Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Wanderschaft / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Diesen Abend aber, nachdem die Kindtaufe geendigt war, stopfte Herr Friedenberg seine lange Pfeife, und fragte seinen neuen Gevattern: »Gefällt es Ihnen einmal mit mir meine kranke Tochter zu besuchen? mich verlangt, was Sie von ihr sagen werden, Sie haben doch schon mehr Erkenntnis von Krankheiten, als ein anderer.« Stilling war dazu willig; sie gingen zusammen hinauf ins Zimmer der Kranken. Sie lag matt und elend im Bett, doch hatte sie noch viele Munterkeit des Geistes. Sie richtete sich auf, gab Stilling die Hand und hieß ihn sitzen. Beide setzten sich also ans Bett ans Nachttischchen. Christine schämte sich jetzt vor Stillingen nicht, sondern sie redete mit ihm von allerhand das Christentum betreffenden Sachen. Sie wurde ganz aufgeräumt, und vertraulich. Nun hatte sie oft bedenkliche Zufälle, deswegen mußte jemand des Nachts bei ihr wachen; dieses geschah aber auch zum Teil deswegen, weil sie nicht viel schlafen konnte. Als nun beide eine Weile bei ihr gesessen hatten, und eben weggehen wollten, so ersuchte die kranke Jungfer ihren Vater: ob er wohl erlauben wollte, daß Stilling mit ihrem ältern Bruder diese Nacht bei ihr wachen möchte? Herr Friedenberg gab das sehr gerne zu, mit dem Beding aber, wenn es Stillingen nicht zuwider sei. Dieser leistete sowohl der Kranken als auch den Ihrigen diesen Freundschaftsdienst gerne. Er begab sich also mit dem ältesten Sohn des Abends um neun Uhr auf ihr Zimmer; beide setzten sich vor das Bett, ans Nachttischchen, und sprachen mit ihr von allerhand Sachen, um sich die Zeit zu vertreiben, zuweilen lasen sie auch etwas darzwischen.

Des Nachts um ein Uhr sagte die Kranke zu ihren beiden Wächtern: sie möchten ein wenig still sein, sie glaubte etwas schlafen zu können. Dieses geschah. Der junge Herr Friedenberg schlich indessen herab, um etwas Kaffee zu besorgen; er blieb aber ziemlich lang aus, und Stilling begann auf seinem Stuhl zu nicken. Nach etwa einer Stunde regte sich die Kranke wieder. Stilling schob die Gardine ein wenig voneinander, und fragte sie: ob sie geschlafen habe? Sie antwortete: »Ich hab so wie im Taumel gelegen. Hören Sie, Herr Stilling! ich hab einen sehr lebhaften Eindruck in mein Gemüt bekommen, von einer Sache, die ich aber nicht sagen darf, bis zu einer andern Zeit.« Bei diesen Worten wurde Stilling ganz starr, er fühlte von Scheitel bis unter die Fußsohle eine noch nie empfundene Erschütterung, und auf einmal fuhr ihm ein Strahl durch die Seele wie ein Blitz. Es wurde ihm klar in seinem Gemüt, was jetzt der Wille Gottes sei, und was die Worte der kranken Jungfer bedeuteten. Mit Tränen in den Augen stand er auf, bückte sich ins Bett, und sagte: »Ich weiß es, liebe Jungfer! was sie für einen Eindruck bekommen hat, und was der Wille Gottes ist.« Sie fuhr auf, reckte ihre rechte Hand heraus, und versetzte: »Wissen Sie's?« – Damit schlug Stilling seine rechte Hand in die ihrige, und sprach: »Gott im Himmel segne uns! Wir sind auf ewig verbunden!« – Sie antwortete: »Ja! wir sind's auf ewig!« –

