Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Wanderschaft / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Des andern Mittags gingen sie zum erstenmal ins Kosthaus zu Tische. Sie waren zuerst da, man wies ihnen ihren Ort an. Es speiseten ungefähr zwanzig Personen an diesem Tisch, und sie sahen einen nach dem andern hereintreten. Besonders kam einer mit großen hellen Augen, prachtvoller Stirn, und schönem Wuchs, mutig ins Zimmer. Dieser zog Herrn Troosts und Stillings Augen auf sich; ersterer sagte gegen letztern: »Das muß ein vortrefflicher Mann sein.« Stilling bejahte das, doch glaubte er, daß sie beide viel Verdruß von ihm haben würden, weil er ihn für einen wilden Kameraden ansah. Dieses schloß er aus dem freien Wesen, das sich der Student ausnahm; allein Stilling irrte sehr. Sie wurden indessen gewahr, daß man diesen ausgezeichneten Menschen ›Herr Goethe‹ nannte.

Nun fanden sich noch zween Mediziner, einer aus Wien, der andere ein Elsasser. Der erstere hieß Waldberg. Er zeigte in seinem ganzen Wesen ein Genie, aber zugleich ein Herz voller Spott gegen die Religion, und voller Ausgelassenheit in seinen Sitten. Der Elsasser hieß Melzer, und war ein feines Männchen, er hatte eine gute Seele, nur schade! daß er etwas reizbar und mißtrauisch war. Dieser hatte seinen Sitz neben Stilling, und war bald Herzensfreund mit ihm. Nun kam auch ein Theologe, der hieß Leose, einer von den vortrefflichsten Menschen, Goethens Liebling, und das verdiente er auch mit Recht, denn er war nicht nur ein edles Genie, und ein guter Theologe, sondern er hatte auch die seltene Gabe, mit trockner Miene die treffendste Satire in Gegenwart des Lasters hinzuwerfen. Seine Laune war überaus edel. Noch einer fand sich ein, der sich neben Goethe hinsetzte, von diesem will ich nichts mehr sagen, als daß er – ein guter Rabe mit Pfauenfedern war.

Noch ein vortrefflicher Straßburger saß da zu Tische. Sein Ort war der oberste, und wär' es auch hinter der Tür gewesen. Seine Bescheidenheit erlaubt nicht, ihm eine Lobrede zu halten: es war der Herr Aktuarius Salzmann. Meine Leser mögen sich den gründlichsten und empfindsamsten Philosophen, mit dem echtesten Christentum verpaart, denken, so denken sie sich einen Salzmann. Goethe und er waren Herzensfreunde.

Herr Troost sagte leise zu Stilling: »Hier ist's am besten, daß man vierzehn Tage schweigt.« Letzterer erkannte diese Wahrheit, sie schwiegen also, und es kehrte sich auch niemand sonderlich an sie, außer daß Goethe zuweilen seine Augen herüberwälzte; er saß gegen Stilling über, und er hatte die Regierung am Tisch, ohne daß er sie suchte.

Herr Troost war Stillingen sehr nützlich, er kannte die Welt besser und daher konnte er ihn sicher durchführen: Ohne ihn würde Stilling hundertmal angestoßen haben. So gütig war der himmlische Vater gegen ihn. Er versorgte ihn sogar mit einem Hofmeister, der ihm nicht allein mit Rat und Tat beistehen, sondern auch von dem er Anleitung und Fingerzeig in seinen Studien haben konnte. Denn gewiß Herr Troost war ein geschickter und erfahrner Wundarzt.

Nun hatte sich Stilling völlig eingerichtet; er lief seinen Lauf heldenmütig fort; er war jetzt in seinem Element; er verschlang alles, was er hörte, schrieb aber weder Kollegia noch sonst etwas ab, sondern trug alles zusammen in allgemeine Begriffe über. Selig ist der Mann, der diese Methode wohl zu üben weiß! aber es ist nicht einem jeden gegeben. Seine beiden Professoren, die berühmten Herren Spielmann und Lobstein, bemerkten ihn bald, und gewannen ihn lieb, besonders auch darum, weil er sich ernst, männlich, und eingezogen aufführte.

Allein seine 33 Reichstaler waren nun wieder auf einen einzigen heruntergeschmolzen, deswegen begann er wiederum herzlich zu beten. Gott erhörte ihn, und just in dieser Zeit der Not fing Herr Troost einmal des Morgens gegen ihn an, und sagte: »Sie haben, glaub ich, kein Geld mitgebracht; ich will Ihnen sechs Karlinen leihen, bis Sie Wechsel bekommen werden.« Obgleich Stilling sowenig von Wechsel als von Geld wußte, so nahm er doch dieses freundschaftliche Erbieten an, und Herr Troost zahlte ihm sechs neue Louisdor aus. Wer war es nun, der das Herz dieses Freundes just weckte, als es not war!!!

