Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Wanderschaft / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Als Stilling nun einige Tage bei Meister Isaak gewesen war, so fing letzterer einsmals, über der Arbeit, mit ihm an, von seinen Kleidern zu sprechen; der andere Geselle und der Lehrbursche waren nicht gegenwärtig; er erkundigte sich genau nach allem, was er hatte. Als Isaak das alles hörte, stand er alsofort auf, und holte ihm schönes violettes Tuch zum Rock, einen schönen neuen Hut, schwarzes Tuch zur Weste, Zeug zum Unterwämschen, und zu Hosen, ein paar guter feiner Strümpfe, desgleichen mußte ihm der Schuhmacher Schuhe anmessen, und seine Frau machte ihm sechs neue Hemden; alles dieses war in vierzehn Tage fertig. Nun gab ihm sein Meister auch einen von seinen Rohrstäben in die Hand; und damit war Stilling schöner gekleidet, als er in seinem Leben gewesen war; dazu war auch alles nach der Mode, und nun durfte er sich sehen lassen.

Dieses war nun noch der letzte Feind, der aufgehoben werden mußte. Stilling konnte seinen innigen Dank gegen Gott und seinen Wohltäter nicht genug ausschütten; er weinte vor Freuden, und war völlig wohl und vergnügt. Aber gesegnet sei deine Asche – du Stillings-Freund! da du liegst und ruhst! Wenn einmal die Stimme über den ganzen flammenden Erdkreis erschallen wird: Ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich bekleidet! so wirst du auch dein Haupt emporheben, und dein verklärter Leib wird siebenmal heller glänzen, als die Sonne am Frühlingsmorgen! –

Stillings Neigung, höher in der Welt zu steigen, war nun für diese Zeit gleichsam aus dem Grunde und mit der Wurzel ausgerottet; und er war fest und unwiderruflich entschlossen, ein Schneider zu bleiben, bis er gewiß überzeugt sein würde, daß es der Wille Gottes sei, etwas anders anzufangen; mit einem Wort, er erneuerte den Bund mit Gott feierlich, den er verwichenen Sommer, den Sonntag nachmittag, auf der Gassen zu Schauberg mit Gott geschlossen hatte. Sein Meister war auch so zufrieden mit ihm, daß er ihn nicht anders als seinen Bruder behandelte; die Meisterin aber liebte ihn über die Maßen, und so auch die Kinder, so daß er nun wieder recht in seinem Element lebte.

Seine Neigung zu den Wissenschaften blieb zwar noch immer, was sie war, doch ruhte sie unter der Aschen, sie war ihm jetzt nicht zur Leidenschaft, und er ließ sie ruhen.

Meister Isaak hatte eine große Bekanntschaft auf fünf Stunden umher mit frommen und erweckten Leuten. Der Sonntag war zu Besuchen bestimmt, daher ging er mit Stilling des Sonntags morgens früh nach dem Ort hin, den sie sich vorgenommen hatten, und blieben den Tag über bei den Freunden, des Abends gingen sie wieder nach Haus; oder wenn sie weit gehen wollten, so gingen sie des Sonntags nachmittags zusammen fort, und kamen des Montags vormittags wieder. Das war nun Stilling eine Seelenfreude, so viele rechtschaffene Menschen kennenzulernen; besonders gefiel es ihm, daß alle diese Leute nichts Enthusiastisches hatten, sondern bloß Liebe gegen Gott und Menschen auszuüben, im Leben und Wandel aber ihrem Haupte Christo nachzuahmen suchten. Dieses kam mit Stillings Religionssystem völlig überein, und daher verband er sich auch mit allen diesen Leuten zur Brüderschaft und aufrichtiger Liebe. Und wirklich, diese Verbindung hatte eine vortreffliche Wirkung auf ihn. Isaak ermahnte ihn immerfort zum Wachen und Beten, und erinnerte ihn allezeit brüderlich, wo er irgendwo in Worten nicht behutsam genug war. Diese Lebensart war ihm aus der Maßen nützlich, und bereitete ihn immer mehr und mehr zu dem, was Gott aus ihm machen wollte.

