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Elftes Kapitel

Die bisherige Sozial- und Wirtschafts-Politik des Deutschen Reichs

Also ein Ausweg muß gefunden werden. Haben ihn unsre Regierungen vielleicht schon gefunden? Bis jetzt lassen sie nichts davon merken. Von drohenden Gefahren reden sie zwar viel, aber schon, daß sie die Sozialdemokratie als die eigentliche und Hauptgefahr bezeichnen, ist wenig geeignet, Vertrauen in ihre Weisheit zu erwecken. Darin vielmehr liegt die Gefahr, daß auch nicht einmal die Sozialdemokraten deutlich erkennen, wo eigentlich der Fehler steckt, und daß uns ohne die Beseitigung dieses Fehlers der Umbau, den sie planen, nichts nützen könnte, während wir, wenn er beseitigt würde, auch ohne Umbau ganz gut fertig werden würden. Im ganzen haben die bisherigen Maßregeln der Regierungen keine andre Wirkung gehabt und können sie keine andre haben, als daß sie die Übel verschärfen und die Katastrophe beschleunigen.

Da wäre zuerst die Repression. Will der Leser ganz genau wissen, wie die Repression aussieht? Es war hinter der Theresienwiese in München, wo ich einmal zusah, wie ein Fuhrknecht seine Gäule aus einer Sandgrube herauspeitschte – es kann auch ein Steinbruch gewesen sein. Eben hatten sie die Last glücklich auf die Landstraße herausgebracht, da bemerkte er, daß der Wagen zu weit links geraten sei und daß die Pferde beim nächsten Schritt den gegenüberliegenden Abhang hinabstürzen würden. Er sprang also vor und peitschte die Tiere so lange ins Gesicht hinein, bis sie den Wagen wieder in die Grube zurückgestoßen hatten. Das ist das getreue Bild der Repression. Zu weitrer Beleuchtung möge man sich noch eine jener in Preußen beliebten Szenen vergegenwärtigen, wo bei Festlichkeiten und Aufzügen durch Absperrmaßregeln ein paar tausend Leute auf einen engen Raum so zusammengedrängt werden, daß sie sich nicht rühren können und die Polizei dann plötzlich »Zurück!« oder »Auseinander!« kommandirt, auf die vordersten einhaut und sie »wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt« verhaftet. Wie individuelle Nöte, so kommen auch vereinzelte Verbrechen und Auflehnungen gegen die bestehende Ordnung überall und immer ohne besondre Verschuldung der Gesellschaft vor. Aber am organisirten Verbrechertum und an der revolutionären Gesinnung der Massen ist, wie am Massenelend, stets die Verfassung der Gesellschaft schuld. Die herrschenden Stände versetzen die dienenden in eine Lage, wo der Konflikt mit dem Gesetz unvermeidlich wird, und dann hauen sie ein. Zwischen ihnen und dem Fuhrknecht besteht nur der Unterschied, daß sich dieser bei seiner rohen und grausamen Handlungsweise weiter nichts denkt, während sich unsre herrschenden Stände auch noch dazu einbilden, sie erzögen das Volk und verwirklichten die Sittlichkeit durch ihre Repressivmaßregeln. Ja die Frommen unter ihnen, die das Neue Testament zwar in Millionen Exemplaren verteilen, selber aber nicht kennen, schmeicheln sich sogar mit dem Wahne, sie erwiesen unserm Herrgott einen Dienst damit und hätten von ihm Lohn dafür zu erwarten. Welche Früchte diese Art Volkserziehung bringt, weiß jeder, der Pferde zu erziehen hat. Denn für Tier- und Menschenerziehung gelten bis zu einem gewissen Punkte dieselben Regeln, und Herbarts Frage: »Wie kommt es, daß jeder Kettenhund, und nur der Kettenhund, bösartig ist?« wiegt ganze pädagogische Bibliotheken auf. Also kurz: wenn die Repression nicht mehr bloß einzelnen Fallen gilt, sondern die planmäßige Niederhaltung einer unzufriednen Masse zum Zwecke hat, dann macht sie mit der Zeit alle Armen, und die bilden in den modernen Staaten die Mehrzahl, zu gebornen und geschwornen Feinden des Staates.

Aber das ist noch nicht das schlimmste. Weit schlimmer ist, daß sie jene Not vermehrt, aus der die Unzufriedenheit entspringt. In einem dünn bevölkerten aber dabei zivilisirten und verständig verwalteten Lande ist niemand dem andern im Wege; der Nachbar macht sich nicht als Konkurrent, sondern als hilfreicher und unentbehrlicher Freund bemerkbar, und jedem bereitet der Anblick andrer Menschen, bereitet namentlich ein Besuch aufrichtige Freude. Da es keine tausendgliedeigen Gesetze und Polizeiverordnungen giebt, kommen auch keine Verstöße dagegen vor, wirkliche Verbrechen aber sind etwas außergewöhnliches, sie abzuurteilen braucht nicht öfter als Vielleicht einmal im Vierteljahre Gericht abgehalten zu werden. Je näher die Menschen einander auf den Leib rücken, desto mehr beschränken, hindern und stören sie einander, einen desto stärkern Druck üben sie auf einander aus, der entsprechenden Gegendruck hervorruft, desto mehr werden die Nachbarn aus Freunden zu bitter gehaßten Konkurrenten, desto zahlreicher werden die Interessenkonflikte, die sich anstandshalber gern in prinzipielle Gegensätze verkleiden, bis zu guterletzt jene liebliche Stimmung zur Herrschaft gelangt, die als die Grundstimmung des modernen Menschen bezeichnet werden kann, wo jeder jeden vergiften möchte. So sehr ist die Unnatur dieses Zustandes dem modernen Menschen schon zur Natur geworden, daß er über die »Klavierseuche« klagt und witzelt, während er es vielmehr als ein wirkliches und großes Unglück beklagen müßte, daß nicht mehr jedermann in seinen vier Pfählen Klavier spielen, pfeifen und singen kann, so viel ihm beliebt und so viel es ihm die Rücksicht auf seine eignen Angehörigen verstattet. Um in diesem Raubtierhause voll Haderkatzen, worein sich das ursprüngliche Paradies verwandelt hat, Ordnung zu halten, ist nun allerdings strenges Regiment nötig. Allein da jeder Paragraph und jeder Polizist an sich schon einen neuen Anlaß und Anreiz zu Übertretungen bildet (das Gesetz ist noch dazu gekommen, damit die Sünde überhandnehme, Römer 5, 20), so wächst mit der Zahl der Paragraphen und Polizisten notwendig auch die Zahl der Übertretungen. Jede Strafe aber, heiße sie Geldbuße oder Gefängnis, wird (auch abgesehen von der Erziehung des Gelegenheitsverbrechers zum gewerbsmäßigen Verbrecher im Gefängnisse) die Ursache neuer Übertretungen, weil sie ja die wirtschaftliche Lage des Bestraften verschlechtert, ihm durch Verlust der Arbeit u. s. w. die Lebensbedingungen noch mehr erschwert und ihn noch mehr erbittert. Und außerdem kosten die Gerichts- und Polizeibeamten, die Gerichtsgebäude und Gefängnisse, die Unterhaltung der Gefangnen, die Gerichtszeugen, die Untersuchungen Geld, und dieses Geld muß von der produktiven Bevölkerung aufgebracht meiden, vermindert also ihr Einkommen und erhöht ihre Not. Um des Pfennigs willen, den der Bettler beinahe bekommen hätte, werden eine Verhaftung und eine Gerichtsverhandlung vorgenommen, die, Zeugengebühren und Gehaltsquoten der beteiligten Beamten zusammengerechnet, vielleicht über zwanzig Mark kosten. In Wien hat sich kürzlich folgendes ereignet. Eine stellenlose Dienstmagd meldet sich im Krankenhause, um sich einmal satt essen zu können, und verschwindet nach dem Mittagessen; es heißt, sie sei nach ihrer Heimat Ungarn gewandert. Die Krankenhausverwaltung liquidirt der Polizei zwanzig Kreuzer für das von dem Mädchen zu Unrecht genossne Essen, und das Ministerium des Innern will diese zwanzig Kreuzer von der ungarischen Regierung erstattet haben. Diese sucht nun die Schuldnerin zu ermitteln, und die – übrigens vergeblich gebliebnen – Nachforschungen im ganzen Bereich der Stephanskrone erfordern ungefähr 13 000 schriftliche Nachfragen und Berichte. Mit 1300 Mark werden die Kosten dieser Staatsaktion wohl noch zu niedrig angesetzt sein. Also: je mehr Menschen, desto größer die Not. Je größer die Not, desto zahlreicher das Verbrechertum und der Anhang der Revolution. Je mehr Verbrecher und Revolutionäre, desto mehr Verbote und Gefängnisse, Polizei- und Justizbeamte. Je mehr Verbote und Gefängnisse, Polizei- und Justizbeamte, desto mehr Verbrechen und Übertretungen; je mehr Verbrechen und Übertretungen, desto mehr Verurteilungen; je mehr Verurteilungen, desto größer die Not; je größer die Not, desto zahlreicher das Verbrechertum u. s. f. in infinitum. So wenig sich ein Mann am eignen Schopf aus dem Sumpfe ziehen kann, so wenig vermag sich ein Volk, bei dem das malthusische Gesetz in Wirksamkeit getreten ist und mit dem es daher rückwärts geht, aus diesem circulus vitiosus zu befreien. Jede Anstrengung, sich herauszuarbeiten, stößt es nur tiefer in den Höllentrichter hinunter. Hier giebt es kein andres Rettungsmittel als entweder Verminderung der Bevölkerung oder Sprengung des Höllentrichters, d. h. Vergrößerung des Landes.

