Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Wanderschaft / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Zehn Tage vor Pfingsten ging Stilling in die Komödie, um ein gewisses Stück zu sehen, das man ihm sehr gerühmt hatte. Es war »Romeo und Julie«, so wie es Weiße dem teutschen Theater bequem gemacht hat. Er kannte das Shakespearische Original, daher wollte er gern sehen, wie dieses Stück von der im Tragischen so berühmten Madam Abt, welche die Hauptrolle spielte, ausgeführt würde.

Auf dem Parterre überfiel ihm ein sehr trauriges Gefühl, ohne zu wissen, wo es herkam. Er hatte die schönsten Briefe von den Seinigen, sowohl aus dem salenschen Lande, als auch von Rasenheim. Er ging nach Hause, und besann sich, wo das wohl herrühren möchte. Doch es verschwand wieder, Stilling bekümmerte sich also nicht weiter darum.

Des Dienstags vor Pfingsten hatte der Sohn eines Professors Hochzeit, deswegen waren keine Kollegia. Stilling beschloß also, diesen Tag in seinem Zimmer zu bleiben, und für sich zu arbeiten. Um neun Uhr überfiel ihn ein plötzlicher Schrecken, das Herz klopfte wie ein Hammer, und er wußte nicht, wie ihm geschah. Er stand auf, ging im Zimmer auf und ab, und nun fühlte er einen unwiderstehlichen Trieb nach Hause zu reisen. Er erschrak über diesen Zufall, und überdachte den Schaden, der ihm sowohl in Ansehung seines Geldes, als auch seines Studierens, dadurch zuwachsen könnte. Er glaubte endlich, daß es eine hypochondrische Grille sei, suchte sich's deswegen mit Gewalt aus dem Sinn zu schlagen, und setzte sich also wieder hin an seine Geschäfte. Allein die Unruhe ward so groß, daß er wieder aufstehen mußte. Nun wurde er recht betrübt; es war etwas in ihm, das ihn mit Gewalt andrunge, nach Hause zu reisen.

Stilling wußte hier weder Rat noch Trost. Er stellte sich vor, was man von ihm denken könnte, wenn er so auf Geradewohl funfzig Meilen weit reisen, und vielleicht zu Hause alles im besten Wohlstand antreffen würde. Da aber die Beängstigung und der Trieb gar nicht nachlassen wollte, so gab er sich ans Beten, und flehte zu Gott, wenn es ja sein Wille sei, daß er nach Hause reisen müßte, so möchte er ihm doch sichere Gewißheit geben: warum? Indem er so bei sich seufzte, trat der Comptoirbediente des Herrn R... herein ins Zimmer, und brachte ihm folgenden Brief:
 

Rasenheim, den 9. Mai 1771.

Herzlichgeliebter Schwiegersohn!

Ich zweifle nicht, Sie werden die Briefe von meiner Frauen, Sohn und Herrn Troost wohl erhalten haben. Sie werden nicht erschrecken, wenn ich Ihnen melde: daß Ihre liebe Braut ziemlich krank ist. Diese Krankheit hat seit zwei Tagen wieder so heftig zugesetzt, daß sie jetzt recht – ja recht schwach ist. Mein Herz ist darüber so zerschmolzen, daß mir tausend Tränen die Wangen heruntergeflossen sind. Doch ich mag hievon nicht viel schreiben, ich möchte zu viel tun, ich bete und seufze für das liebe Kind recht herzlich, und auch für uns, damit wir uns kindlich seinen heiligen Willen überlassen mögen. O der ewige Erbarmer wolle sich unser aller aus Gnaden annehmen! So hat nun Ihre liebe Braut gerne, daß ich Ihnen dieses schreibe, denn sie ist so schwach, daß sie gar nicht viel sprechen kann – ich muß mit dem Schreiben ein wenig einhalten, der allmächtige Gott wolle mir doch ins Herz legen, was ich schreiben soll! – ich fahre in Gottes Namen fort, und muß Ihnen melden, daß Ihre Braut menschlichem Ansehen nach – halten Sie sich fest, teuerster Sohn! – nicht manchen Tag mehr hier zubringen wird, so wird sie in die ewige Ruhe übergehen; doch ich schreibe, wie wir Menschen es ansehen. Nun mein allerliebster Sohn! ich meine, mein Herz zerschmölze, ich kann Ihnen nicht viel mehr schreiben. Ihre Braut sähe Sie in dieser Welt noch einmal gern; allein, was soll ich sagen und raten? ich kann nicht mehr, weil mir die Tränen häufig aufs Papier fallen. Gott! du kennest mich, daß ich gern die Reisekosten bezahlen will! aber raten darf ich nicht, fragen Sie den rechten Ratgeber, dem ich Sie auch von Herzen empfehle. Ich, Ihre Mutter, Braut, und die Kinder grüßen Sie alle tausendmal, ich bin in Ewigkeit

    Ihr getreuer Vater

Peter Friedenberg.
 