Mitten im Mai, ich glaube, daß es um Pfingsten war, beschloß Meister Isaak, im Märkischen, etwa sechs Stunden von Waldstätt, einige sehr fromme Freunde zu besuchen; diese wohnten in einem Städtchen, das ich hier Rothenbeck heißen will. Er nahm Stillingen mit; es war das schönste Wetter von der Welt, und der Weg dahin ging durch bezaubernde Gegenden, bald quer über eine Wiese, dann durch einen grünen Busch voller Nachtigallen, dann ein Feld hinauf voller Blumen, dann über einen buschichten Hügel, dann auf eine Heide, wo die Aussicht paradiesisch war, dann in einen großen Wald, dann längs einen plätschenden kühlen Bach, und immer so wechselsweise fort. Unsre beiden Pilger waren gesund und wohl, ohne Sorge und Bekümmernis, hatten Frieden von innen und außen, liebten sich wie Brüder, sahen und empfanden überall den guten und nahen Vater aller Dinge in der Natur, und hatten eine Menge guter Freunde in der Welt, und wenig oder gar keine Feinde. Sie gingen oder liefen vielmehr Hand an Hand ihren Weg fort, redeten von allerhand Sachen ganz vertraulich, oder sangen eine oder andere erbauliche Strophe, bis daß sie gegen Abend, ohne Müdigkeit und Beschwerde, zu Rothenbeck ankamen. Sie kehrten bei einem sehr lieben und wohlhabenden Freunde ein, dem sie also am wenigsten beschwerlich fielen. Dieser Freund schrieb sich Glöckner; er war ein kleiner Kaufmann, und handelte mit allerhand Waren. Dieser Mann und seine Frau hatten keine Kinder. Beide empfingen die Fremden mit herzlicher Liebe; sie kannten zwar Stillingen noch nicht, doch nahmen sie ihn sehr freundlich auf, als sie Isaak versicherte: daß er mit ihnen allen einer Meinung und eines Willens sei.

Des Abends über dem Essen erzählte Glöckner eine neue merkwürdige Geschichte von seinem Schwager Freymuth, die sich folgendergestalt verhielte. Die Frau Freymuth war Glöckners Frauen Schwester, und im Christentum mit derselben eines Sinnes, daher kamen beide Schwestern nebst andern Freunden des Sonntags nachmittags zusammen, sie wiederholten alsdann die Vormittagspredigt, lasen in der Bibel, und sangen geistliche Lieder; dieses konnte nun Freymuth ganz und gar nicht vertragen. Er war ein Erzfeind von solchen Sachen; hingegen ging er eben wohl fleißig in die Kirche, und zum Nachtmahl, aber das war auch alles; entsetzliches Fluchen, Saufen, Spielen, unzüchtige Reden und Schlägereien waren seine angenehmste Belustigungen, womit er die Zeit zubrachte, die ihm von seinen Geschäften übrigblieb. Wenn er nun des Abends nach Haus kam, und fand seine Frau in der Bibel, oder sonst einem erbaulichen Buche lesen, so fing er an, abscheulich zu fluchen: »Du feiner pietistischer T.... weist ja wohl, daß ich das Lesen nicht haben will«; dann griff er sie in den Haaren, schleppte sie auf der Erde herum, und schlug sie, bis das Blut aus Mund und Nasen heraussprang; sie aber sagte kein Wort, sondern, wenn er aufhörte, so faßte sie ihn um die Knie, und bat ihn mit tausend Tränen: er möchte sich doch bekehren, und sein Leben ändern; dann stieß er sie mit den Füßen von sich und sagte: »Kanaille! das will ich bleiben lassen, ich will kein Kopfhänger werden wie du.« Ebenso behandelte er sie auch, wenn er gewahr wurde, daß sie bei andern frommen Leuten in Gesellschaft gewesen war. So hatte er's getrieben so lange, als seine Frau anderes Sinnes gewesen war, als er.

Nun aber vor kurzen Tagen hatte sich Freymuth gänzlich geändert, und zwar auf folgende Weise:

