Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Wanderschaft / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Stilling setzte nun bei Herrn Spanier seine Bedienung noch immer fort, desgleichen seine gewöhnliche Gänge nach Rasenheim und Schönenthal. Ein Vierteljahr vor Michaelis kündigte er Herrn Spanier sein Vorhaben höflich und freundschaftlich an, und bat ihn, ihm doch diesen Schritt nicht zu verübeln, indem es endlich im dreißigsten Jahr seines Alters einmal Zeit sei, für sich selber zu sorgen. Herr Spanier antwortete zu dem allem nicht ein Wort, sondern schwieg ganz still; aber von dem an war sein Herz von Stilling ganz abgekehrt, so daß ihm das letzte Vierteljahr noch ziemlich sauer wurde, nicht, daß ihm jemand etwas in den Weg legte, sondern weil die Freundschaft und das Zutrauen ganz hin war.

Vier Wochen vor der Frankfurter Herbstmesse nahm also Stilling von seinem bisherigen lieben Patron und dem ganzen Hause Abschied. Herr Spanier weinte blutige Tränen, aber er sagte kein Wort weder gutes noch böses. Stilling weinte auch; und so verließ er seine letzte Schule oder Informationsbedienung, und zog nach Rasenheim zu seinen Freunden, nachdem er sieben ganzer schöner Jahre an einem Ort ruhig verlebt hatte.

Herr Spanier hatte seine wahre Absicht mit Stilling nie entdeckt. So wie sein Plan war, nur dem Titel nach Doktor zu werden, ohne hinlängliche Erkenntnisse zu haben, das war Stillingen unmöglich einzugehen; und entdeckte Spanier den Rest seiner Gedanken nicht ganz, so konnte es ja Stilling auch nicht wissen, und noch viel weniger sich darauf verlassen. Über das alles führte ihn die Vorsehung gleichsam mit Macht und Kraft, ohne sein Mitwirken, so daß er folgen mußte, wenn er auch etwas anders vor sich beschlossen gehabt hätte. Was aber noch das Schlimmste für Stillingen war: er hatte nie einen bestimmten Jahrlohn mit Herrn Spanier gemacht; dieser rechtschaffene Mann gab ihm reichlich, was er bedurfte. Nun hatte er sich aber schon Bücher und andre Notwendigkeiten angeschafft, so daß er, wenn er alles rechnete, ein Ziemliches jährlich empfangen hatte, deswegen gab ihm nun Spanier beim Abschied nichts, so daß er ohne Geld bei Friedenberg zu Rasenheim ankam. Dieser zahlte ihm aber alsofort hundert Reichstaler aus, um sich das Nötigste zu seiner Reise dafür anzuschaffen, und das übrige mitzunehmen. Seine christlichen Freunde zu Schönenthal aber beschenkten ihn mit einem schönen Kleid, und erboten sich zu fernerm Beistand.

Stilling hielt sich nun noch vier Wochen bei seiner Verlobten und den Ihrigen auf; während dieser Zeit rüstete er sich aus, nach der hohen Schule zu ziehen. Er hatte sich noch keinen Ort erwählt, wohin, sondern er erwartete einen Wink vom himmlischen Vater; denn weil er aus purem Glauben studieren wollte, so durfte er auch in nichts seinem eigenen Willen folgen.

Nach drei Wochen ging er noch einmal nach Schönenthal, um seine Freunde daselbst zu besuchen. Als er daselbst ankam, fragte ihn eine sehr teure und liebe Freundin: Wohin er zu ziehen willens wäre? Er antwortete: Er wüßte es nicht. »Ei!« sagte sie: »unser Herr Nachbar Troost reist nach Straßburg, um daselbst einen Winter zu bleiben, reisen Sie mit demselben!« Dieses fiel Stilling aufs Herz; er fühlte, daß dieses der Wink sei, den er erwartet hatte. Indem trat gemeldter Herr Troost in die Stube herein. Alsofort fing die Freundin gegen ihn an, von Stillingen zu reden. Der liebe Mann freuete sich von Herzen über seine Gesellschaft, denn er hatte schon ein und anderes von ihm gehört.

