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Sechzehntes Kapitel

Heilmittel zweiter Ordnung – Schlußbetrachtung

Zwei der auf Seite 34 aufgestellten Fragen haben wir beantwortet. Der Kulturfortschritt macht weder das Massenelend, noch die allgemeine Existenzunsicherheit, noch einen unlösbaren Wirrwarr sozialer und wirtschaftlicher Verwicklungen notwendig, und die vorgeschlagne Vergrößerung der Anbaufläche würde bei umsichtiger Leitung des großen Werkes den Erfolg haben, alle drei Übel gleichzeitig zu heben. Die dritte Frage lautete: was kann und soll der Staat thun, um die bis zur Anwendung dieses Heilmittels noch mögliche Ausbeutung der Schwachen durch die Starken zu verhindern? Wir müssen sie jetzt folgendermaßen erweitern: was können und sollen Volk und Staat thun, um vorläufig die sozialen Übel zu mildern und nach erfolgter Heilung ihre Wiederkehr zu verhüten? Wir haben der unendlichen Masse von Vorschlägen, die in dieser Hinsicht schon gemacht und in dicken Büchern begründet worden sind, kaum noch etwas hinzuzufügen, und beschränken uns deshalb auf eine kurze kritische Überschau.

Einen Vermögensausgleich durch eine progressive Einkommens- oder Erbschaftssteuer herbeizuführen, wird kaum möglich sein. Es ist richtig, unsre Millionäre leisten bei weitem nicht so viel fürs Gemeinwesen, wie die Aristokraten in Althellas und Altrom geleistet haben. Bei den Alten verstand es sich von selbst, daß nur der Begüterte die öffentlichen Lasten trug, die Proletarier aber lediglich mit ihrer proles zinsten, und was man den Reichen zumutete an Ausrüstung von Kriegsschiffen, Veranstaltung öffentlicher Spiele und dergleichen, kam oft einer teilweisen Vermögenskonfiskation gleich. Auf das gesetzlich geforderte beschränkten sich die Vornehmen aber nicht einmal, sondern sie warben um die Volksgunst mit Kornspenden, mit Errichtung öffentlicher Bauten, namentlich von Theatern und Bädern, Schenkung von Gärten und öffentlichen Wandelbahnen. Diese Art der Fürsorge fürs Volk mag dem modernen Menschen unzweckmäßig und dem Puritaner unsittlich erscheinen, aber vornehmen Gemeinsinn beweist sie doch. Und wenn das Vermögen, das der Reiche an arme Bürger verschenkte, zuweilen durch Plünderung erworben war, so war es doch Ausländern geraubt, nicht den Mitbürgern abgepreßt. Großartige Stiftungen aus reinem Wohlwollen, ohne politische Nebenabsichten, auch für Unterrichtsanstalten, waren zur Kaiserzeit häufig in den Provinzen des römischen Reichs. Mommsens römische Geschichte V, 327 ff. Folgende Sätze auf S. 331 hat er bei dieser Gelegenheit den heutigen Staatsmännern ins Stammbuch gestiftet: »Die politischen Einrichtungen, die gewerblichen und kommerziellen Anregungen, die literarische und künstlerische Initiative gehören in Kleinasien durchaus den alten Freistädten oder den Attaliden. Was die römische Regierung dem Lande gegeben hat, war wesentlich der dauernde Friedenszustand und die Duldung des Wohlstandes im Innern, die Abwesenheit derjenigen Regierungsweisheit, die jedes gesunde Paar Arme und jedes ersparte Geldstück betrachtet als ihren unmittelbaren Zwecken von Rechtswegen verfallen – negative Tugenden keineswegs hervorragender Persönlichkeiten, aber oftmals dem gemeinen Gedeihen ersprießlicher als die Großthaten der selbstgesetzten Vormünder der Menschheit.« (Soll wohl heißen: als die Großthaten solcher, die sich selbst zu Vormündern des Volks aufgeworfen haben). Mit dem Unterschiede der Stände ist auch das Standesbewußtsein und das noblesse oblige verschwunden; die reichen Leute unsrer Zeit sind keine Aristokraten mehr, sondern nur noch – nun, sagen wir Geschäftsleute; löbliche Ausnahmen bestätigen die Regel. Weder verlorne Gesinnungen lassen sich durch Gesetze erzwingen, noch diesen Gesinnungen entsprechende Leistungen. Höhere Besteuerung und schärfere Einschätzung würden nur die Zahl der Meineidigen vermehren; die progressive Erbschaftssteuer würde man durch Vermögensübergabe bei Lebzeiten umgehen. Zudem bringt das heutige kalkulatorische Verfahren, von dem im Altertum keine Rede war, eine unerträgliche Einmischung des Staates in die innersten Haushaltungsangelegenheiten mit sich; finden sich doch jetzt schon in den Fragebogen mancher Einschätzungsbehörden so unverschämte Fragen wie die, wie viel der Kaufmann auf Almosen, auf Ausfahrten u. s. w. ausgebe.« Dieses heutige inquisitorische Verfahren ist schon der Anfang des Kommunismus, der Konfiskation des Privateigentums; denn was ich nur unter Vormundschaft und Aufsicht des Staates verwenden kann, besitze ich nicht mehr als freies Eigentum. Die Feinfühligern unter den Steuerpflichtigen erbittert es dermaßen, daß ihnen schon hierdurch der Gegenwartsstaat verleidet und der Übergang zum Kommunismus leicht gemacht wird. Ich erinnre mich noch der Entrüstung, mit der einmal ein schlichter, sehr gutartiger Landmann, Ackerstellenbesitzer, zu mir kam und rief: »Nein, stellen Sie sich vor, kommt der Schulze zu mir und fragt mich, was mir meine Äpfelbäume bringen! Nun den habe ich aber hinausgebracht!« Um die Besteuerung sozial wirksam zu machen, dazu gehört eben jener verlorne Gemeingeist, von dem mir gerade ein hübsches Beispiel einfällt. Zur Zeit Barbarossas machte eine Lombardenstadt – ich habe vergessen, welche – Rebellion und jagte ihren neugewählten Gemeinderat fort, weil diese Herren eine zu kleine Umlage ausgeschrieben und dadurch den Patriotismus der Bürger beleidigt hatten. Heutzutage messen die Wohlhabenden ihren Patriotismus nicht an den Opfern, die sie selber bringen, sondern an den Lasten, die sie dem Volke auflegen, und an dem Profit, den sie selbst dabei machen.

Der Antisemitismus ist, abgesehen von den sehr schwach vertretenen ethischen Beweggründen einiger seiner Parteigänger, wirklich weiter nichts, als die Sozialdemokratie der dummen Kerle. Was dem kapitalistischen Ausbeuter das Handwerk legt, das trifft alle Leute dieser Sorte gleichmäßig, mögen sie beschnitten oder unbeschnitten sein. Das, was am Judentum bekämpft werden soll, kann bekämpft und vernichtet werden, ohne daß das Wort Jude auch nur ausgesprochen wird.

Wirksame Bekämpfung der Auswüchse des Kapitalismus und Vorbeugung gegen ihre Wiederkehr ist natürlich nicht möglich ohne Mitwirkung der Gesetzgebung und Rechtsprechung. Wir haben ja gesehen, und alle Welt beklagt sich auch darüber, daß namentlich unser Eigentumsrecht sehr weit entfernt davon ist, Recht zu sein. Aber man würde irre gehen, wenn man die Besserung auf dem Wege des Strafrechts anstrebte. Sogar konservative Organe, die seit zwanzig Jahren unaufhörlich über die eingerissene Unsittlichkeit jammern, Vermehrung und Verschärfung der Strafgesetze fordern, fangen an einzusehen, daß es auf diesem Wege nicht weiter gehen, daß man unmöglich auf jeden Spezialfall ein neues Strafgesetz bauen könne, daß es nicht wohlgethan sei, die Zahl der Strafgesetze ins Unendliche zu vermehren, weil damit weiter nichts erreicht werde, als die Vervielfältigung und Verfeinerung der Künste, mit denen das Strafgesetz umgangen zu werden pflegt; weil endlich dadurch die Schlechtigkeiten nicht verhindert, sondern nur in immer neue Formen getrieben werden. Sache der Zivilrechtspflege ist es, den Schlechtigkeiten ihren Nährboden zu entziehen. Eine Gemeinde schuldenfreier, und durch eine zweckmäßig eingerichtete Kreditgenossenschaft für vorübergehende Geldverlegenheiten gerüsteter Bauern ist nicht bloß besser als alle Vorschußvereine, sondern auch, wie schon einmal bemerkt würde, als alle Wuchergesetze. Wo Unwissenheit, Liederlichkeit oder Elend oder alle drei herrschen, da sind die Ausbeuter da, und kein Strafrichter kann sie vernichten; jedem abgeschlagnen Kopfe dieser Hydra wachsen zehn neue nach. An verständigen, wirtschaftlichen und wohlhabenden Menschen findet der Blutegel keine kranke Stelle, an der er anbeißen konnte. Immerhin, da wir nun einmal krank sind, kann dem Strafrichter die Mühe nicht erspart werden, den Blutsaugern zu Leibe zu rücken; nur darf man sich von seiner Wirksamkeit keinen durchschlagenden wirtschaftlichen Erfolg versprechen, aus dem oben angegebnen Grunde, und weil die schlimmsten Blutsauger viel zu mächtig sind, als daß sich der Staatsanwalt an sie heranwagen dürfte. Weit wirksamer könnte sich, auch schon vor der Radikalkur, das Zivilrecht erweisen. Tiefes braucht bloß allen Gläubigern, deren Forderungen auf unsittlichen oder sittlich bedenklichen Geschäften beruhen, seinen Beistand zu versagen. Man erkläre einfach alle Trink- und Spielschulden, unter letzteren auch die aus Differenzgeschäften, für unklagbar, ferner solche Wechselschulden, bei denen der Schuldner nachweisen kann oder beschwört, daß er nicht den vollen Betrag erhalten hat; ferner Forderungen aus einem Abzahlungsgeschäft, das die Verfallklausel enthielt. Die »Geschäftsleute« werden schreien, das Geschäft gehe zu Grunde, das Faustrecht kehre wieder, der Rechtsstaat breche zusammen, und sie werden mit dem Einsturz von Himmel und Erde drohen; allein es wird nichts zusammenbrechen als der Schwindel, der reelle Geschäftsverkehr aber nicht im mindesten geschädigt werden. Solche zivilrechtliche Behandlung der Sache wird zugleich den Vorteil haben, daß sie die Zahl der Rechtshändel vermindert, während neue Strafgesetze natürlich auch die Zahl der Prozesse vermehren. Die Klagbarkeit muß überhaupt auf solche Schuldforderungen beschränkt werden, die auf einem nach kaufmännischen Regeln abgeschlossnen Geschäft beruhen, und durch diese Regeln müssen die Grenzen, innerhalb deren rechtsverbindliche Schulden entstehen können, möglichst eng gezogen werden.