Freymuth reiste nach Frankfurt zur Messe. Während dieser Zeit hatte seine Frau alle Freiheit, nach ihrem Sinn zu leben; sie ging nicht allein zu andern Freunden, sondern sie nötigte auch deren zuweilen eine ziemliche Anzahl in ihr Haus; dieses hatte sie auch letztverwichene Ostermesse getan. Einsmals, als ihrer viele in Freymuths Hause an einem Sonntag abend versammlet waren, und zusammen lasen, beteten und sangen, so gefiel es dem Pöbel, dieses nicht leiden zu wollen; sie kamen und schlugen erst alle Fenster ein, die sie nur erreichen konnten; und da die Haustür verschlossen war, so sprengten sie dieselbe mit einem starken Baum auf. Die Versammlung in der Stube geriet darüber in Angst und Schrecken, und ein jeder suchte sich so gut zu verbergen, als er konnte; nur allein Frau Freymuth blieb; und als sie hörte, daß die Haustür aufsprang, so trat sie heraus mit dem Licht in der Hand. Verschiedene Burschen waren schon hereingedrungen, denen sie im Vorhaus begegnete. Sie lächelte die Leute an, und sagte gutherzig: »Ihr Nachbarn! was wollt Ihr?« Sofort waren sie, als wenn sie geschlagen wären, sie sahen sich an, schämten sich, und gingen still wieder nach Haus. Den andern Morgen bestellte Frau Freymuth alsbald den Fenstermacher und Schreiner, um alles wieder in gehörigen Stand zu stellen; dieses geschah, und kaum war alles richtig, so kam ihr Mann von der Messe wieder.

Nun bemerkte er alsofort die neuen Fenster, er fragte deswegen seine Frau: wie das zuginge? Sie erzählte ihm die klare Wahrheit umständlich, und verhehlte ihm nichts, seufzte aber zugleich in ihrem Gemüt zu Gott um Beistand, denn sie glaubte nicht anders, als sie würde erschreckliche Schläge bekommen. Doch Freymuth dachte daran nicht, sondern er wurde rasend über die Freveltat des Pöbels. Seine Meinung war, sich grausam an diesen Spitzbuben, wie er sie nannte, zu rächen; deswegen befahl er seiner Frauen drohend, ihm die Täter zu sagen, denn sie hatte sie gesehen und gekannt.

»Ja«, sagte sie: »lieber Mann! die will ich dir sagen, aber ich weiß noch einen größern Sünder, als die alle zusammen; denn es war einer, der hat mich wegen eben der Ursache ganz abscheulich geschlagen.«

Freymuth verstund das nicht, wie sie es meinte; er fuhr auf, schlug auf seine Brust, und brüllte: »Den soll der T... holen, und dich dazu, wenn du mir ihn nicht augenblicklich sagst!« »Ja!« antwortete Frau Freymuth: »den will ich dir sagen, räche dich an ihm soviel du willst; der Mann, der das getan hat, bist du! und also schlimmer als die Leute, die nur bloß die Fenster eingeschlagen haben.« Freymuth verstummte, und war wie vom Donner gerührt, er schwieg eine Weile, endlich fing er an: »Gott im Himmel, Du hast recht! – Ich bin wohl ein rechter Bösewicht gewesen, will mich an Leuten rächen, die besser sind als ich! – Ja, Frau! ich bin der gottloseste Mensch auf Erden!« Er sprang auf, lief die Treppen hinauf auf sein Schlafzimmer, lag da drei Tage und drei Nächte platt auf der Erden, aß nichts, bloß daß er sich zuweilen etwas zu trinken geben ließ. Seine Frau leistete ihm soviel Gesellschaft, als sie konnte, und half ihm beten, damit er bei Gott durch den Erlöser Gnade erlangen möchte.

Am vierten Tage des Morgens stund er auf, war vergnügt, lobte Gott, und sagte: »Nun bin ich gewiß, daß mir meine schwere Sünden vergeben sind!« Von dem Augenblick an war er ganz umgekehrt; so demütig, als er vorhin stolz, so sanftmütig, als er vorher trotzig und zornig, und so von Herzen fromm, als er vorhin gottlos gewesen war.

Dieser Mann wär' ein Gegenstand für meinen Freund Lavater. Seine Gesichtsbildung ist die roheste und wildeste von der Welt; es dürfte nur eine Leidenschaft, zum Beispiel der Zorn, rege werden, die Lebensgeister brauchten nur jeden Muskel des Gesichts zu spannen, so würd' er rasend aussehen. Jetzt aber ist er einem Löwen ähnlich, der in ein Lamm verwandelt worden ist. Friede und Ruhe ist jedem Gesichtsmuskel eingedrückt, und das gibt ihm ein ebenso frommes Aussehen, als es vorhin wild war.

Nach dem Essen schickte Glöckner seine Magd an Freymuths Haus, und ließ da ansagen: daß Freunde bei ihm angekommen wären. Freymuth und seine Frau kamen alsbald, und bewillkommten Isaak und Stilling. Dieser letztere hatte den ganzen Abend seine Betrachtungen über die beiden Leute; bald mußte er des Löwen Sanftmut, bald des Lammes Heldenmut bewundern. Alle sechs waren sehr vergnügt zusammen, sie erbauten sich, so gut sie konnten, und gingen spät schlafen.