Herr Troost war zu der Zeit ein Mann von vierzig Jahren, und noch unverheuratet. Schon zwanzig Jahr' war er mit vielen Ruhm Chirurgus in Schönenthal gewesen; allein er war jetzt mit seinen Kenntnissen nicht mehr zufrieden, sondern er wollte noch einmal zu Straßburg die Anatomie durchstudieren, und andre chirurgische Kollegia hören, um mit neuer Kraft ausgerüstet wiederzukommen, und seinem Nächsten desto nützlicher dienen zu können. In seiner Jugend hatte er schon einige Jahre auf dieser berühmten hohen Schule zugebracht, und den Grund zu seiner Wissenschaft gelegt.

Dieser war nun der rechte Mann für Stillingen. Er hatte das edelste und beste Herz von der Welt, das aus lauter Menschenliebe und Freundschaft zusammengesetzt war; dazu hatte er einen vortrefflichen Charakter, viel Religion und daraus fließende Tugenden. Er kannte die Welt und Straßburg; und gewiß, es war ein recht väterlicher Zug der Vorsehung, daß Stilling just jetzt mit ihm bekannt wurde. Er machte deswegen alsbald Freundschaft mit Herrn Troost. Sie beschlossen, mit den Meßkaufleuten nach Frankfurt, und von da mit einer Retourkutsche nach Straßburg zu fahren; sie bestimmten nun auch den Tag ihrer Abreise, der nach acht Tagen festgesetzt wurde.

Stilling hatte schon vorlängst seinem Vater und Oheim im salenschen Lande seine fernere wunderbare Führung bekanntgemacht; diese entsetzten sich, erstaunten, fürchteten, hofften, und gestunden: daß sie ihn ganz an Gott überlassen müßten, und daß sie bloß von ferne stehen, und seinen Flug über alle Berge hin mit Furcht und Zittern ansehen könnten, indessen wünschten sie ihm allen erdenklichen Segen.

Stillings Lage war jetzt in aller Absicht erschrecklich. Ein jeder Vernünftiger setze sich in Gedanken einmal an seine Stelle und empfinde! – Er hatte sich mit einem zärtlichen frommen empfindsamen, aber dabei kränklichen Mädchen verlobt, die er mehr als seine eigene Seele liebte, und diese wurde von allen Ärzten verzehrend erklärt, so daß er sehr fürchten mußte, sie bei seinem Abschied zum letztenmal zu sehen. Dazu fühlte er alle die schwere Leiden, die ihr zärtlich liebendes Herz während einer so langen Zeit würde ertragen müssen. Sein ganzes künftiges Glück beruhte nun bloß darauf, ein rechtschaffener Arzt zu werden; und dazu gehörten zum wenigsten tausend Reichstaler, wozu keine hundert für ihn in der ganzen Welt zu finden waren; folglich sah es auch in diesem Fall mißlich mit ihm aus, fehlte es ihm hie, so fehlte ihm alles.

Und dennoch ob sich Stilling gleich alles sehr lebhaft vorstellte, so setzte er doch sein Vertrauen fest auf Gott, und machte diesen Schluß:

»Gott fängt nichts an, oder er führt es auch herrlich aus. Nun ist es aber ewig wahr, daß er meine gegenwärtige Lage ganz und allein, ohne mein Zutun, so geordnet hat.

Folglich: ist es auch ewig wahr, daß er alles mit mir herrlich ausführen werde.«

Dieser Schluß machte ihn öfters so mutig, daß er lächelnd gegen seine Freunde zu Rasenheim sagte: »Mich soll doch verlangen, wo mein Vater im Himmel Geld für mich zusammentreiben wird!« Indessen entdeckte er keinem einigen Menschen weiter seine eigentlichen Umstände, besonders Herrn Troost nicht, denn dieser zärtliche Freund würde groß Bedenken getragen haben, ihn mitzunehmen; oder er würde wenigstens doch herzliche Sorge für ihn ausgestanden haben.

Endlich rückte der Tag der Abreise heran, und Christine schwamm in Tränen und wurde zuweilen ohnmächtig, und das ganze Haus trauerte.