Die Sache wird noch bedeutend schlimmer, wenn der Staat, der sich allmählich in einen Höllentrichter umbildet, von Haus aus zu jenen Polizeistaaten gehört, in denen die Gesetzmacherei und die Vermehrung des Beamtentums als Grundsätze gelten und die Maßregelungs- und Bevormundungssucht zur Manie geworden ist. Darin geht nun Deutschland allen andern Ländern voran. Greifen wir aus den Tollheiten, die das Leben in dieser Hinsicht täglich bringt, ein paar beliebige heraus. In Paris pflegen die Polizeibeamten, wenn auf der Straße Stockungen eintreten, zu sagen: circulez, Messieurs! Davon hat unsre Polizei gehört und wendet nun das Rezept in ihrer Weise an. In einer kleinen Stadt z. B. wird ein Bürger, der vor seiner Hausthür mit einem Bekannten ein Geschäft verhandelt, vom Polizeiinspektor angefahren: »Sie dürfen nicht auf dem Trottoir stehen, gehen sie weg von hier!« Der Angefahrne gehorcht, bekommt trotzdem ein Strafmandat und wird vom Gericht, das er anruft, zur Zahlung verurteilt, obwohl erwiesen ist, daß er den Verkehr nicht im mindesten gehemmt hat. Vor fünfzig Jahren hatte jeder Bürger seine Bank vor der Hausthür stehen und wurde im Sommer allabendlich auf der Straße Tertulia abgehalten, wies die Spanier nennen; man brauchte nicht in die Kneipe und nicht in den Biergarten zu gehen, um Geselligkeit zu genießen. In Kaltenhardt bei Bochum wird der Vorsteher des Turnvereins wegen unbefugten Waffentragens angeklagt, weil er sich bei einem Festzuge einen altertümlichen verrosteten Säbel als Dekorationsstück beigelegt hat. Er wird zwar schließlich freigesprochen, aber erst, nachdem die Sache elf Richter und vier Staatsanwälte beschäftigt hat. In einer oberschlesischen Stadt wird ein Arbeiter angeklagt – ob auch verurteilt, erinnere ich mich nicht mehr – weil er sich im Arbeitsanzuge auf eine Bank der städtischen Anlagen gesetzt und da ein wenig ausgeruht hat. In Berlin wird ein Droschkenkutscher »wegen Verunreinigung des Straßenpflasters« verurteilt, weil er beim Füttern seines Pferdes den Hafer aus einer Hand in die andre laufen lassen und den Staub herausgeblasen hat. Diese beiden Fälle erinnern uns an eine Wahrheit, die wir neulich bei Engels lasen, die wir uns aber längst selbst aus eignen Wahrnehmungen abgeleitet hatten und auch schon weiter oben ausgesprochen haben: daß nämlich fast jede Stadtverschönerung eine Erschwerung der Lebensbedingungen der ärmern Klassen bedeutet. Diese werden dadurch immer enger zusammengedrängt, immer mehr des Lichts und der Luft beraubt; der freien Plätze, wo sie ungenirt Luft schöpfen, sich in ihrer Art erholen und vergnügen können, werden immer weniger, bis sie endlich ganz verschwinden. Auf dem Lande, wenigstens dort, wo noch keine Sommerfrischler hinkommen, können die Burschen zur Sommerszeit in jedem Teich und in jedem Bach ihren Schweiß und Schmutz abspülen. In Berlin, wo sies am nötigsten hätten, wird trotz eifriger Fürsorge der Schulbehörden noch nicht die Hälfte der Schulkinder eines wöchentlichen Bades teilhaft, weil, wie der Vossischen Zeitung ein Schulmann schreibt, die meisten den halben Nickel nicht aufbringen, der dafür zu zahlen ist. Und nun noch ein wunderschöner Fall aus der Reichshauptstadt! Ein von der Nachtschicht sehr ermüdeter Arbeiter ist in der Destille eingeschlafen. Ein Schneidermeister tritt herein, weckt ihn, und spricht die blödsinnigen Worte: »Seine Majestät werden mit Ihnen sehr unzufrieden sein.« Der Gestörte entgegnet in der Schlaftrunkenheit mit einer jener gemeinen Redensarten, wie sie der Mann aus dem Volke zur Abwehr lästiger Personen auf der Zunge bereit hat, der Schneider denunzirt den Mann wegen Majestätsbeleidigung, und anstatt daß man den Thatbestand augenblicklich feststellte und den Denunzianten mit dem wohlverdienten Fußtritt aus der Amtsstube hinausbeförderte, sperrt man den Arbeiter ein und läßt ihn mehrere Monate in Untersuchungshaft sitzen. Bei der Verhandlung ruft zwar der Vorsitzende dem Schneider zu: »Aber Mann, wie können sie denn einen Menschen in so frivoler Weife denunziren!« Aber das nützt natürlich dem Arbeiter nichts, der sein Brot verloren hat, und bei der heutigen Lage wohl auch keins mehr finden wird. Was die Leute, die sich des Brotverdienstes wegen auf der Straße herumplacken müssen, wie z. B. die Hökerinnen, hie und da von der Polizei zu erdulden haben, geht über das Tragvermögen einer durchschnittlichen christlichen Geduld weit hinaus. Die Polizei behandelt alle durch schlechte Kleidung, durch ihren Berufsstand oder der politischen Gesinnung wegen verdächtigen Personen als Einwohner eines eroberten Landes oder einer erstürmten Stadt, und dieser Behandlung entspricht natürlich die Gesinnung der so behandelten gegen den Staat. Die Herrschenden wiegen sich in der kindlichen Selbsttäuschung, daß überall da, wo noch nicht offen auf die Behörden geschimpft oder wohl gar bei patriotischen Gelegenheiten Hurra geschrien wird, unsre Staatseinrichtungen beliebt seien. Als ob irgend ein vernünftiger Mensch und Familienvater, wenn ihm nicht etwa ein Rausch die Zunge löst, so dumm und gewissenlos sein würde, seine wahre Meinung auszusprechen, wenn er weiß, daß er sich damit ins Gefängnis bringt! Seitdem die Majestätsbeleidigungs- und Beamtenbeleidigungsprozesse in Mode gekommen sind, giebts kein Mittel mehr, die Zahl der Feinde der gegenwärtigen Ordnung herauszubekommen. Sogar wenn man sich vor einem Hoch auf den Kaiser, oder auf den Papst und den Kaiser, entfernt, wird man verurteilt. Man kann dem Kaiser sehr gut sein, und doch nicht Lust haben, bei jeder unpassenden Gelegenheit ein Hoch auf ihn auszubringen, das als Zustimmung zu gewissen Regierungsmaßregeln gedeutet werden könnte, die man mißbilligt. Vielleicht wird man nächstens verurteilt, wenn man die Einladung zu einem Diner ausschlägt, wo auf den Oberrabbiner, den Papst und den Kaiser getoastet werden soll. Alle echten, alle Gordelianaturen werden vernichtet oder aus dem Lande getrieben. Ein Berliner traf vor etlichen Jahren in Nordamerika einen Landsmann mit Erdarbeit beschäftigt und fragte ihn: »Wie gehts?« »J nun, war die Antwort: man muß sich mehr rackern als daheim, aber schöner ists doch, denn hier darf ich den Präsidenten laut nen ollen Ochsen schimpfen.«