Herr Troost war nett und nach der Mode gekleidet; Stilling auch so ziemlich. Er hatte einen schwarzbraunen Rock mit manchesternen Unterkleidern, nur war ihm noch eine runde Perücke übrig, die er zwischen seinen Beutelperücken doch auch gern verbrauchen wollte. Diese hatte er einsmalen aufgesetzt, und kam damit an den Tisch. Niemand störte sich daran, als nur Herr Waldberg von Wien. Dieser sah ihn an; und da er schon vernommen hatte, daß Stilling sehr für die Religion eingenommen war, so fing er an und fragte ihn: Ob wohl Adam im Paradies eine runde Perücke möchte getragen haben? Alle lachten herzlich bis auf Salzmann, Goethe und Troost; diese lachten nicht. Stillingen fuhr der Zorn durch alle Glieder, und antwortete darauf: »Schämen Sie sich dieses Spotts. Ein solcher alltäglicher Einfall ist nicht wert, daß er belacht werde!« – Goethe aber fiel ein, und versetzte: »Probier erst einen Menschen, ob er des Spotts wert sei? Es ist teufelmäßig, einen rechtschaffenen Mann, der keinen beleidiget hat, zum besten zu haben!« Von dieser Zeit nahm sich Herr Goethe Stillings an, besuchte ihn, gewann ihn lieb, machte Brüderschaft und Freundschaft mit ihm, und bemühte sich bei allen Gelegenheiten, Stillingen Liebe zu erzeigen. Schade, daß so wenige diesen vortrefflichen Menschen seinem Herzen nach kennen!

Nach Martini wurde das Kollegium der Geburtshülfe angeschlagen, und die Lernbegierigen dazu eingeladen. Stillingen war dieses ein Hauptstück, deswegen fand er sich des Montags abends mit andern ein, um zu unterschreiben. Er dachte nicht anders, als daß dieses Kollegium ebenso wie die andern erst nach Endigung desselben bezahlt würde; allein wie erschrak er, als der Doktor ankündigte: daß sich die Herren möchten gefallen lassen, künftigen Donnerstag abend sechs neue Louisdor fürs Kollegium zu bezahlen! Hier war also eine Ausnahme, und die hatte auch ihre gegründete Ursachen. Wenn nun Stilling den Donnerstag nicht bezahlte, so wurde sein Name ausgestrichen. Dieses war schimpflich, und schwächte den Kredit, der doch Stillingen absolut nötig war. Jetzt war also guter Rat teuer. Herr Troost hatte schon sechs Karlinen vorgeschossen, und noch war kein Anschein da, sie wiedergeben zu können.

Sobald als Stilling in sein Zimmer kam und dasselbe leer fand, (denn Herr Troost war in ein Kollegium gegangen,) so schloß er die Tür hinter sich zu, warf sich in einen Winkel nieder, und rang recht mit Gott um Hülfe und Erbarmen; indessen äußerte sich nichts Tröstliches für ihn, bis den Donnerstag abend. Es war schon fünf Uhr, und um sechs war die Zeit, da er das Geld haben mußte. Stilling begonnte fast im Glauben zu wanken; der Angstschweiß brach ihm aus, und sein ganzes Gesicht war naß von Tränen. Er fühlte weder Mut noch Glauben mehr, und deswegen sah er von ferne in eine Zukunft, die der Hölle mit allen ihren Qualen ähnlich war. Indem er mit solchen traurigen Gedanken in dem Zimmer auf und ab ging, klopfte jemand an die Tür. Er rief: »Herein!« Es war der Patron des Hauses, der Herr R... Dieser trat ins Zimmer, und nach den gewöhnlichen Komplimenten fing er an: »Ich komme, um zu sehen, wie Sie sich befinden, und ob Sie mit meinem Zimmer zufrieden sind.« (Herr Troost war wiederum nicht da, und der wußte auch von Stillings jetzigen Kampf gar nichts.) Stilling antwortete: »Es macht mir viel Ehre, daß Sie sich nach meinem Befinden zu erkundigen belieben. Ich bin Gott Lob! gesund, und Dero Zimmer ist nach unser beider höchstem Wunsch.«

Herr R... versetzte: »Das macht mir Freude, besonders da ich sehe, daß Sie so sittsame wackere Leute sind. Aber ich wollte doch vornehmlich nach eins fragen: Haben Sie Geld mitgebracht, oder bekommen Sie Wechsel? –« Nun ward's Stillingen als dem Habakuk, wie ihn der Engel des Herrn beim Schopf nahm, um ihn nach Babel zu führen. Er antwortete: »Nein, ich habe kein Geld mitgebracht.«

