Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Wanderschaft / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Stilling wanderte also zurück zu Herrn Spanier, und kam zween Tage vor Michaelis 1763 des Abends in Herrn Spaniers Haus an. Dieser Mann freute sich über die Maße, als er Stilling so geschwind bei sich sahe. Er behandelte ihn alsofort als einen Freund, und Stilling fühlte wohl, daß er nunmehro bei Leuten wäre, die ihm Freude und Wonne machen würden.

Des andern Tages fing er seine Information an. Die Einrichtung derselben ward folgendergestalt von Herrn Spanier angeordnet: Die Kinder sowohl, als ihr Lehrer, waren bei ihm in seiner Stube; auf diese Weise konnte er sie selber beobachten, und ziehen, und auch beständig mit Stilling von allerhand Sachen reden. Dabei gab Herr Spanier seinem Hausinformator auch Zeit genug, selber zu lesen. Die Unterweisung dauerte den ganzen Tag, aber so gemächlich und unterhaltend, daß sie niemand langweilig und beschwerlich werden konnte.

Herr Spanier aber hatte Stillingen nicht bloß zum Lehrer seiner Kinder bestimmt, sondern er hatte noch eine andre schöne Absicht mit ihm, er wollte ihn in seinen Handelsgeschäften brauchen; das entdeckte er ihm aber nicht eh', bis auf den Tag, da er ihm einen Teil seiner Fabrik zu verwalten übertrug. Hierdurch glaubte er auch Stillingen Veränderung zu machen, und ihn vor der Melancholie zu bewahren.

Alles dieses gelang auch vollkommen. Nachdem er vierzehn Tage informiert hatte, so übertrug ihm Herr Spanier seine drei Hämmer, und die Güter, welche anderthalb Stunden von seinem Hause, nicht weit von Hochbergs Wohnung, lagen. Stilling mußte alle drei Tage dahin gehen, um die fertige Waren wegzuschaffen, und alles zu besorgen.

Auch mußte er rohe Waren einkaufen, und des Endes drei Stunden weit wöchentlich ein paarmal auf die Landstraße gehen, wo die Fuhrleute mit dem rohen Eisen herkamen, um das Nötige von ihnen einzukaufen; wenn er dann wiederkam und recht müde war, so tat ihm die Ruhe ein paar Tage wieder gut, er las dann selbsten und informierte dabei.

Der vergnügte Umgang aber, den Stilling mit Herrn Spanier hatte, war über alles. Sie waren recht vertraulich zusammen, redeten von Herzen von allerhand Sachen, besonders war Spanier ein ausbündiger geschickter Landwirt und Kaufmann, so daß Stilling oftmals zu sagen pflegt, Herrn Spaniers Haus war meine Akademie, wo ich Ökonomie, Landwirtschaft und das Kommerzienwesen aus dem Grund zu studieren Gelegenheit hatte.

So wie ich hier Stillings Lebensart beschrieben habe, so dauerte sie, ohne eine einzige trübe Stunde dazwischen zu haben, sieben ganzer Jahr' in einem fort; ich will davon nun nichts weiter sagen, als daß er in all dieser Zeit, in Absicht der Weltkenntnis, Lebensart, und obigen häuslichen Wissenschaften ziemlich zugenommen habe. Seine Schüler unterrichtete er, diese ganze Zeit über, in der lateinischen und französischen Sprache, wodurch er selber immer mehr Fertigkeit in beiden Stücken erlangte, und dann in der reformierten Religion, im Lesen, Schreiben und Rechnen.

Seine eigene Lektür bestand anfänglich in allerhand poetischen Schriften. Er las erstlich Miltons »Verlornes Paradies«, hernach Youngs »Nachtgedanken«, und darauf die »Messiade« von Klopstock; drei Bücher, die recht mit seiner Seele harmonierten; denn so wie er vorhin sanguinisch zärtlich gewesen war, so hatte er nach seiner schrecklichen Periode bei Herrn Hochberg eine sanfte zärtliche Melancholie angenommen, die ihm auch vielleicht bis an seinen Tod anhängen wird.

