkasten. Ich hatte einen großen Notizblock bei der Hand, dazu einen spitzen Bleistift. Harald diktierte, ich schrieb ...

»... Irina Vanderkott, ledig, 24 Jahre, gebürtig aus Magdeburg, Kind armer Eltern, zuerst Mitglied einer Damenkapelle. Dann deren Dirigentin, weit gereist, mit Zwanzig für den Film entdeckt, schneller Aufstieg, Star der Gelbbaum-Gesellschaft, ein Jahr in Hollywood, dann wieder in Berlin, kaufte vor einem Jahr die Villa Blücherstraße Nr. 12, verunglückt im April dieses Jahres bei Autofahrt, muß Filmkarriere aufgeben, da lahm und durch Kinnarbe entstellt. Lebt nunmehr völlig zurückgezogen, besitzt Vermögen von rund einer halben Million, verkehrt nur noch mit einigen Bekannten. – Personal ihrer Villa: Zofe, Diener, Chauffeur, Köchin, – alle vier seit drei Jahren in ihren Diensten. – Tadelloser Ruf, Spitzname: Die kalte Kotty. – Ernsthafte Bewerber waren Felix Ganotta und Doktor Horst Ritschel.«

Harald trank seine Tasse leer, ich rauchte drei Züge ...

»Am 29. Juni hat Irina fünf Herren zum einfachen Abendessen gebeten:

1. Felix Ganotta, Legationsrat der litauischen Gesandtschaft, Junggeselle, 33 Jahre, stattlicher, hübscher Mann, seit einem Jahr Irinas Bewerber.

2. Doktor Horst Ritschel, Redakteur der Zeitschrift »Bild und Wort«, 30 Jahre, Junggeselle, Charakterkopf, Spieler, Allerweltsgenie, verschuldet, – Irinas zweiter Bewerber.

3. Direktor Jakob Hirsch von der Gelbbaum-Film-A.-G., 40 Jahre, verheiratet, kühler, geriebener Geschäftsmann.

4. Major a. D. Günther von Spitzer, dreiundvierzig, Junggeselle, Filmschauspieler dritter Güte, problematische Natur, Heuchler, Mantelträger.

5. Heribert Prank, Filmschauspieler, 28 Jahre, netter, harmloser Mensch, guter Komödiant, Durchschnittsnatur.

– Harald nahm eine neue Zigarette und füllte unsere Tassen ...

»Nach dem Essen begaben sich Irina und die fünf Herren in den Salon. Man spielte um ganz bescheidene Einsätze Kartenlotterie. Um elf bittet Irina den Legationsrat, ihr den neuen Schlager vorzusingen. Sie begeben sich in das Musikzimmer, die Schiebetür zum Salon bleibt offen. Doktor Ritschel folgt den beiden. Ganotta nimmt am Flügel Platz, Ritschel stellt sich an das rechte Fenster des Musikzimmers und schaut in den Garten hinaus, Irina lehnt am Flügel, Ganotta singt und begleitet sich, hört plötzlich auf und stürzt ohne einen Laut von sich zu geben vom Klaviersessel. Ritschel dreht sich um, springt zu und kann die halb ohnmächtige Irina gerade noch auffangen.«

Harst trinkt, raucht zwei Züge und diktiert weiter:

»Niemand hat den Schuß gehört. Da Ganotta gerade eine Stelle des Liedes ganz Pianissimo spielte, hätten sowohl Ritschel als auch Irina und die Herren im Salon den Schuß vernehmen müssen, falls dieser etwa im Musikzimmer selbst oder dicht vor dem linken Fenster – am rechten stand Ritschel – abgefeuert worden wäre. – Der Polizeiarzt hat die Kugel mit einer Zange unschwer herausziehen können, da sie nur die eine Herzwand halb durchschlagen hatte. Diese Kugel ist ein Nickelmantelgeschoß Kaliber 6,9 und zeigte im Mantel die Eindrücke der Züge einer automatischen Pistole. – Hiernach ist es ausgeschlossen, daß etwa eine geräuschlose Luftpistole verwendet wurde, oder daß entweder Irina oder Horst Ritschel den Schuß abgegeben haben unter Benutzung eines Schalldämpfers. Selbst ein Schuß mit Schalldämpfer hätte von den drei Herren im Salon gehört werden müssen. – Im Hintergarten wurden Spuren einer Person entdeckt, die auf den Rand der Fontäne gestiegen war. Von dort aus war der am Flügel sitzende Ganotta deutlich zu sehen und ein Schuß möglich!«

Harald stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen.

»... Der Polizeihund versagte. Kommissar Doktor Lücke ließ auf dem Fontänenrand einen Pistolenschuß mit Schalldämpfer abgeben. Der dumpfe Knall wurde, obwohl Lücke leise Klavier spielte, im Salon deutlich gehört. – – Unterstreiche diesen Satz, mein Alter. – Mithin muß der Mörder sich einer Pistole bedient haben, die fast geräuschlos war, betonte Lücke.«

Harst tippte mir auf die Schulter ...

»Nimm ein neues Blatt ... Nun kommen meine persönlichen Bemerkungen und Beobachtungen ...«


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