Dem Bauschwindel ließe sich auf folgende Weise steuern. Wenn die Bauhandwerker nicht, wie das vormals allgemein üblich war, allwöchentlich abgelohnt werden, sondern mit der Bezahlung warten müssen bis nach Vollendung des Baues, dann gehört ihnen der Bau, nicht dem Bauherrn, der bei dieser Art des Bauens gar nicht Bauherr, sondern bloß Besteller ist; geradeso wie der bestellte Rock, solange er nicht bezahlt ist, dem Schneider gehört, und der Mann, der unbezahlte Röcke abträgt, ein gemeiner Lump und Spitzbube ist, mag er nun in der Gesellschaft Herr Graf oder Studiosus Juris oder sonstwie titulirt werden. Eine Hypothek darf auf ein Haus nicht früher eingetragen werden, als bis ein dafür haftender Einzeleigentümer oder eine Genossenschaft vorhanden und der Bau vollendet ist. Will der Besteller das Haus als Eigentum haben, so muß er es von den Handwerkern, die es gebaut haben, kaufen, aber nicht mit Hypothekengeldern, sondern mit seinem eignen Gelde. Hat er keins, so bleibt das Haus den Handwerkern, die ad hoc eine Genossenschaft bilden und es vermieten, bis sie einen Käufer finden. Auf diese Weise würden die Handwerker zugleich das Genossenschaftswesen praktisch erlernen und einsehen lernen, wie prächtig es ohne kapitalistischen Unternehmer geht, besonders ohne einen solchen, der sich das Kapital erst pumpen muß.

Der Vetter des Bauschwindlers ist der Bodenwucherer. An diesem Punkte greifen die Bodenreformer die soziale Frage an. Mit ihren Auffassungen haben die meinen viel Verwandtschaft Wenigstens mit denen eines eifrigen Apostels ihrer Lehre, des Dr. Karl Schmidt, dessen beide Schriften: Brot, Leipzig, W. Friedrich, 1893, und Der kleine George (eine gemeinfaßliche Bearbeitung von des Amerikaners Henry George Werk »Fortschritt und Armut«), Dresden und Leipzig bei E. Pierson, viele vortreffliche Gedanken enthalten und vielfach an die meinigen anklingen., trotzdem vermag ich mich ihren Bestrebungen nicht anzuschließen. Sie fassen nur eine Seite des vielseitigen und verwickelten Problems ins Auge, und ihr Heilmittel würde, wenn es anwendbar wäre, zum Kommunismus führen. Zwar wollen sie nicht alle Arbeitsmittel, sondern nur Grund und Boden verstaatlichen, allein wenn das wichtigste und größte aller Vermögensstücks dem Privateigentümer entzogen ist, was bleibt ihm da groß noch übrig? Gerade der Grundbesitz ist der wertvollste, nicht allein dem Geldwerte nach, sondern auch in sittlicher Beziehung und für die Volkswirtschaft. Der freie Eigentümer eines Grundstücks verwandelt Sand in Gold, allerdings nur, wenn er ein Bauer alten Schlages, weder Großgrundbesitzer noch kapitalistischer Pächter ist. Aber ich sehe auch gar keine Möglichkeit, den Plan der Bodenreformer durchzuführen. Sie wollen »die Grundrente expropriiren,« und zwar auf dem Wege der Besteuerung. Was das ländliche Grundeigentum anlangt, so halte ich die Aussonderung der Rente aus dem Ertrage beim kleinern Bauerngut für ganz unmöglich. Übrigens behaupten viele Landwirte, daß sie überhaupt keine Grundrente mehr erzielen, andre müssen sie ihren Hypothekengläubigern abtreten; zudem ist der preußische Staat eben jetzt daran, auf die Grundsteuer, also auf den Anteil an der Rente, den er bisher bezogen hat, zu verzichten. Den städtischen Grundrentnern möchte ich von ganzem Herzen wünschen, daß ihnen die Rente vom Staate abgenommen würde. Sind sie doch die schlimmsten aller Blutsauger, indem sie dem produktiv arbeitenden seinen ehrlichen Arbeitsverdienst rauben und den Bissen Brot aus dem Munde wegreißen. Nur wenn der Handwerker, Fabrikant oder Kaufmann zugleich Hausbesitzer ist, bleibt ihm sein voller Verdienst. Sitzt er zur Miete, so wird jede Erhöhung seines Verdienstes durch eine Mietsteigerung aufgehoben. Bringt ein intelligenter oder vom Glück begünstigter Pächter seine Gastwirtschaft in die Höhe, so hat er den Vorteil nur, so lange der Pachtkontrakt dauert. Bei dessen Ablauf steigert ihn der Hausbesitzer um ungefähr soviel, als sich der Reinertrag unter seiner Leitung erhöht hat, und mag er unter dieser Bedingung nicht wieder pachten, so findet sich ein andrer. Wie lächerlich klingt unter solchen Verhältnissen der Vorwurf, den man den Sozialdemokraten macht, in ihrem Zukunftsstaate würde der Tüchtige von seiner Tüchtigkeit keinen Vorteil haben! Arbeiten doch gerade im Gegenwartsstaate alle Tüchtigen nur für Rentner, Spekulanten und andre Schmarotzer. Und um die Ungerechtigkeit zu krönen, muß der Gewerbtreibende außer der Einkommensteuer auch noch Gewerbesteuer zahlen, während der Rentner bloß Einkommensteuer zahlt; das heißt also, wie Karl Schmidt richtig sagt, jede produktive Thätigkeit wird vom Staate bestraft, das Schmarotzertum aufgemuntert. Die Unverschämtheit dieses Schmarotzertums geht so weit, daß der Berliner Magistrat in der Begründung seiner jüngsten Vorlage wegen Freilegung der Südseite des Schlosses zu schreiben wagt: »Es wird eine Leben und Verkehr und damit eine Steigerung der Grundstückswerte dortselbst befördernde Arterie in den ganzen Osten der Stadt geführt.« Die Herren rühmen sich also auch noch ihres Bodenwuchers, dieser schändlichsten aller Wucherarten! Alles, was Rogers den Londoner Landlords Schlimmes nachsagt, gilt auch von dem Berliner Grundbesitzerklüngel, der, wie es scheint, die dortige Stadtverwaltung beherrscht. Grund und Boden billig zu machen, das ist die allererste volkswirtschaftliche und soziale Pflicht des Staates und der Gemeindevorstände. Also, wie gesagt, wenn diesen Räubern ihre Beute abgenommen werden könnte, so wäre das ja sehr schön. Allein für eine besondre städtische Grundrentensteuer wird sich in keinem deutschen Landtage eine Mehrheit finden, und würde den Grundbesitzern wirklich eine auferlegt, so wäre man noch gar nicht sicher, ob sie sie nicht auf die Mieter abwälzen würden.

Erinnern wir uns der oben ausgesprochnen Thatsache, daß, wo Not herrscht, der Schmarotzer, der sie sich zu nutze macht, nicht abzuschütteln ist. Im vorliegenden Falle handelt es sich um Wohnungsnot und Bodenmangel. Beiden ist nur durch Zerstreuung der in den Großstädten und Industriebezirken zusammengedrängten Volksmassen über das Land abzuhelfen, und darum bleibt, wie schon im elften und im dreizehnten Kapitel bemerkt wurde, die innere Kolonisation das einzige dem Staate zur Verfügung stehende Mittel, das auch schon vor der radikalen Heilung wirksame Hilfe verspricht. Wie groß der Landhunger ist, beweisen die zahlreichen Anträge an die preußische Generalkommission. Nur sind, wie ebenfalls schon hervorgehoben worden ist, die diesen zur Verfügung stehenden Rittergüter viel zu teuer. Der Preis der Rittergüter würde bedeutend sinken, wenn der Staat plötzlich alle Agrarzölle und agrarischen Steuervergünstigungen aufhöbe, und wenn infolgedessen ein paar tausend Rittergüter subhastirt werden müßten. Selbstverständlich dürfte nicht der Bodenspekulant, sondern müßte die Rentenkammer zwischen den Falliten und die Käufer treten, und die Anlage der neuen Bauerngüter so umsichtig betrieben werden, wie es jetzt von der Ansiedlungskommission in Posen und Westpreußen geschieht. Die politischen Bedenken gegen eine solche Umwälzung sind im vierzehnten Kapitel zurückgewiesen worden, und die auf Seite 253 erwähnten schwinden bei der Aussicht auf die Radikalkur. Daß der Getreidebau unter der Konkurrenz des Auslandes leiden würde, ist nicht zu befürchten. Nicht am Freihandel geht die englische Landwirtschaft zu Grunde, sondern daran, daß man den natürlichen Träger der Landwirtschaft, den Bauer, der das Getreide zunächst als Nahrungsmittel für sich und seine Leute baut, vernichtet und nur noch den Landlord und den Großpächter übrig gelassen hat, zwei Menschenklassen, die das Getreide nicht als Nahrungsmittel, sondern als Handelsware bauen oder bauen lassen. Oder soll uns das Mitleid mit den Großgrundbesitzern abhalten? Dieser Tage erzählte mir eine arme Frau, wie sie einem Wanderburschen ein paar alte Stiefel geschenkt und ihm warmes Wasser gegeben habe, seine seit Wochen täglich im Straßenkot gebadeten Füße zu waschen, und wie er ihr unter Thränen gedankt habe, daß er sich wieder einmal trockner und reiner Füße erfreue. Ich sehe schlechterdings nicht ein, wie ich dazu kommen sollte, mit einem solchen Wanderburschen weniger Mitleid zu empfinden als mit einem Rittergutsbesitzer, der, von 20 000 Thalern Einkommen auf 2000 Thaler heruntergebracht, im Vergleich zu jenem immer noch wie im Himmel leben kann, wenn er vernünftig ist. Und von den 50 Millionen Deutschen denken und fühlen mindestens 40 Millionen genau so wie ich; der Christ ist sogar verpflichtet, so und nicht anders zu denken und zu fühlen. Werden solchergestalt vielleicht 300 000 Familien, etwa anderthalb Millionen Köpfe, mit Grundbesitz im dünn bevölkerten Osten der Monarchie versorgt, und ziehen sie ebenso viel Handwerker nach sich, so nimmt der Zug nach den Großstädten ab, und es fällt auch dort der Grundstückswert – freilich noch lange nicht genug.