Herr R... stand, sah ihn starr an und versetzte: »Wie kommen Sie denn doch um Gottes willen zurecht?«

Stilling antwortete: »Herr Troost hat mir schon geliehen.« »Hören Sie«, fuhr Herr K... fort: »der hat sein Geld selber nötig. Ich will Ihnen Geld vorschießen, soviel Sie brauchen; wenn Sie dann Wechsel bekommen, so geben Sie mir nur selbigen, auf daß Sie keine Unruhe mit dem Verkauf haben mögen. Brauchen Sie auch wohl jetzt etwas Geld?« Stilling konnte sich kaum enthalten, daß er nicht laut rief, doch hielt er an sich und ließ sich nichts merken. »Ja!« sagte er, »ich habe diesen Abend sechs Louisdor nötig, und ich war verlegen.«

Herr R... entsetzte sich, und erwiderte: »Ja, das glaub ich! Nun seh ich: Gott hat mich zu Ihrer Hülfe hergesandt.« Nun ging er zur Tür hinaus.

Stilling war's nun wie dem Daniel im Löwengraben, da ihm Habakuk die Speise brachte; er versank ganz von Empfindung, und wurde kaum gewahr, daß Herr R... wieder hereintrat. Dieser vortreffliche Mann brachte acht Louisdor, zählte sie ihm dar, und sagte: »Da haben Sie noch etwas übrig, und wenn das all ist, so fordern Sie mehr.«

Stilling durfte seinen herzlichen Dank nicht ganz auslassen, um sich nicht allzusehr bloßzugeben. Nun empfahl sich der edle Mann, und ging fort.

In dem Kreis, worinnen sich Stilling jetzt befand, hatte er täglich Versuchungen genug, ein Religionszweifler zu werden. Er hörte alle Tage neue Gründe gegen die Bibel, gegen Christentum, und gegen die Grundsätze der christlichen Religion. Alle seine Beweise, die er jemals gesammlet, und die ihn immer beruhiget hatten, waren nicht hinlänglich mehr, seine strenge Vernunft zu beruhigen; bloß diese Glaubensproben, deren er in seiner Führung soviel erfahren, machten ihn ganz unüberwindlich. Er schloß also:

Derjenige, der augenscheinlich das Gebet der Menschen erhört, und ihre Schicksale wunderbarerweise und sichtbarlich lenkt, muß unstreitig wahrer Gott, und seine Lehre Gottes Wort sein.

Nun hab ich aber von jeher Jesum Christum als meinen Gott und Heiland verehrt und ihn gebeten. Er hat mich in meinen Nöten erhört, und mir wunderbar beigestanden, und mir geholfen.

Folglich ist Jesus Christus unstreitig wahrer Gott, seine Lehre ist Gottes Wort, und seine Religion, so wie er sie gestiftet hat, die wahre.

Dieser Schluß galt ihm zwar bei andern nichts, aber für ihn selbst war er vollkommen hinreißend, ihn vor allem Zweifel zu schützen.

Sobald Herr R... fort war, fiel Stilling zur Erde nieder, dankte Gott mit Tränen, und warf sich aufs neue in seine väterliche Arme; darauf ging er ins Kollegium, und bezahlte so gut als der Reichste.

Indem daß dieses zu Straßburg vorging, besuchte einsmals Herr Liebmann von Schönenthal Herrn Friedenberg zu Rasenheim, denn sie waren sehr gute Freunde. Liebmann wußte von Stillings Verbindung mit Christinen nichts, doch wußte er wohl, daß Friedenberg sein Herzensfreund war.

Als sie so zusammensaßen, so fiel auch das Gespräch auf ihren Freund zu Straßburg. Liebmann wußte nicht genug zu erzählen: wie Herr Troost in seinen Briefen Stillings Fleiß, Genie, und guten Fortgang im Studieren rühmte. Friedenberg und seine Leute, besonders Christine, fühlten Wonne dabei in ihren Herzen. Liebmann konnte nicht begreifen, woher er Geld bekäme? Friedenberg auch nicht. »Ei«, fuhr Liebmann fort: »ich wollte, daß ein Freund mit mir anstünde, wir wollten ihm einmal einen tüchtigen Wechsel schicken.«

Herr Friedenberg merkte diesen Zug der Vorsehung; er konnte sich kaum des Weinens enthalten. Christine aber lief hinauf auf ihr Zimmer, legte sich vor Gott nieder, und betete. Friedenberg versetzte: »Ei, so will ich mit anstehen!«. Liebmann freuete sich, und sagte: »Wohlan! so zahlen Sie hundertundfunfzig Reichstaler, ich will auch soviel herbeischaffen, und den Wechsel an ihn abschicken.« Friedenberg tat das gerne.