Am allerschlimmsten aber ist es, wenn man sich nicht auf die Bestrafung gesetzwidriger Handlungen beschränkt, sondern eine Idee zu unterdrücken unternimmt, die breite Volksschichten ergriffen hat. Das europäische Leben, das Kulturleben im höhern Sinne, unterscheidet sich eben, wie Ranke gesagt hat, vom asiatischen dadurch, daß in Europa niemals eine Idee die entgegengesetzten Ideen zu vernichten und die Alleinherrschaft zu erringen vermag. Und gar eine Idee mit physischer Gewalt zu erdrücken oder auszurotten, ist noch nie gelungen, nicht einmal in Spanien. Denn die Inquisition hatte nicht etwa protestantische Ideen zu unterdrücken, die waren gar nicht vorhanden, sondern ganz in Übereinstimmung mit dem Willen des spanischen Volks zwei verhaßte Nationalitäten, die Moriskos und die Juden auszurotten. Es sind nicht die Sozialdemokraten, sondern ganz andre Leute, die der Schlag trifft, wenn ein Mann in langer, ungewöhnlich strenger Untersuchungshaft festgehalten, dann gleich einem Verbrecher gefesselt vorgeführt und zu Gefängnis verurteilt wird, weil er die Institution der Monarchie einer öffentlichen Kritik unterworfen hat. Weiß doch jeder Quartaner, daß die Monarchie keine notwendige Staatsform ist, und daß das großartigste Staatswesen, das die Welt kennt, und nach dessen Rechtsgrundsätzen unsre Juristen heute noch richten, in den fünfhundert Jahren seiner größten Kraftentwicklung eine Republik war. Und nicht die Sozialdemokratie ist es, deren Ansehen darunter leidet, wenn sich bei Arbeiterausflügen Gendarmen außer Atem laufen, um einen Gesetzübertreter ertappen zu können, ihr Amtseifer aber an der Klugheit und Selbstbeherrschung der höhnisch lächelnden Arbeiter zu Schanden wird.

Das also wäre die Repression. Wie steht es nun mit den positiven sozialpolitischen Leistungen des Staates? Sie beschränken sich bei uns in Deutschland der Hauptsache nach auf die Zwangsversicherung und den Arbeiterschutz. Es war eine große und schöne Idee, die in der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 ausgesprochen wurde, daß die Kräfte des Volkslebens in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung zusammengefaßt werden sollten. Das ist in der That der Punkt, auf den es, abgesehen von der Landfrage, allein ankommt: Wiederherstellung der natürlichen Gliederung des Volks, des gesunden Organismus, der durch den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung und von der Bureaukratie zerstört worden ist. Leider ist von dieser Idee bei ihrer Verwirklichung das Gegenteil herausgekommen: statt der Korporationen ein System von Vereinen und bureaukratischen Zwangsanstalten, an denen das Volk wenig Interesse und an deren Verwaltung es teils keinen, teils nur einen sehr untergeordneten Anteil hat. Wer noch nicht weiß, was für ein Unterschied ist zwischen Korporation und Verein, der mag sich aus Brentanos Geschichte der englischen Gewerkvereine Aufschluß holen; hier müssen wir uns auf ein paar Andeutungen beschränken. Wenn die fünfzig Schuster einer Mittelstadt eine lebenskräftige Innung haben, so wird diese für alles sorgen, was sich der einzelne Schuster oder Schustergesell nicht selbst verschaffen kann. Sie wird vor allem die Rohmaterialien im Ganzen und gegen Barzahlung, daher gut und billig einkaufen, sie wird Maschinen anschaffen, die von ärmern Mitgliedern abwechselnd leihweise benutzt werden können; sie wird durch Beschränkung der Mitgliederzahl dafür sorgen, daß es den Mitgliedern niemals an Kundschaft fehle, und daß die Preise für Schuhwaren nicht unbillig sinken. Sie wird dafür sorgen, daß den Mitgliedern alle Verbesserungen ihres Handwerks und die neuesten Muster schnell bekannt werden. Arbeitet die Innung auch für auswärtige Märkte, so wird sie stets über die Veränderungen und Schwankungen des Marktes genau unterrichtet sein, am Orte selbst wird sie vielleicht einen oder ein paar Genossenschaftsladen aufthun. Sie wird sich nicht gewissenloser Lehrlingszüchterei und Lehrlingsausbeutung schuldig machen, sondern, der Zukunft der Söhne ihrer eignen Mitglieder eingedenk, darauf halten, daß die Zahl der Lehrlinge stets kleiner bleibe als die der Gesellen. Durch festes Zusammenhalten werden ihre Mitglieder die Kunden zur Barzahlung zwingen. Solchergestalt wird dafür gesorgt sein, daß jeder ordentliche und fleißige Meister – unordentliche und faule stößt das Mittel aus und. überläßt sie ihrem Schicksal – sein Auskommen habe und für seine alten Tage einen Sparpfennig zurücklegen oder sich ein Ausgedinge sichern könne. Die Fürsorge für außerordentliche Nöte ist bei solcher Verfassung der Korporation Nebensache und Kleinigkeit. Das Mittel wird stets Geld genug in der Lade haben, einem Meister, der unversehens in Verlegenheit geraten ist, mit einem unverzinslichen Darlehen drüberweg zu helfen, für einen erkrankten Gesellen oder Lehrling, den die Meisterin nicht daheim verpflegen kann oder mag, ein Bett im Spital zu bezahlen, einem alten treuen Schusterknecht, ders nicht zur Selbständigkeit gebracht hat, eine Altersrente zu gewähren. Sollte es einem Gesellen begegnen, daß er in seinem Berufe verunglückte, etwa vom Schemel fiele und ein Bein bräche, so wird die Innung auch diesen Pechvogel nicht im Stich lassen, aber sie wird nicht für den möglichen Fall, daß sich so ein Unglück aller fünfzig Jahre einmal ereignen könnte, eine Versicherungsanstalt mit gewähltem Vorstande, Beiträgen, Jahresrechnungen und Verwaltungskosten gründen. Die Verwaltungskosten werden, obwohl ihre Thätigkeit so vieles und verschiednes umfaßt, sehr unbedeutend, und der toten Arbeit an Schreibwerk, Beratungen und Sitzungen wird sehr wenig sein. Wo die Bureaukratie zehn Beamte, zehn Ries Papier, hundert Arbeitstage und zweihundert Thaler Kosten verbraucht, genügt in der Korporation ein Gang des Bedürftigen zum Obermeister und ein Griff in die Lade. Die Korporation – das ist nur die eine Seite der Sache – leistet mit möglichst geringen Mitteln möglichst viel, unsre Vereine und Versicherungsanstalten, die freien und die des Staates zusammengenommen, leisten mit einem ungeheuern Aufwande von Geld, Schreibwerk, Belästigungen, bezahlten Beamten verhältnismäßig wenig. Die Zwangsversicherung hat das Maß polizeilicher Meldungen, Nachfragen, Berichte, die des deutschen Arbeiters und Kleinbürgers Leben versüßen, vollends zum Überlaufen gebracht. Die alten englischen Gewerkvereine, die wirkliche, aus urgermanischem Geiste geborne Korporationen sind, haben, freilich nur für eine beschränkte Zahl von Arbeitern, sehr viel mehr geleistet, als die deutsche Zwangsversicherung leistet: sie haben ihren arbeitsfähigen Mitgliedern Arbeit und Existenz gesichert, und die Fürsorge für außerordentliche Notfälle erscheint, wie es die Natur der Sache fordert, nur als Nebenleistung. Wenn diese Organisation auf ein Siebentel der englischen Arbeiterschaft beschränkt geblieben ist und bei dem Versuch weitrer Ausdehnung zusammenzubrechen droht, wenn die schleichende Krisis das Sparkapital der ältern Gewerkvereine zu verzehren und die Mitglieder ins alte Elend zurückzustoßen droht, so liegt das nicht an der Organisation, sondern die Schuld trägt die Selbstsucht der herrschenden Klassen, die, um sich zu bereichern, dem tüchtigen Volke die Wurzeln seiner natürlichen Existenz abgeschnitten und es in die unmögliche Lage versetzt haben, seinen Lebensunterhalt durch Arbeiten für die Exportindustrie verdienen zu müssen. Aus dieser unsinnigen Lage kann keine noch so treffliche Organisation eines noch so tüchtigen Volks, sondern nur die Konfiskation des Grundbesitzes erretten.