Den berechtigten Kern der Bodenreformbewegung bildet einerseits die gerechte Entrüstung über den Grundstückswucher und die auch von mir vertretne Ansicht, daß die Grundrente die eigentliche Wurzel aller sozialen Übel sei, andrerseits der Protest dagegen, daß unsre heutige, auf der römischen fußende Rechtsanschauung den Boden für eine Handelsware ansteht, die sich von andern Waren höchstens durch ihre Unbeweglichkeit unterscheide. Während ich an dem Privateigentum auch in Beziehung auf Grund und Boden festhalte, räume ich doch den Bodenreformern soviel ein, daß unbeschränktes Privateigentum an Grund und Boden nicht zugelassen werden darf, vielmehr das Obereigentum der Gesamtheit gewahrt bleiben muß. Daher darf es dem Volke niemals an Domänen und Gemeindeland fehlen zur Versorgung des Nachwuchses, darf dem einzelnen Besitzer nicht gestattet werden, Forsten niederzuschlagen und sandigen Kiefernboden der einträglichen Fuselproduktion wegen in Kartoffelland zu verwandeln, oder um irgend einer einträglichen Industrie willen den Körnerbau einzuschränken, kleine Besitzer auszukaufen, kleine Pächter oder Käthner in Proletarier zu verwandeln. Kurz, der Betrieb der Landwirtschaft, der Besitzwechsel von Grund und Boden muß der Oberaufsicht des Staates und der Gemeinden unterworfen werden.

Der Arbeiterschutz muß wenigstens soweit ausgedehnt werden, daß die Arbeiterfrauen wieder Gattinnen, Mütter und Hausfrauen werden können Die Gewerbenovelle legt den Fabrikverwaltungen die Verpflichtung auf, Arbeiterinnen über sechzehn Jahre, die ein Hauswesen zu besorgen haben, auf ihren Antrag eine halbe Stunde vor bei Mittagspause zu entlassen, damit sie das Mittagessen zurecht machen können. Wie der Bericht des badischen Fabrikinspektors für 1892 erzählt, hat diese Bestimmung in seinen! Aufsichtsbezirk keinerlei Wirkung geübt. Wo das frühere Fortgehen der Arbeiterinnen stört, dürfen diese, wenn sie sich nicht die Entlassung zuziehen wollen, »gar nicht wagen, den genannten Antrag zu stellen,« Sollte es anderwärts, namentlich in Sachsen und Preußen, anders sein?, und daß die Maschinenindustrie (wozu heute auch die Landwirtschaft auf den großen Gütern gehört) aufhört, ein Schlachtfeld zu sein, auf dem alljährlich einige tausend Menschen zu Krüppeln gemacht werden. Wenn dadurch die Produktion bis zur Vernichtung einiger Exportindustrien verteuert wird, und wenn andrerseits einige hunderttausend von den zu teuer gewordnen Arbeitern durch Maschinen ersetzt und aufs Pflaster geworfen werden, so würde darin ein starker Antrieb liegen, die Radikalkur möglichst zu beschleunigen.

Der Selbsthilfe der Arbeiter muß völlig freier Spielraum gelassen werden. Wenn das Schiff ein Leck hat, ist jede Hand an den Pumpen, und wenn dem Hause Einsturz droht, jeder gute Rat willkommen. Nur die Entfesselung und ungehinderte Entfaltung aller Volkskräfte kann uns aus dem Sumpfe heraus und vorwärts bringen. Wer sich selbst, wer einem Kameraden hilft, hilft damit zugleich dem ganzen Volke. Nichts verkehrter, als denen, die ihren Kopf anstrengen, Maul und Arme rühren, einen Maulkorb und Handschellen anlegen! Hätten sich alle Arten von Körperschaften und Genossenschaften zur Selbsthilfe frei entfalten können, so brauchten mir die kostspielige und gefährliche Zwangsversicherung nicht, und die Handwerker hätten sich nicht in die Einbildung verrannt, der Staat müsse ihnen mit Zwangsinnungen helfen. Jeder gelungne Streik, der die Arbeitslöhne dauernd erhöht, dadurch den Massenkonsum vermehrt und den obern Hunderttausend die Mittel für Luxus- und Phantasieausgaben kürzt, führt jenen gediegnen großen Gewerben, die die Grundlage von Staat und Gesellschaft bilden, Ströme von Lebensblut zu.

Auf die religiös-sittliche Erneuerung des Volks lege ich nicht geringeres Gewicht als die konservativen, mittelparteilichen und ultramontanen Sozialpolitiker, nur verstehe ich sie ein wenig anders, als unsre modernen Moralprediger. Diese vermeinen das Volk sittlich zu erneuern, wenn sie dem gemeinen Manne jeden Spaß verderben und ihn zum unbedingten, willen- und widerstandslosen Gehorsam gegen den Polizisten, den Unteroffizier, den Brotherrn, den Geistlichen drillen. Mögen sie eine so strenge Ordnung und Zucht Ein Lieblingswort unsrer Frommen, wie denn das Zuchthaus ein Lieblingsinstitut Unsrer »Staatserhaltenden« ist. Nicht minder angesehen und beliebt ist, namentlich bei den »Liberalen,« daß Wort Zwang: Militärzwang, Schulzwang, Zwangserziehung, Sprachenzwang, Zwangsversicherung, Kassenzwang, Markenzwang, Meldezwang u. s. w. Damit hätten wir so ungefähr das Wesen des heutigen Liberalismus. Großen Kummer verursacht den Herren die » Zuchtlosigkeit« des Volks und namentlich der Arbeiterjugend. Um der letzten einigermaßen zu steuern, ist in die Gewerbegesetznovelle die Bestimmung aufgenommen worden, daß die Auszahlung des Arbeitslohns junger Arbeiter an deren Müttern oder Vormünder durch Ortsstatut verfügt werden kann. Obwohl es nun die Arbeiterjugend schwerlich zu arg treibt, wie die jeunesse dorée, so könnte ihr ja immerhin ein wenig mehr väterliche Aussicht und Anleitung nichts schaden. Aber wenn die Herren den Gymnasiasten zum Vergleich heranziehen, so vergessen sie, daß dieser an des Vaters Tasche hängt, und daß keine Gewalt der Erde einem Menschen, der sich mit eignem Verdienst durchschlägt, der also wirtschaftlich selbständig ist, diese Selbständigkeit wird rauben können, wenn der junge Mensch nicht aus Pietät freiwillig darauf verzichtet, oder eine Korporation oder der Fabrikant Vaterstelle an ihm vertritt. Will man ihm väterliche Fürsorge bis zum vierundzwanzigsten Jahre sichern, so überhebe man den Vater der Notwendigkeit, seine Kinder vom vierzehnten Jahre ab auf eignen Verdienst anzuweisen, gebe ihm ein Landgut oder Geschäft, worin er sie selbst beschäftigen kann. Übrigens verhält es sich mit der frühzeitigen Unabhängigkeit wie mit der Freiheit überhaupt: nur die Schwachen gehen darin unter, den Starken verhilft sie zur vollen Entfaltung ihrer Kraft. In London soll es viele Kinderhaushalte geben. Wenn die Mutter im Zuchthause sitzt und der Vater am delirium tremens gestorben ist, dann verdient der sechzehnjährige Sohn den Lebensunterhalt für die jüngern Geschwister, und die vierzehnjährige Schwester führt den äußerlich lumpigen, aber an sittlicher Würde gar manchen vornehmen überstrahlenden Haushalt. Vielen einzelnen mag die frühzeitige Selbständigkeit schaden, dem Volke, der Rasse ist sie förderlich. halten, wie sie wollen und können! Ich habe nichts dagegen, und wenn sie damit die Gemüter mehr rebellisch als fromm machen, so ists nicht mein Schaden. Aber dagegen muß ich protestiren, daß die Herren den Schein zu verbreiten suchen, vielleicht sich auch selbst einbilden, sie verwirklichten damit die Sittlichkeit oder gar das Christentum. Das Wesen des Christentums besteht eben in dem Bruch mit dieser pharisäischen Gesinnung und Praxis, in der Verurteilung jener selbstgerechten Heuchler, die dem Volke unerschwingliche Lasten auflegen, selbst aber nicht mit einem Finger daran rühren, die über der Reinigung von Töpfen und Schüsseln das Wesentliche im Gesetz: Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit vernachlässigen oder diese Tugenden wohl auch geradezu unterdrücken, wie im 23. Kapitel des Matthäus ausgeführt wird. Schwachheitssünden verzeiht Christus Matth. 21, 31, Lukas 7, 47, Lukas 11, 41, Lukas 15, Joh. 8, 11. Wegen des Wunders zu Kana würde der Herr nach unserm heutigen höchst sittlichen Gesetz sogar straffällig sein, hat er dadurch doch die Völlerei begünstigt. Da eine gute bürgerliche Ordnung mit geschlechtlicher und sonstiger Zügellosigkeit nicht bestehen kann, so pflegen dort, wo die materielle Grundlage eines bürgerlich geordneten Zustandes gegeben ist, Familie, Gemeinde und Körperschaften das Notwendige schon selbst zu besorgen, ohne der Einwirkung einer Zentralgewalt zu bedürfen. Ein hübsches Beispiel, wie sich dergleichen macht, erzählt B. A. Huber. Anfang der fünfziger Jahre besichtigte er in Paris die wenigen von der sozialistischen Bewegung her noch übrigen Werkstätten von Produktivgenossenschaften. Bei den Instrumentenbauern weilte er gerade während der Frühstückspause, und da die Frauen, die das Essen brachten, nicht den Eindruck von »Freundinnen« machten, so sagte er zum Werkmeister: »Die meisten von Ihnen sind, scheint es, einigermaßen verheiratet.« Bitte sehr, sagte der, ganz ordentlich verheiratet. »Ist das in Ihren Statuten vorgeschrieben?« Im Gegenteil! Wir wollten sogar die Eheschließung, wenigstens die kirchliche, ausdrücklich »erbieten; allein wir mußten doch unsern Kindern den Genossenschaftsanteil sichern, die Frauen ließen keine Ruhe, auch sieht es anständiger aus, und so hat es sich denn ganz von selbst ergeben, daß wir allesamt bürgerlich und kirchlich verheiratet sind. – Das Einschreiten der Staatsgewalt ist nur nötig, wenn infolge von Kriegen oder andern Umwälzungen Verwilderung eingerissen ist, oder wenn, wie in unsern heutigen Großstädten, alle sozialen Bande gelöst, die einzelnen nur noch Atome, und die materiellen Grundlagen der bürgerlichen Ordnung, der Grundbesitz, das eigne Haus, die Existenzsicherheit verloren gegangen sind. und die drei Männer, die der deutsche Protestant als die größten unsers Volks verehrt: Luther, Friedrich der Große und Goethe verzeihen sie erst recht; was er nicht verzeiht, das sind eben Unwahrhaftigkeit und Heuchelei, Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit. So lobenswerte Anstrengungen auch viele evangelische Geistliche, namentlich die christlich-sozialen, die Gesinnungsgenossen und Mitarbeiter der »Christlichen Welt« machen, dieses Christentum wieder zur Geltung zu bringen, im allgemeinen sind doch die Geistlichen der deutschen Landeskirchen zu sehr vom Staate abhängig, als daß sie das Notwendige mit echt christlichem Freimut sagen könnten. Die katholische Klerisei aber folgt dem Zuge des Zentrums, das aufgehört hat, Volkspartei zu sein, seitdem ihm die Sonne der kaiserlichen Gnade leuchtet; und dero Eminenzen, die neuernannten Herrn Kardinäle, sind natürlich viel zu vornehme Herren, als daß sie sich fürderhin noch des Pöbels annehmen könnten. Schöne sozialpolitische Anwendungen des in den Evangelien waltenden Geistes findet man in zwei Büchern, die lange vor Christus geschrieben worden sind, im Deuteronomium und im Propheten Jesaja. Wenn ein Volksredner die packendsten Stellen dieser beiden biblischen Bücher aneinandergereiht in einer Volksversammlung vortrüge, so würde der überwachende Polizeibeamte die Versammlung wahrscheinlich auflösen und den Mann wegen Aufreizung zum Klassenhaß denunzieren. Wer christliche Gesinnung verbreiten und das verwirrte sittliche Urteil klären will, der muß u. a. folgenden Sätzen zur öffentlichen Anerkennung verhelfen: Jeder Lohndrücker sowie jeder, der für ein nicht produktives Darlehn Zinsen nimmt, jeder Grundstückspekulant ist ein Wucherer; jeder Bauschwindler, jeder, der Gewinne an der Börse macht, ist ein Betrüger; jeder leichtsinnige Schuldenmacher, insbesondre wer Handwerker und Krämer nicht gleich und bar bezahlt, ist ein Dieb. Vor allem aber ist der Wahrheit allgemeine Anerkennung zu verschaffen, daß der Lohnarbeiter weder Arbeitstier noch Produktionsmittel ist, sondern ein Mensch, ein Kind Gottes, unser Bruder und Volksgenosse, der auf den Mitgenuß der Güter der uns von Gott zu Lehn gegebnen Erde dasselbe Anrecht hat wie wir; daß daher Arbeiter, die bessere Arbeitsbedingungen erzwingen wollen, keine Rebellen sind, sondern nur von ihrem guten Rechte Gebrauch machen, daß die »Differenzierung« der Gesellschaft bis zum Gegensatz von Millionären und Lumpenproletariern unchristlich ist, und daß jeder sündigt, der diesen Zustand verteidigt, fördert und aufrecht erhalten will.

