Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Wanderschaft / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Alsofort schrieb Johann Stilling einen sehr freundschaftlichen und dankbaren Brief an Herrn Molitor, und empfahl ihm seinen Vetter aufs beste. Mit diesem Brief wanderte des andern Morgens Stilling nach dem Städtchen hin, wo Molitor wohnte. Als er dahin kam, fragte er nach diesem Herrn; man wies ihm ein kleines niedliches Häuschen. Stilling schellte, und eine betagte Frauensperson tat ihm die Tür auf, und fragte: wer er wäre? Er antwortete: »Ich heiße Stilling, und hab etwas mit dem Herrn Pastor zu sprechen.« Sie ging hinauf; nun kam der alte Greis selber, bewillkommte Stilling, und führte ihn hinauf in sein kleines Kabinettchen. Hier überreichte er seinen Brief. Nachdem Molitor denselben gelesen, so umarmte er Stillingen, und erkundigte sich nach seinen Umständen, und nach seinem Vorhaben. Er blieb diesen ganzen Tag bei ihm, besahe das niedliche Laboratorium, seine bequeme Augenapotheke, und seine kleine Bibliothek. »Dieses alles«, sagte Herr Molitor: »will ich Ihnen in meinem Testament vermachen, eh' ich sterbe.« So verbrachten sie diesen Tag recht vergnügt zusammen.

Des andern Morgens früh gab Molitor das Manuskript an Stillingen ab, doch mit dem Beding, daß er's abschreiben, und ihm das Original wieder zustellen sollte; dagegen gelobte Molitor mit einem teuren Eid, daß er's niemand weiter geben, sondern es so verbergen wollte, daß es niemalen jemand wieder finden könnte. Überdas hatte der ehrliche Greis noch verschiedene Bücher apart gestellt, die er Stilling mit nächstem zu schicken versprach; allein, dieser packte sie in seinen Reisesack, nahm sie auf seinen Buckel und trug sie fort. Molitor begleitete ihn bis vor das Tor, da sah er auf gen Himmel, faßte Stilling an der Hand, und sagte: »Der Herr! der Heilige! der Überallgegenwärtige! bewirke Sie durch Seinen heiligen Geist: zum besten Menschen, zum besten Christen, und zum besten Arzt!« Hierauf küßten sie sich, und schieden voneinander.

Stilling vergoß Tränen bei diesem Abschied, und dankte Gott für diesen vortrefflichen Freund. Er hatte zehn Stunden bis zu Herrn Spanier hin; diese machte er noch heute ab, und kam des Abends, schwer mit Büchern beladen, zu Hause an. Er erzählte seinem Patron den neuen Vorfall; dieser bewunderte mit ihm die sonderbare Führung und Leitung Gottes.

Nun gab sich Stilling ans Abschreiben. In vier Wochen hatte er dieses, bei seinen Geschäften, vollendet. Er packte also ein Pfund guten Tee, ein Pfund Zucker, und sonst noch ein und anderes in den Reisesack, desgleichen auch die beiden Manuskripte, und ging an einem frühen Morgen wieder fort, um seinen Freund Molitor zu besuchen, und ihm sein Manuskript wiederzubringen. Am Nachmittag kam er vor seiner Haustür an, und schellte; er wartete ein wenig, schellte wieder, aber es tat ihm niemand auf. Indessen stand eine Frau in einem Hause gegenüber an der Tür, die fragte: zu wem er wollte? Stilling antwortete: »Zu dem Herrn Pastor Molitor!« Die Frau sagte: »Der ist seit acht Tagen in der Ewigkeit!« – Stilling erschrak, daß er blaß wurde, er ging in ein Wirtshaus, wo er sich nach Molitors Todesumständen erkundigte, und wer sein Testament auszuführen hätte. Hier hörte er: daß er plötzlich am Schlag gestorben, und daß kein Testament vorhanden wäre. Stilling kehrte also mit seinem Reisesack wieder um, und ging noch vier Stunden zurück, wo er in einem Städtchen bei einem guten Freund übernachtete, so daß er frühzeitig des andern Tages wieder zu Haus war. Den ganzen Weg durch konnte er sich des Weinens nicht enthalten, ja er hätte gern auf Molitors Grab geweint, wenn der Zugang zu seiner Gruft nicht verschlossen gewesen wäre.

Sobald er zu Hause war, fing er an die molitorische Medikamente zu bereiten. Nun hatte Herr Spanier einen Knecht, dessen Knabe von zwölf Jahren seit langer Zeit sehr wehe Augen gehabt hatte; an diesem machte Stilling seinen ersten Versuch, und der geriet vortrefflich, so daß der Knabe in kurzer Zeit heil wurde; daher kam er bald in eine ordentliche Praxis, so daß er viel zu tun hatte, und gegen den Herbst schon hatte sich das Gerücht von seinen Kuren vier Stunden umher, bis nach Schönenthal, verbreitet.