In der Mathematik tat er jetzt nicht viel mehr, hingegen legte er sich mit Ernst auf die Philosophie, las Wolffs teutsche Schriften ganz, desgleichen Gottscheds gesamte Philosophie, Leibnizens »Theodizee«, Baumeisters kleine Logik und Metaphysik demonstrierte er ganz nach, und nichts in der Welt war ihm angenehmer als die Übung in diesen Wissenschaften; allein er spürte doch eine Leere bei sich und ein Mißtrauen gegen diese Systeme, denn sie erstickten wahrlich alle kindliche Empfindung des Herzens gegen Gott; sie mögen eine Kette von Wahrheiten sein, aber die wahre philosophische Kette, an welche sich alles anschließt, haben wir noch nicht. Stilling glaubte diese zu finden, allein er fand sie nicht, und nun gab er sich ferner ans Suchen, teils durch eigenes Nachdenken, teils in andern Schriften, und noch bis dahin wandelt er traurig auf diesem Wege, weil er noch keine Auskunft siehet.

Herr Spanier stammte auch aus dem salenschen Lande her; denn sein Vater war nicht weit von Kleefeld geboren, wo Stilling seine letzte Kapellenschule bedient hatte, deswegen hatte er auch zuweilen Geschäfte daselbst zu verrichten, hierzu brauchte er nun Stilling auch darum am liebsten, weil er daselbst bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bei seinem Patron, und also beinah drittehalb Jahr' in der Fremde gewesen, so trat er seine erste Reise zu Fuß nach seinem Vaterland an. Er hatte zwölf Stunden von Herrn Spanier bis zu seinem Oheim Johann Stilling, und dreizehn bis zu seinem Vater; diese Reise wollte er in einem Tage abtun. Er machte sich deswegen des Morgens früh mit Tages Anbruch auf den Weg, und reiste vergnügt fort, aber er nahm eine nähere Straße vor sich, als er ehmals gekommen war. Des Nachmittags um vier Uhr kam er auf einer Höhe an die Grenze des salenschen Landes, er sah in all die bekannte Gebirge hinein, sein Herz zerschmolz, er setzte sich hin, weinte Tränen der Empfindsamkeit, und dankte Gott für seine schwere aber sehr heilsame Führung; er bedachte, wie elend und arm er aus seinem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Überfluß an Geld, schönen Kleidern und an aller Notdurft habe; dieses machte ihn so weich und so dankbar gegen Gott, daß er sich des Weinens nicht enthalten konnte.

Er wanderte also weiter, und kam nach einer Stunde bei seinem Oheim zu Lichthausen an. Die Freude war nicht auszusprechen, die da entstand, als sie ihn sahen; er war nun lang und schwank ausgewachsen, hatte ein schönes dunkelblaues Kleid, und feine weiße Wäsche an, sein Haar war gepudert, und rundum aufgerollt, dabei sah er nun munter und blühend aus, weil es ihm wohl ging. Sein Oheim umarmte und küßte ihn, und die Tränen liefen ihm die Wangen herunter, indem kam auch seine Muhme, Mariechen Stillings. Sie war seit der Zeit auch nach Lichthausen verheiratet, sie fiel ihm um den Hals, und küßte ihn ohne Aufhören.

Diese Nacht blieb er bei seinem Oheim, des andern Morgens ging er auch nach Leindorf zu seinem Vater. Wie der rechtschaffene Mann aufsprang, als er ihn so unvermutet kommen sahe! er sank wieder zurück, Stilling aber lief auf ihn zu, umarmte und küßte ihn zärtlich. Wilhelm hielt seine Hände vor die Augen und weinte, sein Sohn vergoß ebenfalls Tränen, indem kam auch die Mutter, sie schüttelte ihm die Hand, und weinte laut vor Freuden, daß sie ihn gesund wiedersehe.

Nun erzählte Stilling seinen Eltern alles, was ihm begegnet war und wie gut es ihm nun ginge. Indessen erschallte das Gerücht von Stillings Ankunft im ganzen Dorf. Das Haus wurde voller Leute; Alte und Junge kamen, um ihren ehemaligen Schulmeister zu sehen, und das ganze Dorf war voll Freude über ihn.