Nicht minder wichtig als die Wiederherstellung der sittlichen Begriffe und der christlichen Lebensansicht ist die allgemeine Verbreitung gesunder volkswirtschaftlicher Grundsätze und Anschauungen. Sie kann sehr gut mit jener Hand in Hand gehen, denn die Bibel ist eine Fundgrube volkswirtschaftlicher Weisheit. Bausteine einer gesunden Volkswirtschaftslehre haben Adam Smith, Karl Marx, Rodbertus und Schäffle zusammengetragen; auch bei Roscher und Schmoller findet man viel Treffliches. Die Ansicht, die ich mir nach den Genannten und aus eignen Erfahrungen gebildet habe, ausführlich vorzutragen, würde den Plan dieses Büchleins überschreiten; ich muß mich daher auf die Aneinanderreihung der Hauptsätze beschränken.

Alle privat- und volkswirtschaftlichen Güter werden durch die Wechselwirkung des arbeitenden Menschen mit der Natur erzeugt: der die arbeitende Hand zweckmäßig leitende Menschengeist ist ihr Vater, die Erde ihre Mutter. Fehlt es an dem einen oder dem andern, so stockt die Produktion und das Volk verarmt. Soll der höchste Ertrag erzielt werden, so müssen Geisteskraft und Bodenfläche im richtigen Verhältnis zu einander stehen. Niemals entstehen Güter, niemals entsteht daher auch Volkseinkommen, Volksvermögen durch Sparen. Sparen bringt weder ein Weizenkorn, noch ein Kalb, noch einen Obstbaum, noch ein Hemd oder ein Haus zu wege; es giebt kein andres Mittel, diese Güter zu schaffen, als Arbeit, Arbeit, der die dafür notwendige Bodenfläche nicht fehlt. Es ist eine Ironie des Forschergeistes, der die Forscher zuweilen gleich einem Irrlicht zu necken scheint, daß John Stuart Mill, nachdem er die Theorie von der Kapitalbildung durch Sparen, durch Sparen allein, bewiesen hat oder bewiesen zu haben glaubt, ein paar Seiten darauf zeigt, wie das Nationalkapital oder Volksvermögen alljährlich durch Arbeit neu geschaffen wird. Was zuweilen durch Sparen, öfter aber, wie wir gesehen haben, auf andre Weise zustande kommt, ist das Privatvermögen oder der Vermögens besitz, nicht das Nationalkapital, sondern Eigentumsrecht auf ein Stück dieses Nationalkapitals. Wer nicht sein ganzes Einkommen verbraucht, sondern einen Teil davon entweder in einem Unternehmen oder zinstragend anlegt, der vermehrt dadurch die Güter seines Volks nicht, sondern er sichert sich nur ein Anrecht auf einen Teil der von andern erzeugten Güter. Die ihm als Lohnarbeiter dienen, oder die ihm sein Geld abborgen, sind gezwungen, ihm fortan jährlich einen Teil ihres eignen Arbeitsertrages abzutreten. Das ist vorteilhaft für ihn und seine Erben, aber es ist kein Vorteil fürs Volk. Im Gegenteil! Je größer die Sparkapitalien werden, je mehr die Arbeitenden von ihrem Arbeitsverdienst den Rentnern und Unternehmern abtreten müssen, desto weniger können sie selbst verbrauchen, desto mehr schwindet daher der Massenkonsum zusammen, desto schwieriger wird es, die gewöhnlich sogenannten Kapitalien anzulegen, den Anspruch auf Zinsen, auf den Arbeitsertrag andrer, zu verwirklichen. Je mehr gespart wird, desto mehr sinkt der Zinsfuß. Was ihn immer wieder auffrischt, das sind teils die großen Geldverluste in Schwindelunternehmungen, wobei die Kapitalansprüche von Tausenden einfach vernichtet werden und den konkurrirenden Kapitalisten Luft gemacht wird, teils die Kriegsrüstungen, die ungeheuern Ausgaben der Staaten auf unproduktive Wenn man die Ausgaben für den Wehrstand deshalb produktiv nennen will, weil er die produktive Arbeit des Nährstandes schützt, so ist dagegen nichts einzuwenden; nur darf man nicht vergessen, daß da dem Worte ein ganz andrer Sinn untergelegt wird als der ursprüngliche. Gegenstände. Da den Arbeitern nicht so viel Ertrag gelassen wird, daß sie sich Häuser bauen könnten, baut ihnen der Staat wenigstens für drei Jahre ihres Lebens Kasernen; da sie sich selbst nicht genug Brot und Fleisch erzwingen können, erzwingt ihnen der Staat wenigstens auf drei Jahre die hinreichende kräftige Nahrung; da es ihnen nicht zu derber, guter Kleidung reicht, gewährt ihnen der Staat wenigstens während der Dienstzeit und während der Übungen solche, und legt für den Kriegsfall große Vorräte solcher Kleidungsstücke ins Depot, die jahrelang unbenutzt daliegen; und da auch dies noch nicht hinreicht, die Arbeiter zu beschäftigen, so müssen die Chemiker, Physiker und Ingenieure alljährlich neue Mordinstrumente erfinden, die in ungeheuern Mengen angeschafft werden, um nächstes Jahr schon wieder zum alten Eisen geworfen zu werden, alles dieses auf Kosten der Steuerzahler, zu denen eben jene auf drei Jahre versorgten Arbeiter selbst gehören. Solchergestalt gelingt es den Großstaaten, die Produktion einigermaßen im Gange zu erhalten, durch neue Anleihen den Kapitalisten Gelegenheit zur Anlage ihrer Gelder zu verschaffen, den Zinsfuß immer wieder ein wenig aufzufrischen, und den Sparern zur Verwirklichung ihrer Kapitalansprüche zu verhelfen. Fürwahr, eine wunderbare Wirtschaft! Ich spreche hier nur von dem volkswirtschaftlichen Charakter der großen Militäraufträge; daß sie zum Schutze des Vaterlandes vor der Hand leider noch nötig sind, bestreite ich nicht. Und um so verderblicher, als die großen Aufträge der Militärverwaltungen die Arbeiter nur ruckweise beschäftigen. Vor ein paar Jahren z. B. wurden zur Anfertigung neuer Tornister und andrer Lederwaren Tausende von Sattlergesellen, auch aus dem Auslande, zusammengetrommelt. Die Fabrikanten häuften Vermögen auf, die Gesellen verdienten ja auch ein hübsches Stück Geld, aber nach Ablauf der Zeit saßen sie auf dem Pflaster und befanden sich auf der Walze. Volkswirtschaftlich richtig ist nur eine Produktion, die für den dauernden ordentlichen Bedarf des Volkes schafft und niemanden aus seinen Verhältnissen herausreißt; wie die, die auf dem regelmäßigen Austausche von Nahrungsmitteln und gewerblichen Erzeugnissen zwischen den Bauern eines kleinen Bezirks und den Handwerkern der benachbarten kleinen Stadt beruht. Weit entfernt daher, daß das »Kapital,« d. h. der Kapitalbesitz, die Produktion beförderte und befruchtete, wie die Interessenten und ihre Soldschreiber rühmen, bildet es das schlimmste Hindernis der Produktion Solange es für den Arbeiter kein andres Mittel giebt, seine und seiner Familie Zukunft einigermaßen sicher zu stellen als die Ersparung eines Geldkapitälchens, bleibt er selbstverständlich verpflichtet zu sparen, und hierdurch das Übel, an dem die Gesamtheit krankt, zu vermehren. Je verkehrter ein Gesellschaftszustand ist, desto mehr sieht sich der einzelne zu gemeinschädlichem und oft sogar zu offenbar unsittlichem Handeln gezwungen. Daher dürfen sich auch die Unternehmer, die Richter, die Polizeibeamten, die Geistlichen, durch die unangenehmen Dinge, die ich ihrem Stande nachsage, nicht persönlich beleidigt fühlen; sie können eben nicht anders handeln, als ich es beschrieben habe, Aufgabe aller gemeinnützig thätigen ist es eben, durch Änderung des allgemeinen Zustandes die den einzelnen quälende Nötigung zu zweckwidrigem, gemeinschädlichem oder gar unsittlichem Handeln zu mindern. Das Leben des Vernünftigen ist ein beständiger Kampf mit der Unvernunft, ist es um so mehr, je unvernünftiger sich die Verhältnisse gestalten. Das oben über die Auffrischung des Zinsfußes durch Kriegsrüstungen gesagte ist noch dahin zu ergänzen, daß der Krieg selbst natürlich der allerschneidigste Regenerator des »Kapitals« ist. Je mehr wirkliches Kapital, wirkliches Volksvermögen im Kriege vernichtet wird, desto größere Anleihen sind nötig, desto größer ist der Gewinn, den die Kapitalisten daraus ziehen, desto leichter und rascher bilden sich Kolossalvermögen, desto strammer müssen die Bürger, die im Kriege das Ihre verloren haben, für die Aufbringung der Zinsen der Staatsschuld, d. h. für die Kapitalisten arbeiten. Wunderbarerweise haben im Jahre 1870 ganz einfache Landwehrmänner, ohne diesen Zusammenhang zu durchschauen, mit großer Zuversicht vorausgesagt, daß die Kriegsglorie die Lage des arbeitenden Volks erschweren werde. Mit dem Sparen zum Zwecke der Kapitalanhäufung ist natürlich nicht etwa die Wirtschaftlichkeit verurteilt. Die ist etwas ganz andres und bleibt unter allen Umständen löblich und Pflicht. Ein noch dazu sehr geiziger Rittergutsbesitzer sagte mir einmal: Das ist die allerschlechteste Wirtschaft, wenn einer, um Geld zu sparen, Menschen und Vieh hungern läßt.