Meister Isaak zu Waldstätt sah seines Freundes Gang und Schicksale mit an, und freute sich von Herzen über ihn, ja er schwamm im Vergnügen, wenn er sich vorstellte, wie er dermaleins den Doktor Stilling besuchen, und sich mit ihm ergötzen wollte. Allein, Gott machte einen Strich durch diese Rechnung, denn Meister Isaak wurde krank, Stilling besuchte ihn fleißig, und sah mit Schmerzen seinen nahen Tod. Den letzten Tag vor seinem Abschied saß Stilling am Bette seines Freundes; Isaak richtete sich auf, faßte ihn an der Hand, und sprach: »Freund Stilling! ich werde sterben, und eine Frau mit vier Kindern hinterlassen, für ihren Unterhalt sorge ich nicht, denn der Herr wird sie versorgen; aber ob sie in des Herrn Wegen wandeln werden, das weiß ich nicht, und darum trage ich Ihnen die Aufsicht über sie auf, stehen Sie ihnen mit Rat und Tat bei, der Herr wird's Ihnen vergelten.« Stilling versprach das von Herzen gerne, solange als seine Aufsicht möglich sein würde. Isaak fuhr fort: »Wenn Sie von Herrn Spanier wegziehen werden, so entlasse ich Sie Ihres Versprechens, – jetzt aber bitte ich Sie: denken Sie immer in Liebe an mich, und leben Sie so, daß wir im Himmel ewig vereinigt sein können.« Stilling vergoß Tränen, und sagte: »Bitten Sie für mich um Gnade und Kraft!« »Ja!« sagte Isaak. »das werd ich erst tun, wenn ich werde vollendet sein, jetzt hab ich mit mir selber genug zu schaffen.« Stilling vermutete sein Ende noch so gar nahe nicht, daher ging er von ihm weg, und versprach morgen wiederzukommen; allein diese Nacht starb er. Stilling ging bei seinem Leichenkondukt der vorderste, weil er keine Anverwandten hatte; er weinte über seinem Grabe, und betrauerte ihn als einen Bruder. Seine Frau starb nicht lange nach ihm, seine Kinder aber sind alle recht wohl versorgt.

Nachdem nun Stilling beinah sechs Jahr' bei Herrn Spanier in Kondition gewesen war, und dabei die Augenkuren fortsetzte, so trug es sich bisweilen zu, daß sein Herr mit ihm von einem bequemen Plan redete, nach welchem er sich mit seinem Studieren zu richten hätte. Herr Spanier schlug ihm vor: er sollte noch einige Jahre bei ihm bleiben, und so vor sich studieren, alsdann wolle er ihm ein paar hundert Reichstaler geben, damit könne er nach einer Universität reisen, sich examinieren und promovieren lassen, und nach einem Vierteljahr wiederkommen, und so bei Herrn Spanier ferner wohnen bleiben. Was er dann weiter mit ihm vorhatte, ist mir nicht bekannt worden.

Dieser Plan gefiel Stilling ganz und zumalen nicht. Sein Zweck war, die Medizin auf einer Universität aus dem Grunde zu studieren; er zweifelte auch nicht, der Gott, der ihn dazu berufen habe, der würde ihm auch Mittel und Wege an die Hand geben, daß er's ausführen könne. Hiermit war aber Spanier nicht zufrieden, und deswegen schwiegen sie beide endlich ganz still von der Sache.

Im Herbst des 1769sten Jahrs, als Stilling eben sein dreißigstes Jahr angetreten hatte, und sechs Jahr' bei Herrn Spanier gewesen war, bekam er von einem Kaufmann zu Rasenheim, eine Stunde diesseits Schönenthal, der sich Friedenberg schrieb, einen Brief, worinnen ihn dieser Mann ersuchte, sobald als möglich nach Rasenheim zu kommen, weil einer seiner Nachbarn einen Sohn habe, der seit einigen Jahren mit bösen Augen behaftet gewesen, und Gefahr laufe, blind zu werden. Herr Spanier trieb ihn an, alsofort zu gehen. Stilling tat das, und nach dreien Stunden eben Vormittag kam er bei Herrn Friedenberg zu Rasenheim an. Dieser Mann bewohnte ein schönes niedliches Haus, welches er vor ganz kurzer Zeit hatte bauen lassen. Die Gegend, wo er wohnte, war überaus angenehm. Sobald Stilling in das Haus trat, und überall Ordnung, Reinigkeit und Zierde ohne Pracht bemerkte, so freute er sich, und fühlte, daß er da würde wohnen können. Als er aber in die Stube trat, und Herrn Friedenberg selber nebst seiner Gattin und neun schönen wohlgewachsenen Kindern so der Reihe nach sahe, wie sie alle zusammen nett und zierlich, aber ohne Pracht gekleidet, da gingen und standen, wie alle Gesichter Wahrheit, Rechtschaffenheit und Heiterkeit um sich strahlten, so war er ganz entzückt, und nun wünschte er wirklich, ewig bei diesen Leuten zu wohnen. Da war kein Treiben, kein Ungestüm, sondern eitel wirksame Tätigkeit aus Harmonie und guten Willen.