In Deutschland hatte zwar der zum Nutzen der Geldleute geflissentlich verbreitete Aberglaube: die Zeit der Korporationen sei für immer vorüber, im Bunde mit der Bureaukratie den Geist genossenschaftlicher Selbsthilfe so ziemlich erstickt und das Geschick dazu vermindert; aber tot waren die Korporationen noch lange nicht, und die Bedingungen für ihre Auferstehung waren reichlicher vorhanden als in England, da wir sowohl noch ein stellenweise blühendes Handwerk wie auch kräftige Landgemeinden haben. Den wiederzubelebenden Innungen und den Landgemeinden hatten sich nur als Neues die Gewerkvereine der Fabrikarbeiter anzureihen, die sich die alten, nun auch leider verkümmernden Knappschaften zum Muster nehmen konnten. Welcher Zukunftskeim läge nicht, wenn unsre Bureaukratie so etwas zu würdigen und zu pflegen verstünde, in der Sitte bairischer Landgemeinden, dem abgebrannten Dorfgenossen so wirksam beizustehen, daß er weder der Feuerversicherung, noch eines Darlehns zum Wiederaufbau bedarf! Die Dorfgenossen bergen die etwa geretteten oder noch auf dem Felde stehenden Vorräte und sein Vieh, pflegen dieses, bestellen dem Genossen den Acker, fahren ihm die Baumaterialien an u. s. w. Daß sich so etwas von oben herab nicht machen, wohl aber anregen und pflegen läßt, durch ungeschickte bureaukratische Einmischung jedoch leicht vernichtet wird, dafür hat man in unsern höhern Kreisen wenig Verständnis. Die Zwangsversicherung bildet nun geradezu ein Hindernis für die Entfaltung solcher Keime, einmal weil sie den Schein erweckt, als könne und wolle der Staat alles allein besorgen, und da sie andrerseits mit den übrigen stets wachsenden Anforderungen des Staats zusammen Zeit, Geld und Kraft dermaßen in Anspruch nimmt, daß für selbständige organische Bildungen kein Lebenssaft mehr übrig bleibt.

Geradezu verhängnisvoll aber wirkt der Umstand, daß die Zwangsversicherung den Zustand, der uns droht, den die Sozialdemokratie als Vorbedingung der Endkatastrophe herbeiwünscht, den um jeden Preis abzuwenden die wahre Staatskunst für ihre dringendste Aufgabe ansehen würde, daß sie diesen schrecklichen Zustand als schon vorhanden voraussetzt, uns gleichsam darauf festnagelt und dadurch seine Herbeiführung gewaltsam beschleunigt. Im gesunden Zustande organischer Gliederung fühlt sich der Schreinergesell dem Meister und dem Schreinermittel, der Kaufmannslehrling seinem Prinzipal und der Kaufmannschaft, der Bauernknecht seinem Hofe und seiner Gemeinde solidarisch verbunden, einander aber bleiben die drei fremd, keiner hat mit dem andern etwas zu schaffen; die Zwangsversicherung aber reißt sie alle drei aus den Organen der Gesellschaft, denen sie angehören, heraus und stellt sie als »Arbeitnehmer« ihren Prinzipalen als »Arbeitgebern« gegenüber, bekräftigt also feierlich und amtlich, was ihnen die Sozialdemokratie predigt: Welches Gewerbe ihr betreibt, das ist gleichgültig; dessen vor allem müßt ihr stets eingedenk sein, daß ihr alle drei abhängig, alle drei Lohnsklaven seid, mit allen in gleicher Lage befindlichen Personen aller Länder der Erde die ungeheure Masse des Proletariats bildet, der die eine kompakte Masse der Besitzenden, mögen sie Möbelfabrikanten, Gutsbesitzer, Zeitungsverleger oder Kanonenkönige sein, als feindliche, unter allen Umständen zu bekämpfende Macht gegenübersteht. So wird das organische Gewebe der Gesellschaft bei uns vollends zerrissen und aufgelöst, und die Atome werden dann nach dem mechanischen Maßstäbe ihres Geldeinkommens in zwei Massen geschichtet: unten kommen die drei Viertel oder fünf Sechstel zu liegen, die jährlich unter 2000 Mark einnehmen, oben drüber die wohlhabende und die reiche Minderheit, und keine innre natürliche Anziehung mehr erhält jeden Teil in seiner Lage, nur noch die Flinte, die schießt, und der Säbel, der haut, zwingt die Masse der Armen, an ihrem Ort still zu halten und denen droben, deren Druck auf ihr lastet, Frondienst zu leisten.

Und ferner setzt die Zwangsversicherung voraus, daß die ärmere Minderzahl außer stande sei, für sich selbst zu sorgen und sich, sei es durch persönliche Ersparnisse, sei es durch Verbrüderung mit Standesgenossen, für die Tage der Krankheit, des Unglücks, des Alters eine Zufluchtsstätte zu gründen. Thatsächlich mögen wir beinahe so weit sein; aber schrecklich ist es und entmutigt jeden Versuch energischer Selbsthilfe, wenn der Staat schon dem frischen Burschen sagt: Nu bist für zeitlebens zur Ohnmacht verurteilt; du bist nicht in der Lage, dir selbst ein sorgenloses Alter zu schaffen; ich, der Staat, werde für das Nötigste sorgen, und wenn er ihm nun die Kette des Klebegesetzes anhängt, die er fünfzig Jahre lang mit sich herumzuschleppen hat, wenn er nicht den mühsam gesammelten Anspruch verlieren will. Namentlich bei den Bauern und ländlichen Arbeitern der Mark Brandenburg ist denn auch das Klebegesetz so verhaßt, daß seine Durchführung dadurch sehr erschwert wird. Hat doch der Bund deutscher Landwirte die Aufhebung des Markenzwanges in sein Programm aufgenommen.

