Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Wanderschaft / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Des andern Tages traf sich's wieder, daß Herr Spanier in der Stuben auf und ab ging; er fing gegen Stilling an:

»Hört, Stilling! wenn ich mir ein schönes Kleid machen lasse, und hänge es dann an den Nagel, ohne es jemals anzuziehen, bin ich dann nicht ein Narr?«

»Ja!« versetzte Stilling: »erstens, wenn Sie's notwendig haben; und zweitens, wenn's wohl getroffen ist. Wie wenn sie sich aber einmal ein hübsches Kleid machen ließen, ohne daß Sie's notwendig hätten, oder Sie zögen's an, und es drückte Sie aller Orten, was wollten Sie dann machen?«

»Das will ich Euch sagen«, versetzte Spanier: »so gäb ich's einem andern; dem's recht wäre.«

»Aber«, erwiderte Stilling: »wenn Sie's nun sieben hintereinander gegeben hätten, und ein jeder gäb's Ihnen wieder, und sagte: ›Es paßt mir nicht‹, was würden Sie dann anfangen?«

Spanier antwortete: »So wär' ich doch ein Narr, wenn ich's müßig da hangen und die Motten fressen ließe; hör! ich gäb's dem achten, und sagte: ›Nun ändert dran, bis es Euch recht ist.‹ Wenn aber nun der achte sich vollends dazu verstünde, sich in das Kleid zu schicken, und nicht mehr von ihm zu fordern, als wozu es gemacht ist, so würd' ich ja sündigen, wenn ich's ihm nicht gäbe!«

»Da haben Sie recht«, versetzte Stilling: »allein dem allem ungeachtet bitte ich Sie um Gottes willen, Herr Spanier! lassen Sie mich am Handwerk!«

»Nein!« antwortete er: »das tu ich nicht, Ihr sollt und müßt mein Hausinformator werden, und zwar unter folgenden Bedingungen: Ihr könnt nicht französisch, es ist aber bei mir um vieler Ursachen willen nötig, daß Ihr's versteht, derowegen wählt Euch einen Sprachmeister wo Ihr wollt, zieht zu ihm hin, und lernt diese Sprache, ich bezahle alles gerne was es kosten wird; ferner geh ich Euch demungeachtet volle Freiheit, wieder von mir zu Meister Isaak zu ziehen, sobald es Euch bei mir leid sein wird. Und endlich sollt Ihr alles haben an Kleidern und Zubehör, was Ihr bedürft, und das so lange als Ihr bei mir sein werdet. Nun hab ich aber auch Recht, dieses dagegen zu fordern: daß Ihr in keine andere Kondition treten wollt, solange ich Euch nötig habe, es sei denn daß Ihr Euch auf Lebenslang versorgen könntet.«

Meister Isaak wurde durch diesen Vorschlag gerührt. »Nun!« sagte er gegen Stilling: »jetzt begeht ihr eine Sünde, wenn Ihr nicht einwilligt. Das kommt von Gott, und alle Eure vorige Bedienungen kamen von Euch selber.«

Stilling untersuchte sich genau, er fand gar keine Leidenschaft oder Trieb nach Ehre bei sich, sondern er fühlte im Gegenteil einen Wink in seinem Gewissen, daß diese Kondition ihm von Gott angewiesen werde.

Nach einer kurzen Pause fing er an: »Ja, Herr Spanier! noch einmal will ich's wagen, aber ich tu es mit Furcht und Zittern.«

Spanier stund auf, gab ihm die Hand, und sagte: »Gott sei Dank! nun hab ich auch diesen Hügel wieder eben gemacht; aber nun müßt Ihr auch alsofort zum Sprachmeister, lieber morgen als übermorgen.«

Stillingen war dieses so ganz recht, und selbst Meister Isaak sagte: »Übermorgen ist's Sonntag, dann könnt Ihr in Gottes Namen reisen.« Dieses wurde also beschlossen.

Ich muß gestehen: daß da nun Stilling wieder ein anderer Mensch war, so vergnügt er sich auch eingebildet hatte zu sein, so hatte er doch immer eine ungestimmte Saite, die er nie ohne eine Art von Mißvergnügen berühren durfte. Sobald ihn einfiel, was er in der Mathematik und andern Wissenschaften getan und gelesen hatte, so ging ihm ein Stich durchs Herz, allein er schlug sich's wieder aus dem Sinn; daher wurde ihm jetzt ganz anders als er fühlte, daß er aufs neue recht in sein Element kommen würde.