Herr Friedenberg bot ihm freundlich die Hand, und nötigte ihn zum Mittagessen. Stilling nahm das Anerbieten mit Freuden an. Sowie er mit diesen Leuten redete, so entdeckte sich alsofort eine unaussprechliche Übereinstimmung der Geister; alle liebten Stilling in dem Augenblick, und er liebte sie auch alle über die Maßen. Sein ganzes Gespräch mit Herrn und Frau Friedenberg war bloß vom Christentum und der wahren Gottseligkeit, wovon diese Leute ganz und allein Werk machten.

Nach dem Essen ging Herr Friedenberg mit ihm zum Patienten, welchen er besorgte, und darauf wieder mit seinem Freund zurück um Kaffee zu trinken. Mit einem Wort, diese drei Gemüter, Herr und Frau Friedenberg und Stilling, schlossen sich fest zusammen, wurden ewige Freunde, ohne sich es sagen zu dürfen. Des Abends ging letzterer wieder zurück an seinen Ort, allein er fühlte etwas Leeres nach diesem Tage, er hatte seit der Zeit seiner Jugend nie wieder eine solche Haushaltung angetroffen, er hätte gern näher bei Herrn Friedenberg gewohnt, um mehr mit ihm und seinen Leuten umgehen zu können.

Indessen fing der Patient zu Rasenheim an, sich zu bessern, und es fanden sich mehrere in dasigen Gegenden, sogar in Schönenthal selbsten, die seiner Hülfe begehrten; daher beschloß er, mit Genehmhaltung des Herrn Spaniers, alle vierzehn Tage des Samstags nachmittags wegzugehen, um seine Patienten zu besuchen, und des Montags morgens wiederzukommen. Er richtete es deswegen so ein, daß er des Samstags abends bei Herrn Friedenberg ankam, des Sonntags morgens ging er dann umher, und bis nach Schönenthal, besuchte seine Kranken, und des Sonntags abends kam er wieder nach Rasenheim, von wannen er des Montags morgens wieder nach Hause ging. Bei diesen vielfältigen Besuchen wurde seine genaue Verbindung mit Herrn Friedenberg und seinem Hause immer stärker; er erlangte auch eine schöne Bekanntschaft in Schönenthal mit vielen frommen gottesfürchtigen Leuten, die ihn sonntags mittags wechselsweise zum Essen einluden, und sich mit ihm vom Christentum und andern guten Sachen unterredeten.

Dieses dauerte so fort bis in den Februar des folgenden 1770sten Jahrs, als Frau Friedenberg mit einem jungen Töchterlein entbunden wurde; diese frohe Neuigkeit machte Herr Friedenberg nicht nur seinem Freunde Stilling bekannt, sondern er ersuchte ihn sogar des folgenden Freitags als Gevatter bei seinem Kinde an der Taufe zu stehen. Dieses machte Stillingen ungemeine Freude. Herr Spanier indessen konnte nicht begreifen, wie ein Kaufmann dazu komme, den Bedienten eines andern Kaufmanns zu Gevattern zu bitten; allein Stillingen wunderte das nicht, denn Herr Friedenberg und er wußten von keinem Unterschied des Standes mehr, sie waren Brüder.

Zur bestimmten Zeit ging also Stilling hin, um der Taufe beizuwohnen. Nun hatte aber Herr Friedenberg eine Tochter, welche die älteste unter seinen Kindern, und damals im einundzwanzigsten Jahr war. Dieses Mädchen hatte von ihrer Jugend an die Stille und Eingezogenheit geliebt, und deswegen war sie blöde gegen alle fremde Leute, besonders wenn sie etwas vornehmer gekleidet waren als sie gewohnt war. Ob dieser Umstand zwar in Ansehung Stillings nicht im Wege stand, so vermied sie ihn doch soviel sie konnte, so daß er sie wenig zu sehen bekam. Ihre ganze Beschäftigung hatte von Jugend auf in anständigen Hausgeschäften, und dem nötigen Unterricht in der christlichen Religion nach dem evangelisch-lutherischen Bekenntnis, nebst Schreiben und Lesen bestanden; mit einem Worte, sie war ein niedliches artiges junges Mädchen, die eben nirgends in der Welt gewesen war, um nach der Mode leben zu können, deren gutes Herz aber, alle diese einem rechtschaffenen Mann unbedeutende Kleinigkeiten reichlich ersetzten.

Stilling hatte diese Jungfer vor den andern Kindern seines Freundes nicht vorzüglich bemerkt, er fand in sich keinen Trieb dazu, und er durfte auch an so etwas nicht denken, weil er noch ehe weit aussehende Dinge aus dem Wege zu räumen hatte.

Dieses liebenswürdige Mädchen hieß Christine. Sie war seit einiger Zeit schwerlich krank gewesen, und die Ärzte verzweifelten alle an ihrem Aufkommen. Wenn nun Stilling nach Rasenheim kam, so fragte er nach ihr, als nach der Tochter seines Freundes; da ihm aber niemand Anlaß gab, sie auf ihrem Zimmer zu besuchen, so dachte er auch nicht daran.


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