Alsbald kam der Bruder, und brachte den Kaffee, setzte ihn hin, und alle drei tranken zusammen. Die Kranke war ganz ruhig wie vorher; sie war weder freudiger noch trauriger, so als wenn nichts Sonderliches vorgefallen wäre. Stilling aber war wie ein Trunkener, er wußte nicht, ob er gewacht oder geträumt hatte, er konnte sich über diesen unerhörten Vorfall weder besinnen noch nachdenken. Indessen fühlte er doch eine unbeschreiblich zärtliche Neigung in seiner Seelen gegen die teure Kranke, so daß er mit Freuden sein Leben für sie würde aufopfern können, wenn's nötig wäre, und diese reine Flamme war so, ohne angezündet zu werden, wie ein Feuer vom Himmel auf sein Herz gefallen; denn gewiß, seine Verlobte hatte jetzt weder Reize, noch Willen zu reizen, und er war in einer solchen Lage, wo ihm vor dem Gedanken zu heuraten schauderte. Doch wie gesagt: er war betäubt, und konnte über seinen Zustand nicht eher nachdenken, bis des andern Morgens, da er wieder zurück nach Hause reiste. Er nahm vorher zärtlich Abschied von seiner Geliebten, bei welcher Gelegenheit er seine Furcht äußerte, allein sie war ganz getrost bei der Sache, und versetzte: »Gott hat gewiß diese Sache angefangen, Er wird sie auch gewiß vollenden!«

Unterwegens fing nun Stilling an vernünftig über seinen Zustand nachzudenken, die ganze Sache kam ihm entsetzlich vor. Er war überzeugt, daß Herr Spanier, sobald er diesen Schritt erfahren würde, alsofort seinen Beistand von ihm abziehen, und ihn abdanken würde, folglich wär' er dann ohne Brot, und wieder in seine vorige Umstände versetzt. Überdas konnte er sich unmöglich vorstellen, daß Herr Friedenberg mit ihm zufrieden sein würde; denn in solchen Umständen sich mit seiner Tochter zu verloben, wo er für sich selber kein Brot verdienen, geschweige Frau und Kinder ernähren konnte, ja sogar ein großes Kapital nötig hatte, das war eigentlich ein schlechtes Freundschaftsstück, es konnte vielmehr als ein erschrecklicher Mißbrauch derselben angesehen werden. Diese Vorstellungen machten Stillingen herzlich angst, und er fürchtete in noch beschwerlichere Umstände zu geraten, als er jemalen erlebt hatte. Es war ihm als einem der auf einen hohen Felsen am Meer geklettert ist, und, ohne Gefahr zerschmettert zu werden, nicht herabkommen kann, er wagt's und springt ins Meer, ob er sich mit Schwimmen noch retten möchte.

Stilling wußte auch keinen andern Rat mehr; er warf sich mit seinem Mädchen in die Arme der väterlichen Fürsorge Gottes, und nun war er ruhig, er beschloß aber dennoch weder Herrn Spanier noch sonst jemand in der Welt etwas von diesem Vorfall zu sagen.

Herr Friedenberg hatte Stillingen die Erlaubnis gegeben, alle Medikamente in dasige Gegenden nun an ihn zu fernerer Besorgung zu übermachen; deswegen schickte er des folgenden Samstags, welches neun Tage nach seiner Verlobung war, ein Päckchen Medizin, an ihn ab, wobei er einen Brief fügte, der ganz aus seinem Herzen geflossen war, und welcher ziemlich entdeckte, was darinnen vorging: ja was noch mehr war, er schlug sogar ein versiegeltes Schreiben an seine Verlobte darin ein, und alles dieses tat er ohne Überlegung und Nachdenken, was vor Folgen daraus entstehen könnten; als aber das Paket fort war, da überdachte er erst, was daraus werden könnte, ihm schlug das Herz, und er wußte sich fast nicht zu lassen.