Großartig ist die Idee wie ihre Ausführung, ohne Frage! Aber nichts weniger als erfreulich, denn sie trägt die Keime beider unerfreulichen Gestaltungen in sich, denen, wie wir gesehen haben, die beiden entgegengesetzten Strömungen unsrer Zeit zutreiben. Den konservativen Neigungen entspricht sie dadurch, daß sie alle Lohnarbeiter zu Staatssklaven zu machen versucht; es lauert in ihr der Hintergedanke: schon die Furcht, durch Verlassen eines Dienstverhältnisses seine Ansprüche an die Versicherungsanstalten zu verlieren, werde den Lohnarbeiter gefügig machen, sich allen Bedingungen zu unterwerfen, die ihm sein Brotherr, gestützt auf die ihm zur Seite stehende Staatsgewalt, auferlegt. Dazu verstärkt die Zwangsversicherung sehr erheblich jene Polizeiaufsicht, der auch der nichtbestrafte Arbeiter in Deutschland unterworfen ist. Andrerseits bietet dieses neue staatssozialistische Segel seine ganze Fläche dem Winde dar, der uns dem Sozialismus zutreibt. Je mehr die Arbeitlosigkeit um sich greift, und gesundheitsschädliche Arbeit samt Entbehrungen aller Art das Leben des Arbeiters verkürzen, desto ungereimter wird es erscheinen, daß der Staat eine Zwangsversicherung einführt, um deren Früchte so viele kommen, teils weil sies nicht erleben, teils weil sie die Beiträge nicht zahlen können oder – nicht siech genug sind. In München betrug sonst, wie die »Münchener Post« berichtet, die Zahl der Mitglieder der Ortskrankenkasse VIII durchschnittlich 10-12000; letzten Januar ist sie infolge der herrschenden Arbeitlosigkeit auf 7000 heruntergegangen. Im Tischlergewerbe haben nach angestellter Berechnung von hundert Versicherungspflichtigen nur vier Aussicht, Reichsaltersrentner zu werden (Sozialpolitisches Zentralblatt vom 6. März 1893), Nie Kaiserliche Werft in Kiel nimmt Zimmerleute, die über vierzig Jahr alt sind, überhaupt nicht an. Warum sollten Privatunternehmer nicht denselben Grundsatz befolgen? Und wie soll dann der Mann die dreißig Jahre bis zum Eintritt seiner Rentenberechtigung hinbringen? Ein Arbeiter, so stand dieser Tage in den Zeitungen zu lesen, hatte sich in einer ungesunden Industrie die Schwindsucht zugezogen. Mit seinem Antrag auf Invalidenrente wurde er jedoch abgewiesen, weil er sich die Summe der berühmten zwei Sechstel des § 9 noch verdienen könne – mit Dütenkleben; wenn ihm nur seine Berufsgenossenschaft die erforderliche Anzahl Düten zu kleben geben möchte! Was die Krankenversicherung anlangt, so wird diese von Landleuten wie von städtischen Unternehmern als eine Anstalt für die Arzte und Apotheker bezeichnet. Der Preis der Apotheken ist durch das Gesetz schon jetzt bedeutend gesteigert worden. Ein Maurermeister erzählte mir, daß ihm die enorm hohen Kurkosten für einen seiner Leute aufgefallen seien. Da habe er denn nachgeforscht und gefunden, daß dem Manne Wein verschrieben worden sei, Wein aus der Apotheke! Hätte er gewußt, daß der Mann Wein trinken solle, so hätte er ihm aus seinem Keller welchen geschickt. In diesem Falle war die verschriebne Medizin wenigstens gesund, was nicht immer der Fall ist. Vor Jahren war ich mit einem alten Sanitätsrat befreundet. Eines Tages war ich veranlaßt, ihn zu fragen, was er dem N. N. verschrieben habe. Da fuhr mich der alte Herr an: »Was soll denn dem ausgemergelten Kerle die Medizin nutzen? Ja, wenn ich ihm täglich ein Stück Rehbraten und eine halbe Flasche Burgunder schicken könnte! Das ist die Medizin für solche Kranke!« Außer diesem habe ich – lange vor der jetzigen Bewegung für medizinlose Heilkunde – noch an zwei andern Orten zwei alte hochangesehene Ärzte kennen gelernt, die sich, gleich jenem ersten, immer erst längere Zeit drücken ließen, ehe sie ein Rezept schrieben, weil, wie sie mir im Vertrauen gestanden, das viele Rezeptschreiben gegen ihr Gewissen gehe, da das Mediziniren durchschnittlich mehr schade als nütze und anhaltendes Mediziniren unter allen Umständen und unbedingt schädlich sei. Ehedem hatte man in Frankreich das Sprichwort: »Den Armen hat Gott die Gesundheit, und den Reichen die Medizin gegeben.« Mit der Gesundheit der Armen ists im Zeitalter der Industrie vorbei, und nun hat man sie auch noch mit der Medizin beglückt. Gerade die innern Krankheiten der Industriearbeiter sind meist derart, daß Ruhe, frische Luft und kräftige Nahrung die besten Heilmittel für sie sein würden. Freilich sind diese Güter schwieriger zu beschaffen als eine Flasche Medizin, und wären sie zu beschaffen, so wäre es noch die Frage, ob und wie sie von den Leuten angewendet werden würden. Aber würde sich der verlorne oder verdorbne natürliche Instinkt nicht durch Belehrung wieder herstellen lassen? In dem Dorfe H. hatte ich ein paar Spalierweinstöcke, die samt denen meiner Nachbarn von einem achtzigjährigen Gärtner aus dem eine starke Meile entfernten Dorfe Z. besorgt wurden. Eines Tages trat der alte Mann bei mir ein und sagte: »Gestern habe ich mich überarbeitet, das soll der Mensch nicht thun; heute morgen fühlte ich mich krank, da dachte ich, du wirst heute nicht arbeiten, wirst dich mit einem Spaziergang kuriren und in H. nach den Weinstöcken sehen.« Burgunder beanspruchte der übrigens nicht; sein täglicher Schnaps thats auch. Also – um auf die Zwangsversicherung zurückzukommen – bei dieser Lage der Versicherten werden über kurz oder lang alle Leute mit Einkommen unter 2000 Mark in den Ruf einstimmen: »Staat, fange den Bau nicht mit dem Dachfirst, sondern mit dem Grunde an! Versichere uns gegen Arbeitlosigkeit! Sichere uns jahraus jahrein guten Verdienst! Reiße uns nicht durch den Militärdienst und mehrmalige Einberufungen so oft aus unsern bürgerlichen Verhältnissen heraus, oder stelle uns fest an, wie deine Beamten, deren Gehalt fortläuft, Während sie einberufen sind, auch wenn sie monatelang krank oder aus irgend einem Grunde beurlaubt sind. Für Krankheit, und, falls wirs erleben, fürs Alter wollen mir uns dann schon selbst versichern!« Bei der schnell wachsenden Massenarmut und der gräßlichen Menge von Verwundungen und Verstümmlungen durch Maschinen, und nachdem die alten natürlichen Unterstützungsverbände teils zerstört, teils den plötzlichen Menschenanhäufungen gegenüber ohnmächtig und ratlos geworden waren, hatte ja die Regierung wirklich Veranlassung, dieses gefährliche Palliativ zu erfinden, und von Tausenden wird es ohne Zweifel als Wohlthat empfunden. Aber aufrichtige Freude hat doch niemand daran als die Sozialdemokraten, die es mit richtigem Instinkt als einen Schritt zur Verwirklichung ihres Ideals begrüßen.

Notwendiger als die Zwangsversicherung war der Arbeiterschutz, dessen Notwendigkeit ein trauriges Zeugnis dafür ablegt, in welcher Barbarei wir leben. Aber helfen wird er nicht; die Leiden, von denen er erlöst, werden nur andern Leiden weichen. Wenn die Abkürzung und teilweise Ausschließung der Frauen- und Kinderarbeit den Lohn der Männerarbeit entsprechend erhöhte, so wäre der Arbeiterschutz eine wirkliche Wohlthat. Er hat aber meist nur zur Folge, daß die Arbeiterinnen und die jugendlichen Arbeiter durch Maschinen ersetzt werden. Indem nun ihr Verdienst wegfällt und dabei der Verdienst der Männer nicht steigt, so wächst das Elend und namentlich die Zahl der Arbeitlosen. Das ist ja immerhin auch schon ein Vorteil, indem dadurch die Krisis verschärft und die Katastrophe beschleunigt wird; nur um so eher werden sich die Regierungen gezwungen sehen, die Personen zu zählen, für die schlechterdings keine Arbeit im Lande mehr aufzutreiben ist.