Unsre beiden Freunde blieben nun noch ein paar Tage zu Rothenbeck, besuchten und wurden besucht; auch gehörte der Schulmeister daselbst, der sich auch Stilling schrieb, und aus dem salenschen Land zu Haus war, mit unter die Gesellschaft der Frommen zu Rothenbeck; diesen besuchten sie auch. Er gewann besonders Stillingen lieb, vorab da er hörte, daß er auch lange Schulmeister gewesen war. Die beiden Stillinge machten einen Bund zusammen, daß einer dem andern so lange schreiben sollte als sie lebten, um die Freundschaft zu unterhalten.

Endlich reisten sie wieder von Rothenbeck nach Waldstätt zurück, und gaben sich an ihr Handwerk, wobei sie sich die Zeit mit allerhand angenehmen Gesprächen vertrieben.

Es wohnte aber eine Stunde von Waldstätt ein weidlicher Kaufmann, der sich Spanier schrieb. Dieser Mann hatte sieben Kinder, wovon das älteste eine Tochter von etwa sechszehen Jahren, das jüngste aber ein Mädchen von einem Jahr war. Unter diesen Kindern waren drei Söhne und vier Töchter. Er hatte eine sehr starke Eisenfabrik, die aus sieben Eisenhammern bestand, wovon vier bei seinem Hause, drei aber anderthalb Stunden von ihm ab, nicht weit von Herrn Hochbergs Haus lagen, wo Stilling gewesen war. Dabei besaß er ungemein viele liegende Güter, Häuser, Höfe, und was dazu gehörte, nebst vielem Gesinde, Knechte, Mägden und Fuhrknechten; denn er hatte verschiedene Pferde zu seinem eigenen Gebrauch.

Wenn nun Herr Spanier verschiedene Schneiderarbeit für sich und seine Leute zusammen verspart hatte; so ließ er Meister Isaak mit seinen Gesellen kommen, um einige Tage bei ihm zu nähen, und für ihn und seine Leute alle Kleider wieder in Ordnung zu bringen.

Nachdem nun Stilling zwölf Wochen bei Meister Isaak gewesen war, so traf es sich, daß sie auch bei Herrn Spanier arbeiten mußten. Sie gingen also des Morgens früh hin. Als sie zur Stubentür hereintreten, so saß Herr Spanier allein am Tisch, und trank den Coffee aus einem kleinen Kännchen, das für ihn allein gemacht war. Langsam drehte er sich um, sah Stillingen ins Gesicht, und sagte:

»Guten Morgen, Herr Präzeptor!«

Stilling ward blutrot, er wußte nicht, was er sagen sollte, doch erholte er sich geschwind, und sagte: »Ihr Diener, Herr Spanier!« Doch dieser schwieg nun wieder still, und trank seinen Coffee fort, Stilling aber gab sich auch an seine Arbeit.

Nach einigen Stunden spazierte Spanier auf und ab in der Stuben, und sagte kein Wort; endlich stund er vor Stillingen hin, sah ihm eine Weile zu, und sagte:

»Das geht Euch so gut vonstatten, Stilling! als wenn Ihr zum Schneider geboren wäret, aber das seid Ihr doch nicht.«

»Wieso?« fragte Stilling.

»Eben darum«, versetzte Spanier: »weil ich Euch zum Informator bei meine Kinder haben will.«

Meister Isaak sah Stilling an und lächelte.

»Nein, Herr Spanier!« erwiderte Stilling, »davon wird nichts; ich bin unwiderruflich entschlossen, nicht wieder zu informieren. Ich bin jetzt ruhig und wohl bei meinem Handwerk, und davon werd ich nicht wieder abgehen.«

Herr Spanier schüttelte den Kopf, lachte, und fuhr fort: »Das will ich Euch doch wohl anders lehren, ich hab so manchen Berg in der Welt eben und gleich gemacht, und sollte Euch nicht auf andere Sinne bringen, dessen würde ich mich vor mir selber schämen.«

Nun schwieg er den Tag davon still. Stilling aber bat seinen Meister: daß er ihn des Abends möchte nach Haus gehen lassen, um Herrn Spaniers Nachstellungen zu entgehen; allein Meister Isaak wollte das nicht geschehen lassen, deswegen waffnete sich Stilling aufs beste, um Herrn Spanier mit den wichtigsten Gründen widerstehen zu können.


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