Geld ist Anweisung auf Güter, also auf Einkommen und Vermögen. Die in einem Staate vorhandne Menge von Gold- und Silbermünzen bildet einen wenn auch nicht sehr bedeutenden Teil des Volks vermögens, aber, wie Adam Smith bewiesen hat, sie bildet keinen Teil des Volks einkommens, und niemals macht Geld auch nur den kleinsten Teil irgend eines Privateinkommens aus; dieses besteht immer nur in Gebrauchsgütern. Die Anweisung auf Güter in Gestalt von Geld und die Geldform des Kapitals verleihen den Gütern eine erstaunliche Beweglichkeit und den Geldbesitzenden eine Macht, Güter an sich zu ziehen und die ärmern Menschen sich dienstbar zu machen, die von jeher als unheimlich und höllisch angestaunt, ebenso stark gehaßt und gefürchtet wie begehrt worden ist. Diese Formen sind daher für den Reichen, der mit ihrer Hilfe sich jeden Augenblick jeden Genuß verschaffen und seinem Vermögen jede beliebige Gestalt, als Landgut, als Schiff, als Kaufmannsgeschäft, als Fabrik, als Rentenpapier geben kann, ebenso bequem wie für den Ärmern gefährlich, Ein unveräußerliches Rentengütlein sichert dem kleinen Manne jahraus jahrein die beiden wichtigsten Einkommensbestandteile: Nahrung und Obdach, Arbeitslohn ist unsicher, und ein kleines Geldkapital geht um so leichter verloren, je kleiner es ist, weil da der Inhaber in Versuchung kommt, es in der Not in Einkommen zu verwandeln, und weil er dem Schwindel gegenüber ohnmächtig ist. In unsrer Zeit, wo die Güter dermaßen mobilisirt sind, daß sie wie von der Tarantel gestochen herumfliegen, und wo außer den Staatsbeamten und den Millionären niemand mehr sein Einkommen sicher weiß, muß das Bestreben des Volkswirts vor allem darauf gerichtet sein, die Güter diesem Hexensabbath allmählich zu entziehen und die Zahl der gesicherten Existenzen zu vermehren. Vor allem aber muß der Unterschied von Produktivität und Rentabilität recht scharf ins Auge gefaßt und dein ganzen Volke klar gemacht werden, daß Güter schaffen und Geld verdienen zwei verschiedne Dinge sind, daß nicht jeder, der viel Geld verdient, produktiv thätig ist, daß häufig genug der produktivste Arbeiter am schlechtesten bezahlt und eine Thätigkeit, die nichts schafft, ja wohl gar Güter und Menschenleben zerstört, am höchsten gelohnt wird. Nur wer Güter schafft, ist produktiv zu nennen; am rentabelsten pflegt die Thätigkeit solcher zu sein, die nicht Güter schaffen, sondern die von andern geschaffnen in ihre Gewalt bringen.

Diese Grundsätze müssen dem ganzen Volke in Fleisch und Blut übergehen und alle Bürger zum Widerstände gegen das verkehrte Treiben der Politiker verbünden. Vor allem muß der Vermehrung der Staatsschulden Einhalt gethan werden. Anleihen zu produktiven Zwecken, wie zu Eisenbahnbauten, sind keine Schulden. Aber wirkliche Schulden dürfen gar nicht geduldet werden, weil sie die Belastung des Volks, der Nachkommenschaft, die unter den obwaltenden Verhältnissen so schon groß genug ist, ins Unerträgliche vermehren. Nur nach einem unglücklichen Kriege sind sie zu rechtfertigen. Rechtsprechung und Verwaltung müssen auf den Volkswohlstand und auf die bürgerliche Existenz der Unterthanen mehr Rücksicht nehmen als bisher. Es darf nicht so oft wie jetzt vorkommen, daß einer Lappalie, eines rein bureaukratischen Eigensinns, Ein Ackerhäusler stirbt und hinterläßt ein Häuflein Kinder, Das Vormundschaftsgericht will den Beweis dafür hüten, daß die Frau eine Kuh mit in die Ehe gebracht hat. Um ehrlich durchzukommen, muß sie von früh bis in die Nacht mit Aufbietung aller ihrer Kräfte schaffen, aber das Gericht zwingt sie trotzdem, sich Tage und Wochen zu verlaufen, um Zeugen aufzutreiben, die ihr die zugebrachte Kuh bescheinigen, Zum Glück gelingts ihr endlich. Schließlich muß sie Kosten bezahlen, aber sie bringt ihr Geld nicht an. Denn sie wohnt zwei Stunden vom Gericht entfernt; morgens ihre Wirtschaft im Stich zu lassen, ist rein unmöglich, und nachmittags nimmt die Kasse kein Geld. Endlich holts der Gerichtsvollzieher und verdoppelt die Kosten, Was sich so ein Weib schinden muß, um eine Mark zusammenzukratzen, davon haben ja die Herren beim Studium des Kommersbuches keinen Begriff bekommen. Der alte preußische Hypothekenrichter, der den Leuten sagte, wie sie alles machen müßten, um Kosten zu sparen und sicher zu gehen, sie freilich auch, wen sie sich leichtsinnig oder dumm benahmen, väterlich anschnauzte, ist ausgestorben. Wenn die Leute nicht an ihrer Scholle hingen, wie der Blutegel au dein Fleisch, an das er sich festgesogen hat, und sich darauf zu halten die unglaublichsten Anstrengungen machten und die unglaublichsten Entbehrungen erduldeten, sie würden zu Tausenden herunterpurzeln; halten sie sich, so ists wahrlich nicht das Verdienst unsrer Behörden. In Italien freilich gehts noch weit schlimmer zu; dort werden Tausende von kleinen Wirtschaften wegen Steuerrückständen subhastirt, das heißt: der Staat frißt das Volk mit Haut und Haaren auf. eines groben und hinterher empfindlichen Polizisten wegen ein Mann oder eine Frau durch Gefängnis, Geldstrafen oder vielfache Belästigung mit Verhören u. dgl. um Arbeit und Existenz gebracht werden. Die Staatsverwaltung und die Gemeindeverwaltungen müssen aufhören, bei ihren eignen Kauf- und Verkaufsgeschäften, bei gewerblichen Unternehmungen und bei Aufträgen an Gewerbtreibende nach rein kapitalistischen Grundsätzen zu verfahren, wie das heutzutage so häufig geschieht. Wenn eine Stadt entfestigt wird, so sucht der Militärfiskus beim Verkauf der Gelände an die Stadt so viel als möglich herauszuschlagen, und treibt den Grundstückspreis eher noch in die Höhe, als daß er ihn ermäßigte. Die Klagen der Handwerker über das Submissionswesen sind bekannt, Ein hochkonservativer Glasermeister, der in der Konfliktszeit bei der Regierung als Wahlenmacher sehr gut angeschrieben stand, und von dem ich deshalb voraussetzte, daß er alle Regierungsarbeiten habe, sagte mir lachend: »I wo! Die können nur von Spitzbuben angenommen meiden; für das Mindestgebot kann einer die Sache nur machen, wenn er entweder den Staat oder seine Lieferanten betrügt.« Die Gefängnißarbeit, die kapitalistischen Unternehmern zur Verfügung gestellt wird, richtet an manchen Orten ganze Klassen von Handwerkern, z. B. die Schuhmacher, zu Grunde In der Sitzung des Schlesischen Provinziallandtages am 7. März wurde wieder einmal über die Webernot lernten. Der Abgeordnete Pfuhl, Bürgermeister in Landeshut, teilte mit: einige Fabrikanten hätten sich bemüht, die Näharbeit (was für Näharbeit, ist ans dein Berichte nicht zu ersehen) teils im Fabriksaale, teils als Hausindustrie einzubürgern, und zwar mit gutm Erfolge bei Herstellung von Militärlieferungen. Nun stelle unbegreiflicherweise das Kriegsministerium an diese Fabrikanten die Forderung, mit den Preisen für Näharbeit bis auf oder unter den Satz für Strafgefangenenarbeit herunterzugehen. (Schles. Ztg. Nr. 169.) Auch des Lohndrucks schämen sich die Staatsbehörden nicht, und Stadtmagistrate sind nicht selten die ärgsten Lohndrücker. Einen höchst charakteristischen Fall will ich darum anführen, weil dabei gar kein Profit für den Fiskus herausgekommen ist, sondern nur das Unglück verhütet werden sollte, daß die Arbeiter ohne Schaden für den Fiskus durch angestrengten Fleiß mehr als den ortsüblichen Tagelohn verdienen könnten. Auf einer Chaussee waren die Obstbäume mit den bekannten kreisförmigen Grübchen zu versehen. Ein Weib übernahm die Arbeit um einen bestimmten Preis für das Hundert, schaffte mit Aufbietung aller ihrer Kräfte täglich von früh um 4 Uhr bis in die Nacht, und freute sich unendlich, als sie nach wenigen Tagen schon dem Kreisbaumeister die Rechnung über die für ihre Verhältnisse bedeutende Summe einreichen konnte. Der aber war außer sich. »Was, Weib, da kämen Sie ja auf mehr als zwei Mark am Tage! Nein – das geht nicht!« Das arme Weib aber hatte Haare auf den Zähnen und ließ nicht locker, bis ihr der bedungne Lohn angewiesen wurde. »Na, für diesmal mags sein,« sagte der hochweise Bureaukrat, »aber in Zukunft darf so etwas nicht wieder vorkommen; es wird fortan nie mehr Stücklohn, sondern nur noch Tagelohn bewilligt.« Demnach gilt es bei unsrer Bureaukratie geradeso wie bei den englischen Musterunternehmern altern Stils als Grundsatz, daß kein Arbeiter, sei er noch so fleißig und geschickt, über das Existenzminimum hinauskommen dürfe. Mit andern Worten: jede das Durchschnittsmaß übersteigende Mehrleistung des fleißigen und geschickten Arbeiters kommt nicht ihm selbst, sondern nur seinem Brotherrn Die Leser werden bemerkt haben, daß ich niemals das Wort »Arbeitgeber« gebrauche, sondern grundsätzlich nur Unternehmer oder Brotherr schreibe. Rodbertus hat darauf hingewiesen, was für eine infame, dem Arbeiter seine Ehre stehlende Lüge das Wort »Arbeitgeber« ist. Nicht der Unternehmer giebt oder liefert dem Arbeiter die Arbeit, sondern der Arbeiter giebt oder liefert sie dein Unternehmer. Was dieser giebt, das ist nur die Gelegenheit, die Erlaubnis zur Arbeit, eine Gelegenheit, die der Vorfahr des Arbeiters, als Besitzer eines Grundstücks oder Teilhaber an der Gemeindeflur, von Natur besaß und zu deren Benutzung er keiner Erlaubnis bedurfte. Die Bezeichnung ist um so empörender, als es zum Teil Raub, Bodenraub gewesen ist, was die Nachkommen der ehemaligen Bauern in die traurige Lage versetzt hat, zur Anwendung ihrer Leibes- und Geisteskraft, also zur Ausübung eines ganz elementaren natürlichen Rechts, der Erlaubnis von Leuten zu bedürfen, die sie gar nichts angehen. Erst nach Rodbertus Tode hat man das noch verrücktere und verlogenere Wort »Arbeitnehmer« gemacht, das wie es scheint, das einfache und richtige Wort Arbeiter verdrängen soll. Ich begreife nicht, wie sich die Sozialdemokraten das gefalle« lassen und diese Bezeichnungen sogar selbst in den Mund und die Feder nehmen können! sie sollten es durchsehen, daß sie wenigstens aus der amtlichen Sprache vollständig ausgemerzt würden. zugute, woraus für ihn, wenn er Grütze im Kopfe hat, folgt, daß er ein Narr wäre, wenn er sich anstrengen wollte. Gleich allen andern Lastern wird in unsrer vortrefflichen Gesellschaftsordnung auch die Faulheit von unsern weisen Bureaukraten prämiirt. Privatunternehmer – ob auch Staatswerkstätten, weiß ich nicht – pflegen anders zu Verfahren. So z. B. einer jener auf S. 342 erwähnten Volkswohlthäter, die den Kuhmägden zur Damenwürde verhelfen. Er giebt der Maid sechs Stück »Antimakassars« mit leichter Stickerei zu verzieren, und verspricht ihr 10 Pfennige fürs Stück. Sie liefert sie ab und empfängt ihre 60 Pfennige. Wie lange, Fräulein, fragt er mit jener den jüdischen Unternehmern eignen Freundlichkeit, die für die Arbeiter immerhin noch angenehmer ist als die Grobheit der Aufseher und Beamten in den Bergwerken und in manchen Fabriken, wie lange haben Sie daran gearbeitet? »Einen Tag.« O Fräulein! das ist zu langsam! An einem Tage müssen Sie mehr fertig bringen: mindestens das Doppelte; versuchen Sies nur! Und er giebt ihr ein Dutzend solcher Läppchen mit nach Hause. Sie setzt sich früh um vier hin, näht drauf los – die Übung macht, daß es immer flinker geht – und stehe da, abends um elf ist das Dutzend fertig! Voll Freude geht sie damit am andern Morgen in die Stadt und bekommt – 60 Pfennige. »Aber, Herr Levi, es sind ja zwölf Stück.« Schon recht; mehr als 60 Pfennige kann ich nicht für den Tag zahlen. Dieses ist das Schema, wonach der Stücklohn dazu benutzt wird, den Arbeitern möglichst viel Arbeit abzupressen und sie zu Tode zu hetzen; daher der energische Widerstand der englischen Gewerbevereine gegen den Stücklohn.