Der Sozialpolitik ist eine Steuer- und Wirtschaftspolitik zur Seite getreten oder vielmehr vorangegangen, von der man sich wohlthätige soziale Wirkungen versprochen hat. An den neuen Steuergesetzen Miquels ist der wenn auch nur schüchtern hervortretende gute Wille zu loben, die obern Hunderttausend ihren Kräften gemäß zu den Staatslasten heranzuziehen und aller Bochumerei gründlich ein Ende zu machen. Die industriellen Schutzzölle mögen hie und da eine scheinbare oder vorübergehende Besserung bewirkt haben, aber ihr schließlicher Erfolg ist doch nur die Verstärkung der Überproduktion gewesen, und längst schon büßen wir den künstlichen Aufschwung mit neuen Absatzstockungen. Am verderblichsten haben in dieser Beziehung die Exportprämien gewirkt; die für Zucker z. B. haben zwar den Unternehmern Reichtümer gebracht, aber weder zum Nutzen noch zur Erbauung der Arbeiter. Die Agrarzölle endlich können nur als eine beklagenswerte Verirrung bezeichnet werden. Die Brotverteuerungspolitik ist etwas ganz modernes, früher niemals dagewesenes. Aller Regierungen aller Zeiten und Völker erste Sorge ist auf gute und reichliche Volksernährung und billiges Brot gerichtet gewesen. Erst in einer Zeit, wo der Begriff des Volks ganz geschwunden oder vielmehr auf die herrschende Kaste beschränkt und das eigentliche Volk zum allerbilligsten Arbeitsvieh hinabgedrückt worden war, konnte die englische Aristokratie auf den Gedanken verfallen, Agrarzölle einzuführen; und daß sich fünfunddreißig Jahre nach deren Abschaffung in Deutschland eine Parlamentsmehrheit für die nämliche Verirrung gefunden hat, ist geradezu unbegreiflich. Es ist richtig, daß in England die Landwirtschaft vollends zu Grunde zu gehen droht, aber nicht der Freihandel bringt sie um, sondern daß man den Bauer, der sein Getreide selbst verzehrt, von der Scholle getrieben hat und die Landwirtschaft nicht mehr zur Erzeugung der Nahrung fürs Volk, sondern gleich allen andern Gewerben nur noch zu dem Zwecke betreibt, Geld herauszuschlagen. In Deutschland sind wir trotz überhandnehmender Rentabilitätswirtschaft bisher noch nichts davon gewahr geworden, daß der Körnerbau bei niedrigen Getreidepreisen eingeschränkt und bei hohen ausgedehnt würde. Nicht unsre Landwirtschaft schwebt in Gefahr, sondern nur eine Anzahl von Gutsbesitzern. Alle Ausreden, mit denen die Agrarier ihre Rücksichtslosigkeiten zu rechtfertigen suchen, zerrinnen in nichts vor den zwei Thatsachen, daß die Agrarzölle gar keinen Zweck hätten, wenn sie die Erzeugnisse der Landwirtschaft nicht teurer machten, und daß die ganze Zeit über, wo wir den Fünfmarkzoll gehabt haben, bei allen Preisschwankungen der Roggen in Deutschland fast genau um den Zoll höher gestanden hat als aus dem Weltmärkte. Was der Getreidezoll bedeutet, das ist an der sächsisch- und schlesisch-österreichischen Grenze klar zu Tage getreten, wo die arme Grenzbevölkerung, um sich leidlich satt essen zu können, viele Monate lang ihr Mehl und Brot auf meilenlangen Wegen, bei Winterkälte Flüsse durchwatend, aus Böhmen und Österreichisch-Schlesien geholt hat, dabei wie Wild von Grenzjägern gehetzt und teilweise wegen »Bandenschmuggels« vor Gericht gezogen worden ist, bis – leider erst als die schlimmste Teuerung schon vorüber war – das Reichsgericht entschieden hat, daß die Steuerbehörden den Grenzbewohnern das gesetzlich gewährleistete Recht, Lebensmittel für den eignen Bedarf in kleinen Mengen zollfrei über die Grenze einzuführen, zu Unrecht willkürlich beschränkt haben. Einem christlichen Staate des neunzehnten Jahrhunderts blieb das Unerhörte vorbehalten, zum besten einer reichen Minderheit arme Leute als Verbrecher zu behandeln, weil sie das zum Sattessen erforderliche Brot an einem Orte kauften, wo es einen für sie erschwinglichen Preis hatte.

Und alle diese gehässigen Maßregeln sind vergebens gewesen, wenn sich die Regierung nicht beizeiten entschließt, das Heilmittel anzuwenden, das wir in einem spätern Kapitel nennen werden. Landgüter, die bei wiederholter Erbteilung immer mehr mit Schulden belastet werden, bis ans Ende der Zeiten der Familie des angestammten Besitzers zu erhalten, ist rein unmöglich. Die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse mögen durch künstliche Mittel noch so hoch geschraubt werden: aus einem Rittergute mittlerer Größe den nach heutigen Begriffen standesgemäßen Unterhalt für eine adliche Familie und außerdem noch doppelt oder dreimal so viel für die Hypothekengläubiger herauszuwirtschaften, bleibt einmal unmöglich. Verteuerung der Lebensmittel bedeutet Herabdrückung der Lebensführung der gewerblichen Arbeiter; gleichzeitig suchen die Gutsbesitzer den Lohn, d. h. die Lebenshaltung der ländlichen Arbeiter noch weiter hinabzudrücken. Beide Klassen von Arbeitern stehen aber bereits so tief, daß sie ein weitrer Druck arbeitsunfähig und nebenbei auch fürs Militär untauglich machen würde, soweit sie das nicht schon find. Ein Konsistorialrat erzählt, Zeitungsberichten zufolge, daß er einmal einen schlesischen Großgrundbesitzer besucht und dieser ihm seine schönen Ställe gezeigt habe. Als man zu den Arbeiterwohnungen gekommen sei, habe der Herr gesagt: »Hier kann ich Sie nicht hineinführen; die Arbeiter wohnen schlechter als die Schweine.« Und auf seine Bemerkung, daß müsse geändert werden, habe jener geantwortet: »Das geht nicht; das würde die Arbeiter von ganz Schlesien rebellisch machen,« Aber weiter hinunter gehts auch nicht; es läßt sich aus den Arbeitern kein Tropfen mehr herauspressen für die Rente des Gutsbesitzers und den Zins des Kapitalisten, und wenn des Kapitalisten Guthaben zu groß wird, so muß eben der Gutsbesitzer weichen, so schade es um die Familie sein mag.

Die einzige der bisher ergriffnen Maßregeln, die in der Richtung nach dem wirklichen Auswege zu liegt, ist die Errichtung von Rentengütern. An die Thätigkeit der Ansiedlungskommission in Posen und Westpreußen schließt sich die der Generalkommissionen in den übrigen alten Provinzen Preußens, und namentlich in Schlesien scheint die Sache einen guten Fortgang zu nehmen. Aber das ist doch nur ein kleiner Anfang; einmal ist für die meisten Versorgungsbedürftigen das in Preußen verkäufliche Land viel zu teuer, und dann ist das für diesen Zweck verfügbare Land nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Würden ein paar Tausend Rittergüter vergantet und die Parzellirung würde nicht der Willkür der Hypothekengläubiger überlassen, sondern von den Generalkommissionen geleitet, so wäre das schon eine kräftigere, wenn auch noch keine ausreichende Hilfe. Die Kolonisation endlich ist zwar der Idee nach das richtige, allein ob unsre bisher erworbnen oder noch zu erwerbenden Kolonien mit der Zeit dem Bedürfnis entsprechen, ob sich eine davon zur Ackerbaukolonie eignen wird, darüber läßt sich noch nichts sagen; ein Indien ist keinesfalls darunter.