Isaak gönnte ihm zwar sein Glück, allein es tat ihm doch schmerzlich leid, daß er ihn schon missen sollte, und Stillingen schmerzte es in seiner Seelen, daß er von dem rechtschaffensten Mann in der Welt, und seinem besten Freunde, den er je gehabt hatte, Abschied nehmen sollte, eh' er ihm seine Kleider abverdient hatte; er redete deswegen mit Herrn Spanier ingeheim, und erzählte ihm, was Meister Isaak an ihm getan habe. Spaniern drangen die Tränen in die Augen, und er sagte: »Der vortreffliche Mensch! das soll er mir entgelten, nie soll er Mangel haben.« Nun gab er ihm einige Louisdor mit dem Bedeuten: Isaak davon zu bezahlen, und mit dem übrigen hauszuhalten; wenn's all wäre, sollte er mehr haben, nur daß er alles hübsch berechnete, wozu es verwendet worden.

Stilling freuete sich aus der Maßen: so einen Mann hatte er noch nicht angetroffen. Er bezahlte also Meister Isaak mit dem Gelde, und nun gestand ihm dieser: daß er würklich alle Kleider für ihn geborgt hätte. Das ging Stilling durchs Herz, er konnte sich des Weinens nicht enthalten, und dachte bei sich selbst: Wenn jemals ein Mann ein marmornes Monument verdient hat, so ist's dieser; nicht, daß er ganze Völker glücklich gemacht hat, sondern darum, daß er's würde getan haben, wenn er gekonnt hätte.

Nochmals! – Gesegnet sei deine Asche, mein Freund! auserkoren unter Tausenden, – da du liegst und schläfst; diese heilige Tränen auf dein Grab – du wahrer Nachfolger Christi!!! –

Des Sonntags nahm also Stilling Abschied von seinen Freunden zu Waldstätt, und reiste über Rosenheim nach Schönenthal, um einen guten Sprachmeister zu suchen. Als er nah bei letztere Stadt kam, so erinnerte er sich: daß er vor einem Jahr und etlichen Wochen diesen Weg zuerst gereist hatte; er überdachte alle seine Schicksale in dieser kurzen Zeit, und nun wieder seinen Zustand, er fiel nieder auf seine Knie, und dankte Gott herzlich für seine strenge aber heilige und gute Führung, bat aber auch zugleich, nunmehr, auch seine Gnadensonne über ihn scheinen zu lassen. Als er auf die Höhe kam, wo er ganz Schönenthal, und das herrliche Tal hinauf übersehen konnte, so wurde er begeistert, setzte sich hin unter das Gesträuche, zog seine Schreibtafel heraus und schrieb:

Ich fühl ein sanftes Liebewallen,
    Es säuselt kühlend um ihm her.
Ich fühl des Vaters Wohlgefallen,
    Der reinen Wonne Wiederkehr.
Die Wolken ziehen sanft herüber,
Tief unten braun, licht oben drüber.

Des kühlen Bachs entferntes Rauschen
    Schwimmt wie auf sanften Flügeln her.
Und wie des Frühlings Sänger lauschen,
    So horcht mein Ohr; von ungefähr
Ertönt der Vögel süßes Zirbeln
Und mischt sich in der Bäche Wirbeln.

Jetzt heb ich froh die Augenlider
    Zu allen hohen Bergen auf,
Und schlag sie wieder freudig nieder,
    Vollführe munter meinen Lauf.
Nun kann ich mit vergnügten Blicken
Den Geist der Qual zur Höllen schicken.

Noch einmal schau ich kühn zurücke
    Ins Schattental der Schwermut hin,
Und sehe mit gewohntem Blicke
    Den Ort, wo ich gewesen bin,
Ich hör ein wildes Chaos brausen,
Und Unglückswinde stürmend sausen.

Gleichwie ein blaß Gespenste wanket,
    In öden Zimmern hin und her,
Wie's da im blöden Nachtschein schwanket,
    Streicht längs die Wand und ächzet schwer.
Bemüht sich lang ein Wort zu sagen,
Und jemand seine Not zu klagen.

So wankt' ich auch im Höllenschlunde,
    Im schwärzsten Kummer auf und ab,
Man grub mir jede Marterstunde
    Ein neues grausenvolles Grab.
Tief unten hört' ich Drachen grollen,
Hoch droben schwarze Donner rollen.

Ich ging und schaute hin und wieder,
    Fand Todesengel um mich gehn,
Und Blitze zuckten auf mich nieder.
    Ich sah ein Pförtchen offen stehn,
Ich eilte durch, und fand mit Freuden
Das Ende meiner schweren Leiden.

Ich schlupfte hin im stillen Schatten,
    Es war noch dämmernd um mich her.
Ich fühlte meinen Fuß ermatten,
    Mir wurde jeder Tritt so schwer;
Schon neigt' ich mich zum Staub darnieder,
Und schloß die müden Augenlider.