Wie weit entfernt von kapitalistischen Grundsätzen man vor 200 Jahren in Deutschland war, habe ich aus einem Bericht über eine im Jahre 1692 abgehaltene Visitation der damals zahlreichen milden Stiftungen der Stadt Neiße ersehen. Sämtliche Stiftungsverwalter sammelten aus Schenkungen u. dgl. bedeutende Kassenbestände an, von denen sie zusetzten, wenn die Zinsen »nicht erklecken wollten,« was in den meisten Jahren der Fall war, sodaß sie sämtlich große Restforderungen zu verzeichnen hatten. Daran, die Schuldner, meist Bauern, zu verklagen und die Zinsen zwangsweise beizutreiben, oder wohl gar ihre Güter subhastiren zu lassen, wurde nicht gedacht. Nach heutigem Begriff eine höchst liederliche Wirtschaft mit ungeheuerm Zinsverlust, die die Verwalter auf die Anklagebank bringen würde, volkswirtschaftlich aber vollkommen richtig. Denn es ist falsch und thöricht, eine Anzahl von Bauern zu ruiniren, um des formalen Rechtes von Anstalten willen, die dem Bedürfnis der Gegenwart dienen und, sofern sie nicht vielleicht ganz überflüssig sind, den Anspruch erheben können, von der Stadtgemeinde, der sie dienen, erhalten zu werden, sei es auch vielleicht nur durch freiwillige Gaben. Auf den Visitationsbericht erging eine bischöfliche Verfügung, die zwar in Zukunft besser Ordnung zu halten befahl, jedoch anordnete, daß die »Remanentien« nicht am gewöhnlichen Zinstermin mit den fälligen Zinsen zugleich einzufordern seien, sondern zu einem von jenem ein wenig entfernten Termine, und zwar zu einer Zeit, wo der Wirtschaftsvertrag von den Schuldnern am bequemsten versilbert werden könne; Eine Hauptursache des Untergangs der russischen Bauern ist die unvernünftige Gewohnheit, die Steuern zu einer Zeit einzutreiben, wo der Bauer am wenigsten Geld hat. wo aber die Rückstände »also dick sollten angewachsen sein, daß es ohne gänzlichen Ruin ihrer Wirtschaft unmöglich wäre, das Ganze auf einmal abzuführen,« solle die Schuld »in billige ratas« abgeteilt werden. Erst unsre Zeit hat das Wort justitia, pereat mundus ins Wirtschaftsleben eingeführt und zum Staatsgrundgesetz erhoben.

Sehr viel wäre über die Anwendung der richtigen volkswirtschaftlichen Grundsätze auf die Landwirtschaft zu sagen. Einiges ist ja gelegentlich erwähnt worden. Hier nur eine Bemerkung. Unsre Zuckerfabrikanten rühmen sich, daß sie nicht allein viel Geld ins Land brächten, sondern auch durch die vom Rübenbau erforderte Tiefkultur und bessere Düngung den Ertrag der gesamten Bodenfläche an Nahrungsmitteln erhöhten. Geld bringen sie allerdings sehr viel ins Land, aber doch nur meist in ihre eignen Taschen. Sowohl was sie an Ausfuhrprämien, als was sie an Dividenden die letzten zwanzig Jahre über gezogen haben, ist enorm; ab und zu verrät ein Minister, wenn ihn die Agrarier gar zu sehr ärgern, im Reichs- oder Landtag die Zahlen; ich habe mir leider keine notirt. Die kleinen Landleute haben nichts davon, als daß sie vollends von der Scholle gedrängt werden, weil der Boden durch den Rübenbau viel zu kostbar geworden ist, als daß man ihnen noch ein Eckchen davon gönnen möchte, und daß sie zu der scheußlichen Arbeit in der Zuckerfabrik gezwungen werden. Und was die Tiefkultur anlangt – mag man die doch beibehalten! Die Rüben können als menschliche Nahrung und Viehfutter verwendet werden, statt daß man sie sämtlich in Zucker verwandelt. Den Hauptvorteil haben bis jetzt die Engländer gehabt, denen unsre Zuckerfabriken vor der Reform der Rübensteuer den Zucker billiger verkauft haben als uns; die aber könnten sich ganz gut in ihren Kolonien Rohrzucker fabriziren lassen. Übrigens weist Rudolf Meyer (Neue Zeit, 1892-1893, Nr. 14) nach, daß die Behauptung der Agrarier falsch ist, und daß durch die Einführung der Zuckerindustrie sowohl der Bruttoertrag an Nahrungsmitteln wie der Gehalt an Nährstoff vermindert wird.