 

Anhang
Vom Manchestertum

Adam Smith und seine Schüler stellen folgende Grundsätze auf: Jeder einzelne versteht seinen Vorteil selbst am besten. Wenn jeder einzelne seinen eignen Nutzen sucht, so wird damit zugleich das Gemeinwohl am besten gefördert. Die individuelle Freiheit darf nicht weiter eingeschränkt werden, als es das Interesse der Gesamtheit unbedingt fordert. Die Einmischung des Staates ins Erwerbsleben schadet im allgemeinen mehr, als sie nützt. Diese Sätze bedürfen zwar einiger kleinen Korrekturen und Einschränkungen, sind aber der Hauptsache nach alle vier richtig. Wenn ich nun trotz dieser Anerkennung ein entschiedner Gegner der Manchestermänner bin, die sie zu vertreten vorgeben, so habe ich diesen scheinbaren Widerspruch mit dem soeben angewandten Worte »vorgeben« schon hinreichend begründet. Die Manchesterleute sind keine ehrlichen Anhänger und Schüler Adam Smiths, das beste von ihm unterschlagen sie. Die Vertreter der »klassischen Ökonomie« in England haben selbst den Staat gebildet in einer Zeit, wo das Volk nichts war, und haben sich in das Erwerbsleben nicht bloß eingemischt, sondern es beherrscht und geleitet. In heuchlerischer Verdrehung der Worte nannten sie den Mißbrauch ihrer Allmacht Freiheit, und wenn die Arbeiter Vereine gründeten, um sich mit gemeinschaftlichen Anstrengungen der Knechtschaft zu entziehen, so nannten sie das Freiheitsbeschränkung. Über Freiheitsbeschränkung klagten sie, wenn ihnen die Freiheit genommen werden sollte, die Fabrikkinder auszubeuten. Das sollte eine Verletzung des »freien Arbeitskontrakts« sein; als ob sechsjährige Kinder einen freien Kontrakt schließen und sich rechtsgültig in die Sklaverei verkaufen könnten! Unter Freiheit verstanden sie also die unbeschränkte Freiheit der Unterdrücker, die so weit gehen sollte, daß es den Unterdrückten nicht zu gestatten sei, sich zu mehren. Wie der Interessenkonflikt zwischen Fabrikanten und Landlords den Unterdrückten schließlich die Koalitionsfreiheit gebracht hat, wie diese aber jetzt schon wieder als »unerträgliche Tyrannei« und »Verletzung der Freiheit des Arbeitsvertrags« beklagt wird, ist bereits dargestellt worden.

Unsre deutschen Manchesterdoktrinäre sind meist ehrliche Männer gewesen, Ich sage gewesen, weil es heute kaum noch praktisch ins Gewicht fallendes Manchestertum giebt. allein einerseits haben sie das Wesen der Freiheit nicht erfaßt, andrerseits sind sie von Interessenkliquen abhängig geworden. Sie haben einseitig die Freiheit der Geldleute verteidigt, dagegen für alle Bestrebungen der Handwerker und Bauern, sich von der Herrschaft des mobilen Kapitals zu befreien, nur Spott und Hohn gehabt. Es ist wahr, daß sich die Zünftler auf dem Holzwege befinden, allein statt ihnen den richtigen Weg zu zeigen, hat man mit der im Interesse des Großkapitals und der Großindustrie immer und immer wiederholten Behauptung, das Handwerk sei tot, die Handwerker entmutigt. Die Raiffeisenschen Darlehnkassen, die allein geeignet sind, das Kreditbedürfnis der Bauern zu befriedigen und die auch in den Städten sehr wohlthätig wirken würden, werden als »Pfaffentrug« begeifert, weil sie den Vorschußkassen Konkurrenz machen, die gar keine Hilfe für unbemittelte Handwerker und Bauern, sondern nur Dividenden abwerfende Bankgeschäfte sind. Was endlich den Arbeiterschutz anlangt, so verdienen die Herren den Spott, den ihnen Bebel neulich zuschleuderte, sie folgten zögernd der von den Sozialdemokraten vorangetragnen Fahne. Es ist richtig, daß der Arbeitsschutz, sobald er z. B. eine Maximalarbeitszeit für erwachsene männliche Arbeiter vorschreibt oder diesen die Sonntagsruhe sichert, einen Eingriff in die persönliche Freiheit bedeutet und daher prinzipiell verwerflich ist. Ich selbst würde sehr entschieden protestiren, wenn mir jemand die Sonntagsarbeit verbieten oder meine Wochenarbeitszeit beschränken wollte. Aber aus Gründen, die jedermann kennt, ist diese Freiheitsbeschränkung notwendig geworden. Unvernünftige Zustände erfordern unvernünftige Maßregeln, und nachdem die von den Liberalen so hoch gepriesene moderne Industrie die Freiheit der arbeitenden Klassen vernichtet hat, kann ihrer Gesamtheit ein gewisses bescheidnes Maß von Freiheit nur durch Beschränkung der Freiheit der einzelnen gesichert werden. Was ist natürlicher, als der Wunsch und das Bedürfnis, an einem Tage der Woche von der Arbeit auszuruhen! Wäre ein jeder Herr seiner Zeit und seiner Beschäftigungen, so würden es alle, bis auf einige Sonderlinge, von selber thun. Und diese Sonntagsruhe würde durchaus verständig eingerichtet sein, d. h., während man im allgemeinen der Ruhe pflegte, würde doch alles, was entweder der Familie oder der Gesamtheit unentbehrlich ist oder durch einen unvorhergesehnen Fall nötig wird, ohne Anstoß besorgt werden. Jedermann würde sich den selbstverständlichen Ausspruch Christi zur Richtschnur nehmen, daß der Mensch nicht des Sabbaths, sondern der Sabbath des Menschen wegen da, und dieser Herr ist auch über den Sabbath. Da nun aber bei der heutigen gesellschaftlichen Verwicklung der ärmere Mensch mit der Befriedigung seines Ruhebedürfnisses von vielen andern abhängt, so bleibt nichts übrig, als die Sache polizeilich zu regeln, was dann natürlich wie jede polizeiliche Regelung, unzähliche Unzuträglichkeiten und Ungereimtheiten mit sich bringt.

Am wunderlichsten benehmen sich unsre Liberalen als Hüter der Freiheit auf geistigem Gebiete. Es giebt in ganz Deutschland keinen Liberalen, der nicht für den Schulzwang schwärmte. Eher könnte man einen Mohren weiß waschen, als einem deutschen Liberalen das Geständnis abringen, daß der Schulzwang eben Zwang, daher das Gegenteil von Freiheit ist. Er wird beharrlich auf dem Satze herumreiten, daß der Schulzwang notwendig und eine Wohlthat fürs Volk sei, aber schlechterdings nicht zugeben, daß es die Bankrotterklärung des Liberalismus sei, wenn man meint, das Volk nicht anders als mit Zwang beglücken zu können.

In Wirklichkeit verhält sich nun die Sache so, daß der Liberalismus gar nicht nötig hätte, sich für bankerott zu erklären, wenn er Vertrauen auf seine Sache und den Mut hatte, wirklich liberal zu sein. Es ist gar keine Frage, daß in Deutschland und namentlich in Preußen der Schulzwang weit über das notwendige und das sittlich zu rechtfertigende Maß hinausgeht. Der Staat hat dafür zu sorgen, daß Lerngelegenheit für jedes Kind da sei, und daß kein Kind in viehischer Unwissenheit und Rohheit aufwachse. Aber der Staat hat weder die Pflicht noch das Recht, den Kindern ein Maß von Kenntnissen aufzunötigen, das über ihr Bedürfnis oder über die Wünsche der Eltern hinausgeht, er hat noch weniger das Recht, die Kinder zum Besuche einer bestimmten Schule zu zwingen, wenn ihm oder den Eltern eine andre Schule genehmer ist, und er hat am allerwenigsten das Recht, den Kindern einen Religionsunterricht aufzunötigen, von dem die Eltern nichts wissen wollen. Was die Überschreitung des notwendigen Maßes der Kenntnisse anlangt, so hat kürzlich die »Saturday Review« einen sehr hübschen Artikel gegen die auch in England eingerissene Volksbildungswut gebracht. Sie schildert zuerst das Elend des gebildeten Proletariats, das in England noch zahlreicher zu sein scheint als bei uns, und wendet sich dann gegen die zu weit getriebene Schulung der untern Klassen. Sie sagt: Nur ein Mensch mit leerem Kopfe kann sich bei einer ganz mechanischen Arbeit leidlich wohl fühlen; ein gebildeter Mann, der vierzig Jahre lang gezwungen ist, Tag für Tag von früh bis abends denselben Handgriff zu machen, wird darüber verrückt werden oder Höllenpein empfinden. Wenn die jetzt so sorgfältig unterrichteten Fabrikarbeiter zum Bewußtsein ihrer Lage kommen werden, dann wird das erste, wozu sie sich unwillkürlich gedrängt fühlen, sein, daß sie ihre Wohlthäter, die Volksbildner, die ihnen diese Pein bereitet haben, an den ersten besten Laternenpfahl hängen. Bei uns in Deutschland ziehen sie vorläufig andre Folgerungen aus ihrer Lage: sie erheben Anspruch auf ein ihrer wirklichen oder vermeintlichen Bildung entsprechendes Einkommen.