Ich sank – doch wie in Freundes Armen
    Ein Todverwundter niedersinkt,
Wenn ihm das Auge voll Erbarmen
    Des Arztes frohe Heilung winkt.
Ich ward erquickt, gestärkt, geheilet,
Und neue Kraft mir mitgeteilet.

Freund Isaak war's, in seiner Halle
    Fand ich ein lautres Paradeis;
Da schmeckten wir die Freuden alle,
    Da stieg zum Höchsten Dank und Preis,
Wir sangen Ihm geweihte Lieder,
Er schaute gnädig auf uns nieder.

Stilling eilte nun den Berg hinunter nach Schönenthal hin; er vernahm aber, daß die Sprachmeister daselbsten sich für ihn nicht schicken würden, indem sie, wegen vieler Geschäfte hin und her in den Häusern, wenig Zeit auf ihn würden verwenden können. Da er nun eilig war und bald fertig sein wollte, so mußte er eine Gelegenheit suchen, wo er in kurzer Zeit viel lernen konnte; endlich wurd' er gewahr, daß sich zu Dornfeld, wo Herr Dahlheim Prediger war, ein sehr geschickter Sprachmeister aufhielte. Da nun dieser Ort nur drei Viertelstunden von Schönenthal ablag, so entschloß er sich desto lieber dahin zu gehen.

Des Nachmittags um drei Uhr kam er daselbst an. Er fragte alsbald nach dem Sprachmeister, ging zu ihm, und fand einen sehr seltsamen originellen Menschen, der sich Heesfeld schrieb. Er saß da in einem dunklen Stübchen, hatte einen schmutzigen Schlafrock von schlechtem Camelot an, mit einer Binde von demselben Zeug umgürtet; auf dem Kopf hatte er eine latzige Mütze; sein Gesicht war blaß, wie eines Menschen, der schon einige Tage im Grabe gelegen, und im Verhältnis gegen die Breite viel zu lang. Die Stirn war schön, aber unter pechschwarzen Augbraunen lagen ein paar schwarze schmale kleine Augen tief im Kopf, die Nase war schmal lang, der Mund ordentlich, aber das Kinn stand platt und scharf vorwärts, das er auch immer sehr weit vorwärts trug; sein rabenschwarzes Haar war rund abgeschnitten, und rund um gekräuselt; so war er schmal, lang und schön gewachsen.

Stilling erschrak einigermaßen vor diesem seltsamen Gesichte, ließ sich aber doch nichts merken, sondern grüßte ihn, und trug ihm sein Vorhaben vor. Herr Heesfeld nahm ihn freundlich auf, und sagte: »Ich werde an Ihnen tun, was ich vermag.« Stilling suchte sich nun ein Quartier, und fing sein Studium der französischen Sprache an, und zwar folgendergestalt. Des Vormittags von acht bis eilf Uhr wohnte er der ordentlichen Schule bei, des Nachmittags von zwo bis fünf auch, er saß aber mit Heesfeld an einem Tisch, sie sprachen immer, und hatten Zeitvertreib zusammen, wenn aber die Schule aus war, so gingen sie spazieren.

So sonderlich als Heesfeld gebildet war, so sonderlich war er auch in seinem Leben und Wandel. Er gehörte zur Klasse der Launer wie ehmals Glaser auch, denn er sagte niemand, was er dachte, kein Mensch wußte, wo er her war, und ebensowenig wußte jemand, ob er arm oder reich war. Vielleicht hat er niemand in seinem Leben zärtlicher geliebt als Stillingen, und doch ist dieser erst nach seinem Tode innegeworden, wo er her war, und daß er ein reicher Mann gewesen.

Seine sonderliche Denkungsart leuchtete daraus auch hervor, daß er immer seine Geschicklichkeit verbarg, und nur so viel davon blicken ließ, als just nötig war. Daß er vollkommen französisch verstand, äußerte sich alle Tage; daß er aber auch ein vortrefflicher Lateiner war, das zeigte sich erst, als Stilling zu ihm kam, mit welchem er die Information auf den Fuß der lateinischen Grammatik einrichtete, und täglich mit ihm lateinische Verse machte, die unvergleichlich schön waren. Zeichnen, Tanzen, Physik und Chymie verstand er in einem hohen Grad; und noch zween Tage vor Stillings Abreise traf es sich, daß letzterer in seiner Gesellschaft auf einem Klavier spielte. Heesfeld hörte zu. Als Stilling aufhörte, setzte er sich hin, und tat anfänglich, als wenn er in seinem Leben kein Klavier berührt hätte, aber in weniger als fünf Minuten fing er so trefflich melancholisch-fürchterlich an zu phantasieren, daß einem die Haare zu Berge standen; allmählich schwung er sich zum Melancholisch-Zärtlichen, von da ins Cholerisch-Feurige, darauf ins gelassene Ruhige, phantasierte eine phlegmatische Murqui, darauf in ein sanguinisch-zärtliches Adagio, dann ein Allegro, und nun schloß er mit einer lustigen Menuette aus D-Dur. Stilling hätte zerschmelzen mögen über seine empfindsame Art zu spielen, und bewunderte diesen Mann aus der Maßen.