Am letzten Abend saßen Herr Friedenberg und Stilling allein zusammen. Ersterer konnte sich des Weinens nicht enthalten; mit Tränen sagte er zu Stillingen: »Lieber Sohn! das Herz ist mir sehr schwer um Euch, wie gern wollt' ich Euch mit Geld versehen, wenn ich nur könnte, ich hab meine Handlung und Fabrik mit nichts angefangen, nunmehr bin ich eben so weit, daß ich mir helfen kann; wenn ich Euch aber wollte studieren lassen, so würde ich mich ganz zurücksetzen. Und dazu hab ich zehn Kinder, was ich dem ersten tue, das bin ich hernach allen schuldig.«

»Hören Sie, Herr Schwiegervater!« antwortete Stilling mit frohem Mut, und fröhlichem Gesicht: »ich begehre keinen Heller von Ihnen, glauben Sie nur gewiß: derjenige, der in der Wüsten soviel tausend Menschen mit wenig Brot sättigen konnte, der lebt noch, dem übergebe ich mich. Er wird gewiß Rat schaffen. Sorgen sie nur nicht, ›der Herr wird's versehen‹.«

Nun hatte er seine Bücher, Kleider und Geräte voraus auf Frankfurt geschickt; und des andern Morgens, nachdem er mit seinen Freunden gefrühstückt hatte, lief er hinauf nach der Kammer seiner Christinen; sie saß und weinte. Er ergriff sie in seine Arme, küßte sie und sagte: »Lebe wohl, mein Engel! Der Herr stärke und erhalte dich im Segen und Wohlergehn, bis wir uns wiedersehen!« – und so lief er zur Tür hinaus. Nun letzte er sich mit einem jeden, lief fort, und weinte sich unterweges satt. Der ältere Bruder seiner Geliebten begleitete ihn bis Schönenthal. Nun kehrte auch dieser traurig um, und Stilling begab sich zu seinen Reisegefährten.

Ich will mich mit der Reisegeschichte nach Frankfurt weiter nicht aufhalten. Sie kamen alle glücklich daselbst an, außer daß sie in der Gegend von Ellefeld auf dem Rhein einen heftigen Schreck ausgestanden hatten.

Vierzig Reichstaler war Stillings ganze Habseligkeit gewesen, wie er von Rasenheim weggereist war. Nun mußten sie sich eilf Tage in Frankfurt aufhalten, und auf Gelegenheit warten, besonders auch weil Herr Troost nicht eher fortkommen konnte; daher schmolz sein Geld so zusammen, daß er zween Tage vor seiner Abreise nach Straßburg noch einen einzelnen Reichstaler hatte, und dieses war sein Vorrat, den er in der Welt wußte. Er entdeckte niemand etwas, sondern wartete auf den Wink des himmlischen Vaters. Doch fand er bei allem seinem Mut nirgends recht Ruhe, er spazierte umher, und betete innerlich zu Gott; indessen geriet er auf den Römerberg, daselbst begegnete ihm ein Schönenthaler Kaufmann, der ihn wohl kannte, und auch sein Freund war; diesen will ich Liebmann nennen.

Herr Liebmann also grüßte ihn freundlich, und fragte: wie's ihm ginge? Er antwortete: »Recht gut!« »Das freut mich«, versetzte jener: »Kommen Sie diesen Abend auf mein Zimmer, und speisen Sie mit mir, was ich habe!« Stilling versprach das. Nun zeigte ihm Herr Liebmann, wo er logierte.

Des Abends ging er an den bestimmten Ort. Nach dem Essen fing Herr Liebmann an: »Sagen Sie mir doch, mein Freund! wo bekommen Sie Geld her zum Studieren?« Stilling lächelte, und antwortete: »Ich hab einen reichen Vater im Himmel, der wird mich versorgen.« Herr Liebmann sah ihn an, und erwiderte: »Wieviel haben Sie noch?« Stilling versetzte: »Einen Reichstaler, – und das ist alles!« »So!« fuhr Liebmann fort: »ich bin einer von Ihres Vaters Rentmeistern, ich werde also jetzt einmal den Beutel ziehen.« Damit zählte er Stillingen dreiunddreißig Reichstaler hin, und sagte: »Mehr kann ich anjetzo nicht missen. Sie werden überall Hülfe finden. Können Sie mir das Geld dermaleinst wiedergeben, gut! wo nicht, auch gut!« – Stilling fühlte heiße Tränen in seinen Augen. Er dankte herzlich für diese Liebe, und versetzte: »Das ist reichlich genug, ich wünsche nicht mehr zu haben.« Diese erste Probe machte ihn so mutig, daß er gar nicht mehr zweifelte, Gott würde ihm gewiß durch alles durchhelfen. Er erhielt auch Briefe von Rasenheim von Herrn Friedenberg und von Christinen. Diese hatte Mut gefaßt, und standhaft beschlossen, geduldig auszuharren. Friedenberg aber schrieb ihm in den allerzärtlichsten Ausdrücken, und empfahl ihn der väterlichen Fürsorge Gottes. Er beantwortete gleichfalls beide Briefe mit aller möglichen Zärtlichkeit und Liebe. Von seiner ersten Glaubensprobe aber meldete er nichts, sondern schrieb nur, daß er Überfluß habe.