Vierzehn Tage nach der schweren Glaubensprobe, die Stilling ausgestanden hatte, bekam er ganz unvermutet einen Brief von Herrn Liebmann, nebst einem Wechsel von dreihundert Reichstalern. Er lachte hart, stellte sich gegen das Fenster, sah mit freudigem Blick gen Himmel, und sagte»Das war Dir nur möglich, Du allmächtiger Vater!«

Mein ganzes Leben sei Gesang!
Mein Wandel wandelnd Lied der Harfe!

Nun bezahlte er Herrn Troost, Herrn R. und was er sonst schuldig war, und behielt noch genug übrig, den ganzen Winter auszukommen. Seine Lebensart zu Straßburg war auffallend, so daß die ganze Universität von ihm zu sagen wußte. Die Philosophie war eigentlich von jeher diejenige Wissenschaft gewesen, wozu sein Geist die mehreste Neigung hatte. Um sich nun noch mehr darinnen zu üben, beschloß er, des Abends von 5 bis 6 Uhr, welche Stunde ihm übrig war, ein öffentliches Kollegium in seinem Zimmer darüber zu lesen. Denn weil er eine gute natürliche Gabe der Beredsamkeit hatte, so entschloß er sich um desto lieber dazu, teils um die Philosophie zu wiederholen, und sich ferner darinnen zu üben, teils aber auch, um eine Geschicklichkeit zu erlangen, öffentlich zu reden. Da er sich nun nichts dafür bezahlen ließ, und dieses Kollegium als eine Repetition angesehen wurde, so ging's ihm durch, ohne daß jemand etwas dagegen zu sagen hatte. Er bekam Zuhörer in Menge, und durch diese Gelegenheit viele Bekannte und Freunde.

Seine eigene Kollegia versäumte er nie. Er präparierte auf der Anatomie selbsten mit Lust und Freude, und was er präpariert hatte, das demonstrierte er auch öffentlich, so daß Professoren und Studenten sich sehr über ihn verwunderten. Herr Professor Lobstein, der dieses Fach mit bekanntem größten Ruhm verwaltet, gewann ihn sehr lieb, und wendete allen Fleiß an, um ihm diese Wissenschaft gründlich beizubringen. Auch besuchte er schon diesen Winter mit Herrn Professor Ehrmann die Kranken im Hospital. Er bemerkte da die Krankheiten, und auf der Anatomie ihre Ursachen. Mit einem Wort: er wendete in allen Disziplinen der Arzeneiwissenschaft alles mögliche an, um Gründlichkeit zu erlangen.

Herr Goethe gab ihm in Ansehung der schönen Wissenschaften einen andern Schwung. Er machte ihn mit Ossian, Shakespeare, Fielding und Sterne bekannt; und so geriet Stilling aus der Natur ohne Umwege wieder in die Natur. Es war auch eine Gesellschaft junger Leute zu Straßburg, die sich die Gesellschaft der schönen Wissenschaften nannte, dazu wurde er eingeladen, und zum Mitglied angenommen; auch hier lernte er die schönsten Bücher, und den jetzigen Zustand der schönen Literatur in der Welt kennen.

Diesen Winter kam Herr Herder nach Straßburg. Stilling wurde durch Goethe und Troost mit ihm bekannt. Niemalen hat er in seinem Leben mehr einen Menschen bewundert, als diesen Mann. »Herder hat nur einen Gedanken, und dieser ist eine ganze Welt.« Dieser machte Stilling einen Umriß von allem in einem, ich kann's nicht anders nennen; und wenn jemals ein Geist einen Stoß bekommen hat zu einer ewigen Bewegung, so bekam ihn Stilling von Herdern, und das darum, weil er mit diesem herrlichen Genie, in Ansehung des Naturells, mehr harmonierte als mit Goethe.

Das Frühjahr rückte heran, und Herr Troost rüstete sich wiederum zur Abreise. Stilling fühlte zwar diese Trennung von einem so teuren Manne recht tief, allein er hatte doch nunmehr die schönste Bekanntschaft in Straßburg, und dazu hoffte er über ein Jahr wieder bei ihm zu sein. Er gab ihm Briefe mit; und da er ihm seine Verlobung entdeckt hatte, so empfahl er ihm mit erster Gelegenheit nach Rasenheim zu gehen, und den Seinigen alle seine Umstände mündlich zu erzählen.

So verreiste dieser ehrliche Mann im April wieder in die Niederlande, nachdem er noch einmal seine nötigsten Wissenschaften mit größtem Fleiß wiederholt hatte. Stilling aber setzte seine Studien wacker fort.


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