Niemals ist ein Weg für ihn sauerer gewesen, als wie er acht Tage hernach des Samstags abends seinen gewöhnlichen Gang nach Rasenheim ging. Je näher er dem Hause kam, je mehr klopfte sein Herz. Nun trat er zur Stubentür hinein. Christine hatte sich in etwas erholet; sie war daselbst mit ihren Eltern und einigen Kindern. Er ging, wie gewöhnlich, mit freudigem Blick auf Friedenberg an, gab ihm die Hand, und dieser empfing ihn mit gewöhnlicher Freundschaft, so auch die Frau Friedenberg, und endlich auch Christine. Stilling ging nun wieder heraus, und hinauf nach seinem Schlafzimmer, um ein und anderes, das er bei sich hatte, abzulegen. Ihm war schon ein Band vom Herzen, denn sein Freund hatte entweder nichts gemerkt, oder er war mit der ganzen Sache zufrieden. Er ging nun wieder herunter, und erwartete, was ferner vorging. Als er unten auf die Treppe kam, so winkte ihm Christine, die gegen der Wohnstube über, in einer Kammertür stand; er ging zu ihr, sie schloß die Kammertür hinter ihm zu, und beide setzten sich nebeneinander. Christine fing nun an:

»Ach! welchen Schrecken hast du mir mit deinen Briefen abgejagt! meine Eltern wissen alles. Hör, ich will dir alles sagen, wie es ergangen ist. Als die Briefe kamen, war ich in der Stube, mein Vater auch, meine Mutter aber war in der Kammer auf dem Bett. Mein Vater brach den Brief auf, er fand noch einen drinnen an mich, er reichte mir denselben mit den Worten: ›Da ist auch ein Brief an dich.‹ Ich wurde rot, nahm ihn an, und las ihn. Mein Vater las den seinigen auch, schüttelte zuweilen den Kopf, stand und bedachte sich, dann las er wieder. Endlich ging er in die Kammer zu meiner Mutter; ich konnte alles verstehn, was gesprochen wurde. Mein Vater las ihr den Brief vor. Als er ausgelesen hatte, so lachte meine Mutter, und sagte: ›Begreifst du auch wohl, was der Brief bedeutet? er hat Absichten auf unsre Tochter.‹ Mein Vater antwortete: ›Das ist nicht möglich, er ist ja nur eine Nacht mit meinem Sohn bei ihr gewesen, dazu ist sie krank, und doch kommt mir auch der Brief bedenklich vor.‹ ›Ja, ja!‹ sagte die Mutter: ›denke nicht anders, es ist so.‹ Nun ging mein Vater hinaus, und sagte nichts mehr. Alsbald rief mich meine Mutter: ›Komm, Christine! lege dich ein wenig bei mich, du bist gewiß des Sitzens müde.‹ Ich ging zu ihr, und legte mich neben sie. ›Hör!‹ fing sie an: ›hat Gevatter Stilling Neigung zu dir?‹ Ich sagte rund aus: ›Ja! das hat er.‹ Sie fuhr fort: ›Ihr seid doch noch nicht versprochen?‹ ›Ja, Mutter!‹ antwortete ich: ›Wir sind auch versprochen‹; und nun mußte ich weinen. ›Gott im Himmel!‹ sagte meine Mutter: ›Wie ist das zugegangen? ihr seid ja nicht zusammen gewesen!‹ Nun erzählte ich ihr umständlich alles, wie es ergangen ist, und sagte ihr die klare Wahrheit. Sie erstaunte darüber, und sagte: ›Du tust einen harten Angang. Stilling muß noch erst studieren, eh' ihr zusammen leben könnt, wie willst du das aushalten? Du bist ohnehin schwächlichen Gemüts und Leibes.‹ Ich antwortete: ›Ich will mich schicken so gut ich kann, der Herr wird mir beistehen! ich muß diesen heuraten; und wenn ihr Eltern mir es verbietet, so will ich euch darinnen gehorchen, aber einen andern werd ich nie nehmen.‹ ›Das wird keine Not haben‹, versetzte meine Mutter. Sobald nun meine beide Eltern wieder allein in der Kammer, und ich in der Stube war, so erzählte sie meinem Vater alles, ebenso wie ich's ihr erzählt hatte. Er schwieg lange, endlich fing er an: ›Das ist mir eine unbeschreibliche Sache, ich kann nichts dazu sagen.‹ So steht die Sache noch, mein Vater hat mir kein Wort gesagt, weder gutes noch böses. Nun ist es aber unsre Pflicht, daß wir noch diesen Abend unsre Eltern fragen, und ihre völlige Einwilligung erhalten. Soeben wie du die Treppe heraufgingst, sagte mein Vater zu mir: ›Geh mit Stilling in die andre Stube allein, du sollst wohl mit ihm zu reden haben.‹«