Nach zween Tagen fand Herr Troost eine Retourkutsche nach Mannheim, welche er für sich und Stilling, nebst noch einem redlichen Kaufmann von Luzern aus der Schweiz, mietete. Nun nahmen sie wiederum von allen Bekannten und Freunden Abschied, setzten sich ein und reisten im Namen Gottes weiter.

Um sich nun untereinander die Zeit zu kürzen, erzählte ein jeder, was er wußte. Der Schweizer wurde so vertraulich, daß er unsern beiden Reisenden sein ganzes Herz entdeckte. Stilling wurde dadurch gerührt, und er erzählte seine ganze Lebensgeschichte mit allen Umständen, so daß der Schweizer oft die milden Tränen fallen ließ. Herr Troost selber hatte sie auch noch nie gehört, er wurde auch sehr gerührt, und seine Liebe zu Stillingen wurde desto größer.

Zu Mannheim nahmen sie wieder eine Retourkutsche bis auf Straßburg. Als sie zwischen Speyer und Lauterburg in den großen Wald kamen, stieg Stilling aus. Er war des Fahrens nicht gewohnt, und konnte das Wiegen der Kutsche, besonders in Sandwegen, nicht wohl ausstehen. Der Schweizer stieg auch aus, Herr Troost aber blieb im Wagen. Als nun die beiden Reisegefährten so zusammen zu Fuß gingen, sprach ihn der Schweizer an: ob er ihm nicht das Manuskript von Molitor, weil er es doch doppelt habe, gegen fünf französische neue Louisdor überlassen wollte? Stilling sah dieses wiederum als einen Wink von Gott an, und daher versprach er's ihm.

Sie stiegen endlich wiederum in die Kutsche. Unter allerhand Gesprächen kam Herr Troost recht zur Unzeit an gemeldetes Manuskript. Er glaubte, wenn Stilling einmal studiert haben würde, so würde er wenig mehr aus dergleichen Sächelchen, Geheimnissen und Salbereien machen, weil doch niemalen etwas Rechts daran sei. Hiemit waren nun dem Schweizer seine fünf Louisdor wieder lieber, als das Papier. Hätte Herr Troost gewußt, was zwischen beiden vorgefallen war, so möchte er wohl geschwiegen haben.

Indessen kamen nun unsre Reisende gesund und wohl zu Straßburg an, und logierten sich bei Herrn Ratmann Blesig in der Äxt ein, Stilling sowohl als sein Freund schrieben alsofort nach Haus, und meldeten ihre glückliche Ankunft, ein jeder am gehörigen Ort.

Stilling hatte nun keine Ruhe mehr, bis er das herrliche Münster rundum von innen und außen gesehen hatte. Er ergötzte sieh dergestalt, daß er öffentlich sagte: »Das allein ist der Reise wert, gut! daß es ein Teutscher gebaut hat.« Des andern Tages ließen sie sich immatrikulieren, und Herr Troost, der daselbst bekannt war, suchte ein bequemes Zimmer für sie beide. Dieses fand er auch nach Wunsch, denn am bequemsten Ort für sie wohnte ein vornehmer reicher Kaufmann, namens R... der einen Bruder in Schönenthal gehabt hatte, und daher Liebe für Herrn Troost und seinen Gefährten bezeigte. Dieser verpachtete ihnen ein herrliches tapeziertes Zimmer, unten im ersten Stock, für einen mäßigen Preis; sie zogen daselbst ein.

Nun suchte Herr Troost ein gutes Speisequartier, und dieses fand er gleichfalls ganz nahe, wo eine vortreffliche Tischgesellschaft war. Hier verakkordierte er sich nebst Stilling auf den Monat. Dieser aber erkundigte sich indessen nach den Lehrstunden, und nahm deren so viel an, als nur gehalten wurden. Die Naturlehre, die Scheidekunst und die Zergliederung waren seine Hauptstücke, die er alsofort vornahm.


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