Die Vorliebe der Liberalen für den Schulzwang hat zwei Quellen. Erstens überschätzen sie den Wert der Schulbildung und überlegen sich nicht, wie verderblich er unter gewissen Umstanden wirken muß. Zweitens fürchten sie sich, im lächerlichsten Widerspruch mit ihren schönen Redensarten von der Macht des Geistes und der Wahrheit, vor dem Katholizismus; sie hegen die abenteuerlichsten und abergläubischsten Vorstellungen von der geheimnisvollen Macht des Papsttums und der Jesuiten und fürchten, wenn der Staat Lehrfreiheit gewähre, so werde binnen kurzem ganz Deutschland katholisch sein. In Wirklichkeit ist diese Gefahr nicht allein sehr gering, sondern gar nicht vorhanden, wie ein Blick auf alle die Länder zeigt, wo der katholische Klerus eine Zeit lang frei schalten durste: die Folge davon war stets die Abkehr der Massen von der Kirche. Die Stärke des heutigen deutschen Katholizismus ist eine Wirkung der vom Liberalismus ausgegangnen Unterdrückungs- und Vernichtungsversuche. Wenn sich unsre Liberalen nicht getrauen, im Geisterkampfe mit den Jesuiten fertig zu werden, so mögen sie ihre eigne Geistesmacht ganz richtig taxiren; allein daraus folgt noch nicht, daß die Polizei und der Schulzwang zur Abwehr notwendig mären. Wie jede andre geistige Macht, so zerstört nach den im geistigen Leben waltenden Gesetzen auch der Katholizismus, wo er ohne Störung von außen lebt, sich selbst; außerdem findet er die Grenzen seiner Ausbreitung an der natürlichen Abneigung des modernen Menschen gegen manche seiner Einrichtungen.

Konfessionshaß und Parteihaß haben nicht allein den ohnehin dunkeln Freiheitsbegriff noch mehr verdunkelt, sondern auch das Gerechtigkeitsgefühl getütet und den sittlichen Takt verwirrt. Denken wir an zwei Fälle, in deren einem die Behörden dem protestantischen, im andern dem katholischen Vorurteil Rechnung getragen haben auf Kosten der Gerechtigkeit und Freiheit. Denn die preußischen Behörden sind zwar ängstlich auf den Schutz des Protestantismus bedacht, nicht minder ängstlich aber auch auf die Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, und so kommt es denn, daß sie in der Verwirrung aus lauter Gerechtigkeitsliebe, zuweilen auch zu Gunsten der Katholiken eine Ungerechtigkeit begehen.

Ein evangelischer Theologe schreibt gegen den Trierer Jahrmarkt und wird wegen Beleidigung des Trierer Bischofs verurteilt. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß im Vaterlande Luthers und unter der Regierung eines evangelischen Kaisers, der zum Schutzherrn der evangelischen Kirche berufen ist, an dem Treiben der römischen Klerisei keine Kritik mehr geübt werden darf. Das bedeutet, daß man einen groben Volksbetrug nicht öffentlich tadeln darf, wenn sich dadurch vielleicht ein katholischer Bischof beleidigt fühlt. Das bedeutet einen unerträglichen Gewissenszwang, eine Fesselung der Wissenschaft, des Gedankens und des Worts. Ich bin weit entfernt davon, Rücksichtslosigkeiten gegen abergläubische Volksmeinungen zu empfehlen oder zu billigen. Verehrt das Volk irgendwo ein wunderthätiges Marienbild – ich möchte es ihm nicht rauben, weder durch den Büttel, noch durch Höhnen und Disputiren. Warum den armen geplagten Leuten einen Trost nehmen, der jedenfalls edler und harmloser ist, als die Schnapsflasche? Aber hier handelt es sich nicht um eine dem Volke teure und beständig von ihm verehrte Reliquie, sondern um eine sorgfältig im Schrein verschlossne und vergessne, höchst unliebsamen Angedenkens, um eine Reliquie, deren Unechtheit feststeht, und die der Bischof trotzdem als echt gepriesen, ohne alle zwingende Veranlassung zur Verehrung ausgestellt, und mit der er eine Million Wallfahrer nach seiner Stadt gelockt hat.

In einer andern Stadt am Rhein bestellen sich die Katholiken einen Jesuiten, daß er ihnen einige sozialpolitische Vortrage halte, die Regierung aber verbietet es. Was bedeutet das? Entweder ein klägliches Armutszeugnis für den preußischen Staat und den Protestantismus, die sich schon bedroht fühlen, wenn ein Jesuitenpater nur den Mund aufthut, oder ein Zugeständnis an die jämmerlichste, kleinlichste Unduldsamkeit. Es bedeutet einen unerträglichen Gewissenszwang, eine Fesselung der Wissenschaft, des Gedankens und des Worts. Es bedeutet außerdem das Gegenteil von Regierungsweisheit, weil dadurch zwölf Millionen Unterthanen beleidigt und erbittert werden. Wenn den Jesuiten nicht gestattet wird, Schule zu halten, so ist das noch keine Beleidigung der Katholiken, da wir ja überhaupt keine Schulfreiheit in Preußen haben. Aber wenn einem Mitgliede einer katholischen Kongregation, dem keine Missethat nachgewiesen ist oder auch nur vorgeworfen wird, wenn dem nicht freistehen soll, was jedem Sozialdemokraten und Anarchisten freisteht, so muß das natürlich jeder Katholik als eine persönliche Beleidigung empfinden; denn die Mitglieder eines von ihrer Kirche anerkannten Ordens werden dadurch für Menschen erklärt, die schon durch ihre bloße Anwesenheit und durch ihren Atem die Luft verpesten, und wenn die Jesuiten solche Ungeheuer find, so muß die ganze katholische Kirche ein schlechtes Institut und jeder Katholik ein verdächtiger Mensch sein.

Der Engherzigkeit Preußens und der Liberalen in wissenschaftlichen, konfessionellen und Schulangelegenheiten liegt ohne Zweifel die ganz achtungswerte Absicht zu Grunde, die nationale Gesinnung durch Absperrung von andern vermeintlich undeutschen oder unpreußischen Gedankenkreisen zu stärken. Leider ist diese Absicht undurchführbar. Der spezifisch preußische Gedankenkreis, worin die Jugend erzogen und das Volk festgehalten werden soll, bleibt auf das Offizierkorps und die Beamtenschaft beschränkt, und je entschiedner sich diese beiden Klassen gegen andre Gedankenkreise absperren, desto mehr entfremden sie sich die Massen. Die Massen denken und fühlen, ohne dadurch undeutsch zu werden, teils katholisch, teils freigeistig-kosmopolitisch, teils orthodox lutherisch oder reformirt, aber nicht korrekt preußisch in dem Sinne, daß ihnen das preußische Königtum und der preußische Staat über alles gingen. Anstatt der Einheit des Denkens, fördert man durch den Zwang die Verbitterung der Gegensätze. In England, wo es vielerlei Kirchen-, Sekten-, Vereins- und Privatschulen giebt, und wo sich jedermann seine Bildung in beliebigen Schulen des In- oder Auslandes holen darf, haben sich die Geister viel gleichförmiger entwickelt und ist der Nationalcharakter scharfer ausgeprägt und einseitiger als bei uns.

Also, ich bin für Freiheit, wenn sie echt und ehrlich gemeint ist; wenn nicht der herrschende Stand oder die herrschende Partei die Freiheit für sich allein in Anspruch nimmt und alle übrigen Menschen dem Zwange unterwerfen will, und wenn die Einschränkungen der Freiheit, die das geordnete Zusammenleben fordert, wirklich nur nach dem Interesse der Gesamtheit, nicht nach dem Interesse oder den Neigungen und Abneigungen der Herrschenden bemessen werden.


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