Heesfeld war in seiner Jugend in Kriegsdienste gegangen; wegen seiner Geschicklichkeit wurde er von einem hohen Offizier in seine eigene Dienste genommen, der ihn in allem hatte unterrichten lassen, wozu er nur Lust gehabt hatte; mit diesem Herrn war er durch die Welt gereist, der nach zwanzig Jahren stirbt, und ihm ein schönes Stück Geld vermacht. Heesfeld war nun vierzig Jahr alt, reiste nach Haus, aber nicht zu seinen Eltern und Freunden, sondern er nahm einen fremden Geschlechtsnamen an, ging nach Dornfeld als französischer Sprachmeister, und obgleich seine Eltern und zween Brüder nur zwo Stunden von ihm ab wohnten, so wußten sie doch gar nichts von ihm, sondern sie glauben, er sei in der Fremde gestorben; auf seinem Todbette aber hat er sich seinen Brüdern zu erkennen gegeben, ihnen seine Umstände erzählt, und eine reichliche Erbschaft hinterlassen; und nach seinem System war es auch da noch früh genug.

Man nenne dieses nun Fehler oder Tugend, er hatte bei dem allem eine edle Seele; seine Menschenliebe war auf einen hohen Grad gestiegen, aber er handelte ingeheim; auch denen er Guts tat, die durften's nicht wissen. Nichts konnte ihn mehr ergötzen, als wenn er hörte, daß die Leute nicht wüßten, was sie aus ihm machen sollten.

Wenn er mit Stilling spazierenging, so sprachen sie von Künsten und Wissenschaften. Ihr Weg ging immer in die wildesten Einöden, dann stieg Heesfeld auf einen schwanken Baum, der sich gut biegen ließ, setzte sich oben in den Gipfel, hielt sich fest, und wiegte sich mit ihm auf die Erde, legte sich eine Weile in Äste und ruhete. Stilling machte ihm das dann nach, und lagen sie und plauderten, wenn sie dessen müde waren, so stunden sie auf, und dann richteten sich die Bäume wieder auf; das war Heesfelds Freude, dann sagte er wohl: »Schön sind unsre Betten, wenn wir aufstehen, so fahren sie gen Himmel!« – Zuweilen gab er auch wohl jemand ein Rätsel auf, und fragte: »Was sind das vor Betten, die in die Luft fliegen, wenn man aufsteht?«

Stilling lebte aus der Maßen vergnügt zu Dornfeld. Herr Spanier schickte ihm Geld genug, und er studierte recht fleißig, denn in neun Wochen war er fertig; es ist unglaublich, aber doch gewiß wahr; er verstand diese Sprache nach zween Monaten hinlänglich, er las die französische Zeitung teutsch weg, als wenn sie in letzterer Sprache gedruckt wäre, auch schrieb er schon damalen einen französischen Brief ohne Grammatikalfehler, und las richtig, nur fehlte ihm noch die Übung im Sprechen. Den ganzen Syntax hatte er zur Genüge innen; so daß er nun selbst getrost anfangen konnte, in dieser Sprache zu unterrichten.

Stilling beschloß also, nunmehr von Herrn Heesfeld Abschied zu nehmen, und zu seinem neuen Patron zu ziehen. Beide weinten, als sie voneinander gingen. Heesfeld gab ihm eine Stunde weit das Geleit. Als sie sich nun herzten und küßten, schloß ihn Herr Heesfeld in die Arme, und sagte: »Mein Freund! wenn Ihnen je etwas mangelt, so schreiben Sie mir, ich werde Ihnen tun, was ein Bruder dem andern tun soll; mein Wandel ist verborgen, aber ich wünsche zu wirken wie die Mutter Natur, man sieht ihre ersten Quellen nicht, aber man trinkt sich satt an ihren klaren Bächen.« Es fiel Stilling hart, von ihm wegzukommen; endlich rissen sie sich voneinander, gingen ihres Weges, und sahen nicht wieder hinter sich.


 << zurück weiter >>