Stillingen hüpfte das Herz vor Freuden. Er fühlte nun gar wohl, daß seine Sachen einen erwünschten Ausschlag nehmen würden. Er unterredete sich noch ein Stündchen mit seiner Geliebten; sie verbanden sich noch einmal, mit ineinandergeschlossenen Armen, zu einer ewigen Treue, und zu einem rechtschaffenen Wandel vor Gott und Menschen.

Des Abends nach dem Essen, als alles im Hause schlafen war, saßen nur noch Herr und Frau Friedenberg nebst Christinen und Stillingen in der Stuben. Letzterer fing nun an, und erzählte getreu den ganzen Vorfall mit den kleinsten Umständen, und schloß mit diesen Worten: »Nun frag ich Sie aufrichtig: Ob Sie mich von Herzen gern unter die Zahl ihrer Kinder aufnehmen wollen? ich werde alle kindliche Pflichten durch Gottes Gnade treulich erfüllen, und ich protestiere feierlich gegen alle Hülfe und Beistand zu meinem Studieren. Ich begehre nur bloß Ihre Jungfer Tochter: ja ich nehme Gott zum Zeugen, daß mir der Gedanke der fürchterlichste ist, den ich haben kann, wenn ich mir vorstelle, daß Sie wohl denken könnten: ich hätte bei dieser Verbindung eine unedle Absicht gehabt.«

Herr Friedenberg seufzte tief, und ein paar Tränen liefen seine Wangen herunter. »Ja«, sagte er: »Herr Gevatter! ich bin damit zufrieden, und nehme Sie willig zu meinem Sohn an; denn ich sehe, daß Gottes Finger in dieser Sache wirkt. Ich kann nichts dawider einwenden; überdem kenne ich Sie, und weiß wohl, daß Sie zu ehrlich sind, um solche unchristliche Absichten zu haben; das muß ich aber noch hinzufügen, daß ich auch gar nicht imstande dazu bin, Sie studieren zu lassen.« Nun wendete er sich zu Christinen, und sagte: »Getraust du dich aber auch, die lange Abwesenheit deines Geliebten zu ertragen?« Sie antwortete: »Ja, Gott wird mir Kraft dazu geben!«

Nun stand Herr Friedenberg auf, umarmte Stillingen, küßte ihn und weinte an seinem Halse: nach ihm tat Frau Friedenberg desgleichen. Die Empfindung läßt sich nicht aussprechen, die Stilling dabei fühlte; es war ihm als wenn er in ein Paradies versetzt würde. Wo das Geld zu seinem Studieren herkommen sollte, darum bekümmerte er sich gar nicht. Die Worte: ›Der Herr wird's versehen!‹ waren so tief in seine Seele gegraben, daß er nicht sorgen konnte.

Nun ermahnte ihn Herr Friedenberg, daß er noch dieses Jahr bei Herrn Spanier aushalten, alsdann sich aber folgenden Herbst nach Universitäten begeben möchte. Stillingen war das recht nach seinem Sinn, und ohnehin sein Wille. Endlich beschlossen sie alle zusammen, diese ganze Sache geheimzuhalten, um den schiefen Urteilen der Menschen vorzubeugen, und dann durch eifriges Gebet von allen Seiten den Segen von Gott zu diesem wichtigen Vorhaben zu erbitten.


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