Stilling stürzte wie ein Rasender von einer Wand an die andre, er weinte nicht, seufzte nicht, sondern sah aus wie einer der an seiner Seligkeit zweifelt; er besann sich endlich so viel daß er seinen Schlafrock auswarf, seine Kleider anzog, und mit dem Brief zu Herrn Goethe hintaumelte. Sobald er in sein Zimmer hineintrat, rief er mit Seelenzagen: »Ich bin verloren! da lies den Brief!« Goethe las, fuhr auf, sah ihn mit nassen Augen an, und sagte: »Du armer Stilling!« Nun ging er mit ihm zurück nach seinem Zimmer. Es fand sich noch ein wahrer Freund, dem Stilling sein Unglück klagte, dieser ging auch mit. Goethe und dieser Freund packten ihm das Nötige in sein Felleisen; ein anderer suchte Gelegenheit für ihn, wodurch er wegreisen könnte, und diese fand sich, denn es lag ein Schiffer auf der Preusch parat, der den Mittag nach Mainz abfuhr, und Stillingen gern mitnahm. Dieser schrieb indessen ein paar Zeilen nach Hause, und kündigte seine baldige Ankunft an. Nachdem nun Goethe das Felleisen bereit hatte, so lief er und besorgte Proviant für seinen Freund, trug ihm den ins Schiff; Stilling ging reisefertig mit. Hier letzten sich beide mit Tränen. Nun fuhr Stilling im Namen Gottes ab, und sobald er nur auf der Reise war, so fühlte er sein Gemüt beruhigt, und es ahndete ihm, daß er seine Christine noch lebendig finden, und daß sie besser werden würde; doch hatte er auch verschiedene Bücher mitgenommen, um zu Hause sein Studieren fortsetzen zu können. Es war vorjetzo die bequemste Zeit für ihn zu reisen; denn die mehresten Kollegia hatten aufgehört, und die wichtigsten hatten noch nicht wieder angefangen.

Auf der Reise bis Mainz fiel eben nichts Merkwürdiges vor. Er kam des Freitags abends um sechs Uhr daselbst an, bezahlte seinen Schiffer, nahm sein Felleisen unter den Arm, und lief nach der Rheinbrücke, um Gelegenheit auf Köln zu finden. Hier hörte er nun, daß vor zwo Stunden ein großer bedeckter Nachen mit vier Personen abgefahren sei, der noch wohl für viere Raum habe, und daß dieser Nachen über Nacht zu Bingen bleiben würde. Alsbald trat ein Schiffer herzu, welcher Stillingen versprach, ihn für vier Gulden in drei Stunden dahin zu schaffen, ungeachtet es sechs Stunden von Mainz nach Bingen sind. Stilling ging diesen Akkord ein. Indem sich nun der Schiffer zur Fahrt bereitete, fand sich ein exzellentes knappes Bürschchen mit einem kleinen Felleisen, ungefähr 15 Jahr' alt, bei Stilling ein, und fragte: ob es nicht erlaubt wäre, in seiner Gesellschaft mit nach Köln zu reisen? Stilling war's zufrieden, und da er dem Schiffer noch zween Gulden versprach, so war's der auch zufrieden.

Die beiden Reisende traten also in einen kleinen dreibordigen Nachen. Stillingen gefiel das schon gleich anfangs nicht, er äußerte seine Besorgnis, die beiden Schiffer aber lachten ihn aus. Nun fuhren sie fort. Das Wasser ging bis auf ein paar Finger breit an Bord, und wenn Stilling, der etwas lang war, nur ein wenig wankte, so glaubte er umzuschlagen, und alsdann ging das Wasser gänzlich an Bord.