 

Die übliche Polemik gegen die Sozialdemokraten ist nicht das Papier wert, worauf sie geschrieben wird. Man wirft ihnen vor, daß sie nichts Positives leisteten. Aber sie leisten mit ihren proletarischen Groschen und unter fortwährender Behinderung durch Polizei und Staatsanwalt sehr Achtungswertes in der Kritik des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes, in der Vernichtung nationalökonomischer Irrtümer, in der Aufdeckung und Abstellung sozialer Übelstände, in der Aufstachelung der trägen und widerwilligen Gesetzgeber, in der Organisirung, Disziplinirung, Aufklärung der Massen. Man schilt sie Volksverhetzer, allein es ist geradezu ein Verdienst, wenn sie das Volk vor dem Versinken in slawischen und sklavischen Stumpfsinn bewahren und es anleiten, seine Angelegenheiten, die vom Staate und von den obern Klassen sehr schlecht besorgt werden, wieder selbst in die Hand zu nehmen. Man rückt ihnen bei jeder Gelegenheit vor, daß sie den Arbeitern das Sparen verleideten, während doch die namentlich von Eugen Richter vertretne Spartheorie der unvernünftigste aller nationalökonomischen Irrtümer und so verderblich ist, daß eine Gesellschaft, in der sie zur Herrschaft gelangte, durch allgemeine Produktionsstockung untergehen müßte, selbst wenn sie noch Grund und Boden im Überfluß hätte. Man macht ihr ihre Gottlosigkeit zum Verbrechen, die doch dort ganz selbstverständlich ist, wo man Gott zum Oberpolizisten und Mammonshüter herabgewürdigt hat. Das Christentum riß bei seinem Erscheinen in der Welt die Massen der Armen fort, weil sich Christus und die Apostel, selbst bettelarm, ganz entschieden auf die Seite der Armen gegen die Reichen stellten. Ein Christentum, das sich zum Werkzeuge der Reichen gegen die Armen macht, stößt diese notwendig ab und macht sie zu Heiden und Atheisten. Die Entsagungspredigt aus dem Munde wohlbestallter Staats- und Kirchenpfründner entlockt dem geweckten Arbeiter nur ein ironisches Lächeln. Die katholische Kirche ist dermalen in dieser Hinsicht noch ein wenig besser dran als die evangelische, weil sie entsagende Ordensleute und den Priesterzölibat hat. Es ist daher natürlich, daß evangelischer Konkurrenzneid die Ordensleute nicht gern ins Land hereinläßt. Was den Priesterzölibat anlangt, so giebt es zwar genug Pfarrer und Kapläne, die es nicht allzu genau damit nehmen, allein namentlich in heutiger Zeit, wo der Geistliche unter strenger Kontrolle der Öffentlichkeit steht, bleibt die Ehelosigkeit immerhin eine sehr empfindliche Entbehrung; das weiß der gemeine Mann, und um dieser Entbehrung willen verzeiht er dem Pfarrer seinen Braten und seinen Wein. Wenn die Geistlichen mit dem Neuen Testament Ernst machen, ihre Würden und Titel, ihre Pfründen und Staatsgehalte, ihre Stellung in der vornehmen Gesellschaft aufgeben und Apostel werden gleich den galiläischen Fischern, dann werden die Arbeitermassen auch wieder Christen werden; eher nicht.

Was den »Zukunftsstaat« anlangt, so ist natürlich alles Streiten dafür wie dagegen eitel leeres Stroh dreschen, weil kein Mensch wissen kann, wie die Welt am morgigen Tage aussehen wird. Wenn sich ihn die Arbeiter so schön wie möglich ausmalen, so ist ihnen dieses tröstliche Luftschlösserbauen zu gönnen, und sie darin mit höhnischem Gelächter zu stören, ist so brutal, wie wenn man einen armen Teufel höhnt, der aufs große Los hofft, oder einen Schwindsüchtigen, der sich darauf freut, wie er nächstes Frühjahr auf dem Rasen herumhüpfen werde. Der Streit um das Wort »Staat« ist müssig, weil selbstverständlich auch jede zukünftige Gesellschaft in Gemeinwesen abgeteilt sein wird, die ihre eignen Zentralbehörden haben werden, und wenn die Sozialdemokraten ein solches Gemeinwesen nicht Staat nennen wollen, weil es, wie sie hoffen, nicht bureaukratisch zum Nutzen einer bevorzugten Klasse verwaltet werden wird, so ist diese Ablehnung der gebräuchlichen Benennung nicht ganz unbegründet. Die Verwandlung des Privatvermögens in Gemeinbesitz und die genossenschaftliche Produktion sind so wenig unmöglich, daß vielmehr alle gesellschaftliche Entwicklung vom Kommunismus ausgegangen ist und daß unsre Zeit durch Verstaatlichung vieler Gewerbszweige, durch die ungemessne Vermehrung der besoldeten Beamten, durch Einschnürung der privaten Produktion in Gesetze und Staatsaufsicht, durch Fesselung der persönlichen Freiheit im Dienste des Staats, namentlich durch die das ganze Mannesalter bindende Militärpflicht Vor zwei Jahren starb der arme Dorfschneider, der für mich arbeitete, und hinterließ der Witwe drei Söhne im Jünglingsalter, die sämtlich Schneider sind, einige junge Töchter und einen kleinen Knaben. Der älteste stand gerade beim Militär. Den zweiten hoffte die Mutter los zu bitten, aber es war nichts; als der Bruder nach Hause kam, mußte er eintreten. Der dritte hat nächstes Jahr das Alter, und die Familie ist überzeugt, daß er ebenfalls wird dienen müssen, weil die Burschen gemerkt haben, wie gut man beim Militär – geschickte Schneider brauchen kann. (Was die Militärtauglichkeit anlangt, so sind alle drei schwächlich und haben kaum das Maß.) Das heißt also: man läßt drei Jungen, die Ernährer einer armen Familie, jeden drei Jahre oder wenigstens drittehalb Jahre umsonst für den Staat arbeiten. Ist das etwa nicht Kommunismus? Und möglichst ungerechter dazu?, durch Ringbildungen und gewerbliche Kartelle, durch Aktiengesellschaften und Genossenschaftsgründungen dem Kommunismus ganz augenscheinlich wieder zustrebt. Die Sozialdemokraten thun weiter nichts, als daß sie offen aussprechen, was Staat und Bürgertum täglich thun, aber einzugestehen sich sträuben, und daß sie auf gut Hegelisch schließen, dieser Zug der Zeit müsse sich schließlich auf allen Lebensgebieten durchsetzen. Man hält den Sozialdemokraten vor, daß ihr Zukunftsstaat ein großes Zuchthaus sein werde, übersieht dabei aber, was vor der Nase liegt, nämlich, daß die Kaserne nicht viel besser, manche Fabrik weit schlimmer als das Zuchthaus, die Lage des Arbeitslosen aber so schlimm ist, daß er nicht selten die Einsperrung ins Zuchthaus als eine Erlösung anstrebt. Was die Arbeiter wollen, ist die Erlösung aus dem gegenwärtigen Zuchthause; dafür zu sorgen, daß der zukünftige Gesellschaftszustand nicht wieder ein Zuchthaus werde, wäre um so mehr eine vorzeitige Sorge, als sich die gegenwärtige Gesellschaft nicht bloß in ein großes Zuchthaus, sondern auch in ein großes Narrenhaus zu verwandeln droht; reichen doch auch die eigentlichen Zuchthäuser und Narrenhäuser schon lange nicht mehr zu.

Phantastisch ist die Ansicht der Sozialdemokraten von der Gesellschaftsverfassung, die sie anstreben, nicht in wirtschaftlicher, sondern in psychologischer Beziehung. Sie machen sich eine falsche Vorstellung von der Menschennatur und von den Bedingungen des Menschendaseins. Sie meinen, alle Übel, auch die sittlichen, entsprängen nur aus schlechten gesellschaftlichen Einrichtungen, während umgekehrt sehr häufig schlechte menschliche Einrichtungen aus der unausrottbaren menschlichen Selbstsucht entspringen, und die Unterdrückten, sobald sie zur Herrschaft gelangen, es meistens noch ärger treiben als die frühern Unterdrücker. Es ist vollkommen richtig, daß jede verkehrte gesellschaftliche Einrichtung die sittlichen Übel, die schlimmen Leidenschaften, die Verbrechen und Laster vermehrt, aber es ist ein Irrtum zu glauben, daß irgend eine noch so weise Gesellschaftsverfassung die Selbstsucht samt ihren Äußerungen werde ausrotten können. Selbstliebe und Nächstenliebe, Egoismus und Alturismus, sind beide gleich notwendig für die Erhaltung des Menschengeschlechts! die Austilgung jedes von beiden würde seinen Untergang zur Folge haben. Es ist deshalb zwar Pflicht des Gemeinwesens, die Zahl der Fälle, wo die selbstsüchtigen Triebe der verschiednen Personen kollidiren müssen, nach Möglichkeit zu vermindern und namentlich die Thorheit zu meiden, deren sich die heutigen Staaten schuldig machen, daß sie den Armen zumuten, nicht bloß auf die Selbstsucht, sondern sogar auf den Selbsterhaltungstrieb zu verzichten; aber es ist utopisch zu glauben, daß die Selbstsucht entweder ausgerottet oder durch eine vollkommne Interessenharmonie unschädlich gemacht werden könne. Dieser Irrtum der Sozialdemokratie ist übrigens ein notwendiges Erzeugnis der neuern deutschen Philosophie seit Hegel, die den Glauben an das Jenseits vernichtet hat. Wer als Christ an die Vollendung der Menschennatur im Jenseits glaubt, kann sich die diesseitige Unvollkommenheit menschlicher Zustände gefallen lassen, wenn er diese auch natürlicherweise soweit zu verbessern streben muß, daß aus der unvollkommnen Erde nicht die Hülle wird, und daß nicht der Glaube an die Vernunft, Liebe und Gerechtigkeit Gottes schwindet. Wer aber das Jenseits preisgiebt, der muß, wenn er nicht Pessimist werden will, Utopist werden; und da der Pessimismus die Thatkraft lähmt, die Hoffnung auf ein Utopien sie stärkt, so sind Utopisten dem Gemeinwesen weit zuträglicher als Pessimisten. Wenn übrigens die Menschen in einer kommunistischen Gesellschaft auch keine Götter und Engel sein würden, so brauchten sie doch auch nicht schlechter zu sein als in unserm gegenwärtigen Zustande, und sollte ihnen der zukünftige Zustand das Leben leichter machen, so würden sie wahrscheinlich sogar ein wenig besser sein. Vor den Worten Sozialismus und Kommunismus, hat Fürst Bismarck einmal gesagt, brauche man sich nicht zu fürchten; sei doch jedes Gemeinwesen eine sozialistische und kommunistische Einrichtung, und es komme in jedem Augenblicke nur darauf an, zu bestimmen, wie weit den Umständen nach die Gemeinschaftlichkeit durchzuführen und die individuelle Freiheit einzuschränken zweckmäßig sei.