Gegen Abend ging Wilhelm mit seinem Sohn über die Wiesen spazieren. Er redete viel mit ihm von seinen vergangenen und künftigen Schicksalen, und zwar recht im Ton des alten Stillings, so daß sein Sohn von Ehrfurcht und Liebe durchdrungen war. Endlich fing Wilhelm an: »Hör, mein Sohn! Du mußt deine Großmutter besuchen, sie liegt elend an der Gicht darnieder, und wird nicht lange mehr leben, sie redet immer von dir, und wünscht noch einmal, vor ihrem Ende, mit dir zu sprechen.« Des andern Morgens machte sich also Stilling auf, und ging nach Tiefenbach hin. Wie ihm ward, als er das alte Schloß, den Giller, den hitzigen Stein, und das Dorf selber sahe! Diese Empfindung läßt sich nicht aussprechen; er untersuchte sich, und fand, wenn er noch seinen jetzigen Zustand mit seiner Jugend vertauschen könnte, er würde es gerne tun. Er langte in kurzer Zeit im Dorf an; alles Volk lief aus, so daß er gleichsam im Gedränge an das ehrwürdige Haus seiner Väter kam. Es schauerte ihn, wie er hineintrat, just als wenn er in einen alten Tempel ginge. Seine Muhme Elisabeth war in der Küchen, sie lief auf ihn zu, gab ihm die Hand, weinte, und führte ihn in die Stube; da lag nun seine Großmutter Margarethe Stillings in einem saubern Bettchen an der Wand bei dem Ofen; ihre Brust war hoch in die Höhe getrieben. Die Knöchel an ihren Händen waren dick, die Finger steif, und einwärts ausgerenkt. Stilling lief bei sie, griff ihre Hand und sagte mit Tränen in den Augen. »Wie geht's, liebe Großmutter? Es ist mir eine Seelenfreude, daß ich Euch noch einmal wiedersehe.« Sie suchte, sich in die Höhe zu arbeiten, fiel aber ohnmächtig zurück. »Ach!« rief sie. »ich kann dich noch einmal vor meinem Ende hören und fühlen, komm doch bei mich, daß ich dich im Gesicht fühlen kann!« Stilling bückte sich bei sie; sie fühlte nach seiner Stirn, seinen Augen, Nasen, Mund, Kinn, und Wangen. Indessen geriet sie auch mit den steifen Fingern in seine Haare, sie fühlte den Puder; »so!« sagte sie; »du bist der erste, der aus unsrer Familie seine Haare pudert, sei aber nicht der erste, der auch Gottesfurcht und Redlichkeit vergißt!« Nun fuhr sie fort: »Kann ich dich mir vorstellen, als wenn ich dich sähe; erzähl mir nun auch, wie es dir gegangen hat, und wie es dir nun gehet.« Stilling erzählte ihr alles kurz und bündig. Als er ausgeredet hatte, fing sie an: »Hör, Henrich! sei demütig und fromm, so wird's dir wohl gehen, schäme dich nie deines Herkommens und deiner armen Freunde, du magst so groß werden in der Welt als du willst. Wer gering ist, kann durch Demut groß werden, und wer vornehm ist, kann durch Stolz gering werden; wenn ich nun tot bin, so ist's einerlei, was ich in der Welt gewesen bin, wenn ich nur christlich gelebt habe.«

Stilling mußte ihr mit Hand und Mund alles dieses angeloben. Nachdem er nun noch ein und anders mit ihr geredet hatte, nahm er schnell Abschied von ihr, das Herz brach ihm, denn er wußte, daß er sie in diesem Leben nicht wiedersehen würde; sie war am Rande des Todes; allein sie griff ihm die Hand, hielt ihn fest, und sagte: »Du eilst – Gott sei mit dir, mein Kind! vor dem Thron Gottes seh ich dich wieder!« Er drückte ihr die Hand und weinte. Sie merkte das: »Nein!« fuhr sie fort, »weine nicht über mich! mir geht's wohl, ich empfehl dich Gott von Herzen in seine väterliche Hände, der wolle dich segnen, und vor allem Bösen bewahren! Nun geh in Gottes Namen!« Stilling riß sich fort, lief aus dem Hause weg, und ist auch seitdem nicht wieder dahin gekommen. Einige Tage nachher starb Margarethe Stillings; sie liegt zu Florenburg, neben ihrem Manne, begraben.

Nun war's Stilling, als wenn ihm sein Vaterland zuwider wäre; er machte sich fort und eilte wieder in die Fremde, kam auch bei Herrn Spanier wieder an, nachdem er fünf Tage ausgeblieben war.


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