Dieses Fuhrwerk war ihm fürchterlich, und er wünschte herzlich, auf dem Trockenen zu sein, indessen ließ er sich doch, um sich die Zeit zu kürzen, mit seinem kleinen Reisegefährten in ein Gespräch ein. Da hörte er nun mit Erstaunen, daß dieser Knabe, der ein Sohn einer reichen Witwe in H... war, so wie er da bei ihm saß, ganz allein nach dem Vorgebürge der Guten Hoffnung reisen wollte, um daselbst seinen Bruder zu besuchen. Stilling verwunderte sich aus der Maßen, und fragte ihn: ob seine Frau Mutter in seine Reise eingewilliget habe? »Keinesweges!« antwortete der Knabe: »ich bin heimlich fortgegangen, sie ließ mich in Mainz arretieren, aber ich hielt so lange an, bis sie mir erlaubte zu reisen, und mir einen Wechsel von eilfhundert Gulden schickte. Ich hab einen Oheim in Rotterdam, an den bin ich adressiert, der soll mir ferner forthelfen.« Stilling beruhigte sich nun wegen des jungen Menschen, denn er zweifelte nicht, daß dieser Oheim geheime Ordre haben würde, ihn mit Gewalt bei sich zu halten.

Während diesen Gesprächen fühlte Stilling Kälte an seinen Füßen; er sahe zu und fand, daß das Wasser in den Nachen drang, und daß der Schiffer, der hinter ihm saß, wacker schöpfte. Nun wurd' ihm aber im Ernst bang, und er begehrte ausdrücklich, man sollte ihn an der Binger Seite ans Land setzen, er wollte gern den akkordierten Lohn völlig geben, und bis Bingen zu Fuße gehen, allein die Schiffer wollten gar nicht, sondern ruderten nur fort. Stilling gab sich also selbst ans Schöpfen, und er hatte nebst seinen Gefährten genug zu tun, den Nachen leer zu halten. Indessen ward's dunkel, sie näherten sich den Gebürgen, es erhub sich ein Wind, und es stieg ein schwarzes Gewitter auf. Der Knabe fing im Nachen an zu zagen, und Stilling geriet in eine tiefe Schwermut, welche noch vergrößert wurde, als er merkte, wie die Schiffer durch eine Zeichensprache zusammen redeten, so daß sie gewiß etwas Böses im Sinn hatten.

Nun ward es völlig Nacht, das Gewitter rückte heran, es stürmte und blitzte, so daß der Nachen auf und ab schwankte, und der Untergang alle Augenblick gewisser wurde. Stilling kehrte sich innerlich zu Gott, und bate herzlich, daß er ihn doch erhalten möchte, besonders wenn seine Christine noch länger leben sollte, damit sie nicht durch eine Schreckenspost von seinem unglücklichen Tod ihre Seele in Kummer aushauchen möchte. Sollte sie aber zu ihrer Ruhe schon übergegangen sein, so gab er sich mit Freuden an Gottes Willen über. Indem er so dachte, sah er auf, und nah vor sich einen Mastbaum von einer Jacht, er rief mit starker Stimme um Hülfe, in dem Augenblick war ein Schiffmann mit einer Leuchte, und langen Haken auf dem Verdeck. Seine Schiffleute ruderten mit aller Macht abwärts, allein es gelung ihnen nicht, denn weil sie nahe am Ufer hinfuhren, so trieb sie Wind und Strom auf die Jacht an, und eh' sie's vermuteten, war der Haken im Nachen, und der Nachen am Schiff. Stilling und sein Gefährte waren mit ihren Felleisen auf dem Verdeck, ehe sich's die Bösewichter von Schiffern versahen. Der Schiffmann leuchtete mit der Leuchte hin, und fing an: »Ha, ha! seid ihr die T...-Kerls, die vor einigen Wochen die zween Reisenden da unten vertränkt haben? wart, laßt mich wieder nach Mainz kommen!« – Stilling warf ihnen ihren vollen Lohn herab ins Nächelchen, und ließ sie laufen. Wie froh war er aber und wie dankte er Gott! als er dieser Gefahr entronnen war. Nun gingen sie unten in die Kajüte. Die Schiffer waren von Koblenz, und brave Leute. Sie aßen alle zusammen, und nun legten sich beide Reisende ins Gepäcke, das daselbst war, und schliefen ruhig, bis wieder der Tag anbrach. Nun befanden sie sich vor Bingen, sie gaben den Schiffern ein gutes Trinkgeld, stiegen aus, und sahen ihren Nachen, mit dem sie nach Köln fahren wollten, daselbst an einen Pfahl gebunden.


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