Ich für meine Person lehne das wirtschaftliche Ideal der Sozialdemokraten ab, nicht weil ich es für phantastisch und unausführbar hielte, sondern weil ich mein eignes Ideal für vollkommner halte. Das Privateigentum, namentlich das an Grund und Boden, hat so große, allgemein bekannte Vorzüge vor der kommunistischen Gesellschaftsverfassung voraus, daß es Thorheit wäre, es dieser niedern Form aufzuopfern, nachdem es einmal bekannt und in der Welt mächtig geworden ist. Die Vollkommenheit sehe ich nicht in der Einförmigkeit, sondern in der Mannichfaltigkeit. Deshalb halte ich einen Gesellschaftszustand für wünschenswert, wo alle verschiednen Formen von Eigentum und Wirtschaftsbetrieb: Privat-, Gemeinde- und Genossenschaftsbesitz, großer, mittlerer und kleiner Betrieb, genossenschaftlicher Betrieb und solcher von Privatunternehmern mit Hörigen neben einander vorkommen. Und diese Mischung würde am besten den Bedürfnissen des gegenwärtigen Geschlechts entsprechen, denn je älter die Kultur ist, desto mannichfaltiger sind die Befähigungen und Neigungen der Menschen und die Bedingungen, unter denen sie arbeiten. Die richtige Mischung kleiner, mittlerer und großer Landgüter gehört zu den wichtigsten Bedingungen der Gesundheit des Volkskörpers. Kleine Güter sind dort, wo der Anbau feinerer Gewächse die Spatenkultur fordert, deswegen nötig, weil diese Kultur nur dann mit der gehörigen Sorgfalt betrieben wird und den höchsten Ertrag erzielt, wenn der Besitzer oder Pächter selbst arbeitet, in den übrigen Gegenden aber deswegen, weil sie den größern Gütern Arbeiter stellen. Mittlere Güter sind notwendig, weil der eigentliche Bauernstand den Kern der Bevölkerung bildet. Große Güter endlich sind aus drei Ursachen nötig. Erstens aus einer politischen, weil die Großgrundbesitzer ihrer Natur nach am geeignetsten sind, dem Vaterlande in den höhern Stellen der Selbstverwaltung und im Parlamente zu dienen. Zweitens der landwirtschaftlichen Technik wegen, weil nur Großgrundbesitzer kostspielige Züchtungs-, Düngungs- und sonstige Verbesserungsversuche anstellen können. Drittens der Großstädte wegen, deren Bewohner, wie schon im 13. Kapitel bemerkt wurde, ohne die großen Landgüter verhungern würden, während die Großgrundbesitzer ohne den großstädtischen Markt ihren Betrieb einstellen müßten. Wenn in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung bei Erörterung der agrarischen Bewegung gelegentlich bemerkt worden ist, daß der Großgrundbesitz bei gleicher Anbaufläche mehr Getreide liefre als die Bauernschaft, so ist das zwar richtig, darf aber nicht so verstanden werden, als ob die Großwirtschaft produktiver wäre. Vielmehr verhält sich die Sache folgendermaßen. Wer ungeheure Flächen, die mit ein und derselben Frucht bestellt sind, mit Maschinen bestellt und aberntet, der braucht natürlich weniger Arbeiter und Gespanne als der Bauer, der kleine, mit verschiednerlei Früchten bestandne Parzellen mit der Hand bearbeitet. Jener verbraucht also nicht so viel Getreide in der Wirtschaft und hat mehr für den Verkauf übrig. Außerdem: weil der Großgrundbesitzer weniger Gespanne braucht, Kühe aber überhaupt nicht zum Ziehen verwendet, und seit Einführung der künstlichen Düngmittel auch nicht mehr nötig hat, bloß des Düngers wegen Vieh zu halten, so hält er auf gleicher Fläche weniger Vieh als der Bauernstand, liefert also weniger Fleisch, Milch und Butter. Die Menschen, die der Latifundienbesitz übrig macht, verschwinden natürlich nicht in die vierte Dimension, sondern ziehen in die Großstadt und in die Industriebezirke, wo sie sich von dem Getreide nähren, das ihnen der Großgrundbesitzer nachschickt. Tausend Morgen mögen bei großem, mittlerem und kleinem Betriebe durchschnittlich ungefähr dieselbe Anzahl Menschen ernähren, der Unterschied ist – abgesehen von der verschiednen Viehproduktion – hauptsächlich der, daß beim kleinen Betrieb die Menschen den Boden, der sie nährt, auch bewohnen, während auf dem großen Gute nur die wenigsten von den Menschen wohnen, die es nährt. Je mehr in einer Gegend der Großbetrieb vorherrscht, desto weniger Wohngebäude sieht man darin, desto dünner ist sie bevölkert.

Sind demnach Großstädte und Großgrundbesitz auf einander angewiesen, und muß mit den einen gleichzeitig der andre wachsen, so erscheint bei oberflächlichem Hinschauen ihre gegenseitige Feindschaft komisch, bei tieferm Einblick aber bemerkt man eine furchtbare Tragik. Ihre Feindschaft gleicht der Abneigung der siamesischen Zwillinge gegen einander, deren Unglück es eben war, daß sie zusammengewachsen waren. Je nötiger beide Teile einander brauchen, desto mehr gehen zugleich ihre Interessen aus einander bis zum unlösbaren Konflikte. In einer rein ländlichen Bevölkerung haben die landwirtschaftlichen Produkte keinen Tauschwert; verzehrt doch jeder selbst, was er baut. Nur ungleiche Ernten benachbarter Gaue oder der Besuch eines ausländischen Händlers vermag ihnen vorübergehend einen unbedeutenden Tauschwert zu verleihen. Daher ist in diesem Zustande der Getreidepreis nicht bloß gleichgiltig, sondern er existirt gar nicht. Erst wenn die Arbeitsteilung eine industrielle Bevölkerung schafft, findet er sich ein. Dieser Preis nun steigt immer höher, je knapper der Boden und je zahlreicher die industrielle Bevölkerung wird. Aber je zahlreicher diese wird, desto billiger werden ihre eignen Produkte, desto schlechter ihr Verdienst, desto weniger kann sie für Nahrungsmittel zahlen. Andrerseits, je knapper der Boden wird, desto teurer wird er auch, desto höhere Preise muß daher der Besitzer beim Verkauf seiner Produkte erzielen, wenn er die Zinsen für den Kaufpreis seines Gutes herausschlagen will. Also: je weiter die Differenzirung der Bevölkerung in industrielle und ländliche fortschreitet, je größere Massen industrieller Arbeiter sich in den Großstädten anhäufen, während, um sie zu ernähren, die Bauernschaft vom Großgrundbesitz verschlungen werden und das platte Land entvölkert werden muß, desto niedrigere Getreidepreise muß die Stadt, und desto höhere muß das Land fordern. Geht die bisherige Entwicklung ihren Gang fort, so muß sich dieser unheilbare Interessenkonflikt stetig verschärfen. Zu heben ist er nur durch eine Katastrophe, die die Großstädte und die großen Güter gleichzeitig vernichtet und die industrielle Bevölkerung wieder über das Land zerstreut; will man der Katastrophe vorbeugen, so bahne man schleunigst die Rückbildung an. Jede Entwicklung trägt eben den Keim ihrer Auflösung in sich. Konnte eine kommunistische Gesellschaftsordnung jedem einzelnen absolute Existenzsicherheit gewähren, allem Wetten und Wagen, allem Kämpfen und Ringen, allen Tragödien und Komödien, zu denen Glückswechsel und Interessenkonflikte zusammenwirken, ein Ende machen, so würde ich das geradezu für ein Unglück halten; es wäre das Ende des echten Menschendaseins. Wie überall im Leben, sind auch hier die Extreme: allgemeine Sicherheit und allgemeine Unsicherheit, gleich verderblich.

Lehne ich jede Utopie ab, so bin ich selbstverständlich auch weit entfernt davon, zu erwarten, unser zukünftiges Großdeutschland mit seinen russischen und asiatischen Kolonien werde ein Paradies sein. Wenn es möglich wäre, was ich für erstrebenswert erklärt habe, die Zentralgewalt wieder auf ihre drei ursprünglichen Aufgaben: Landesverteidigung, Rechtsprechung und Vertretung des Gemeinwesens dem Auslande gegenüber, zu beschränken und die Selbstverwaltung im weitesten Umfange wieder herzustellen nach einfachen, jedem Gemeindemitgliede verständlichen Regeln, die sie sich ihren einfachen Verhältnissen nach selbst giebt, so weiß ich doch, daß es uns genau so ergehen würde wie dem Peisthetairos in des Aristophanes Vögeln. Dieser ist dem an der Fülle der Gesetze und an Prozessen kranken Athen entflohen ins Reich der Vögel, aber auch nach Wolkenkuckucksheim kommt ihm der junge Mann, der in Gesetzen reist, nachgelaufen, und prügelt er ihn zu dem einen Thore hinaus, so kommt er zum andern wieder herein. Nicht um die Herstellung eines idealen Zustandes handelt es sich, sondern um die Heilung eines kranken. Wir leiden unter einem Recht, das ein Hohn auf alles Recht ist, unter einem Gesetzeswust, der den gesetzlichen Sinn unmöglich macht, und unter einer Volkswirtschaft, in der man erst aufhören muß, Güter zu schaffen, wenn man welche bekommen will. Daß es auf diesem Wege nicht mehr weitergeht, daß jedes neue Gesetz, jeder weitere Eingriff des Staats in die Volkswirtschaft, jede Belastung des Staats mit neuen Aufgaben, jede Vermehrung der Zahl der Beamten die Übel nur schlimmer macht und den Wirrwarr vollendet, lehrt die tägliche Erfahrung. Gehts nicht mehr vorwärts, so bleibt nichts übrig, als den Wagen zurückschieben, die Menschen wieder in einfache, natürliche Verhältnisse zu versetzen, die uns u. a. auch das Glück wiederbringen würden, daß jeder einzelne wieder Persönlichkeit, Individualität werden könnte, während jetzt die meisten dazu verurteilt sind, zeitlebens Massenteilchen oder Maschinenteile zu bleiben. Wie die Hausfrau des Sonnabends den alten Schmutz hinausfegt, damit der neue Schmutz der nächsten Woche Platz finde, so hat das Menschengeschlecht von Zeit zu Zeit in alles verwüstenden Kriegen: in der Völkerwanderung, im dreißigjährigen Kriege, in den Revolutionskriegen den alten Kulturwust weggeschafft, um für die Aufhäufung neuen Wustes Platz zu schaffen; diese Aufgabe steht uns wiederum unmittelbar bevor, und es kommt darauf an, ob wir Deutschen klug genug sind, den Prozeß für uns so unblutig, so schmerzlos und vorteilhaft wie möglich zu machen. Wie sehr oder wie wenig dann unsre Nachkommen sich beeilen werden, den alten Wirrwarr wieder herbeizuführen, ist nicht unsre Sorge; jedes Geschlecht hat nur für das zu sorgen, was ihm unmittelbar obliegt. Und eine Sorge erleidet gar keinen Aufschub: die Sorge um Brot, oder was das nämliche ist, um Land.


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