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Vorwort

Die Grenzboten schickten mir vorigen Sommer das Buch des Züricher Professors Julius Wolf zu, das der Freiherr von Stumm seitdem wiederholt im Reichstage empfohlen hat. Das Buch reizte mich zu einer Kritik, und da diese nicht an Einzelheiten kleben blieb, sondern aufs Ganze ging, so erweiterte sie sich zu einer Kritik der ganzen heutigen sozialpolitischen Diagnose und Therapeutik, sodaß sie den Leser berechtigte, am Schlusse positive Vorschläge zu fordern. So wuchs der Stoff über das Maß dessen hinaus, was eine Zeitschrift im Laufe eines halben Jahres verdauen kann und drängte zur Buchausgabe. In das dreizehnte Kapitel sind einige ältere Grenzbotenaufsätze mit aufgenommen worden.

Für uns Deutsche ist die brennende Frage der Zeit nicht, ob die Sozialdemokratie, sondern wann das Elend siegen werde; das »ob« steht außer Frage, wofern nicht binnen kurzem neue Lebensbedingungen geschaffen werden. Ohne Zweifel sind alle bedeutenden Publizisten derselben Meinung, und wenn diese Meinung nur selten und schüchtern ausgesprochen wird, so liegt das daran, daß es die Verleger der großen Zeitungen aus naheliegenden Gründen nicht gestatten.

Zu meinem im fünfzehnten Kapitel entwickelten Vorschlage bin ich nicht von der hohen Politik aus, sondern auf einem privatwirtschaftlichen Wege gelangt, auf den jeder Bewohner Schlesiens ganz von selber geraten muß, wenn er nicht ein Brett vor den Augen hat. Als Knabe hörte ich öfter von Gutsbesitzern, die für ihre Söhne im Posenschen billiges Land erworben hätten. Nachdem das Großherzogtum so ziemlich besetzt war, wandten sich unsre jüngern Landwirte nach Galizien, endlich nach Russisch-Polen, wo es jederzeit Güter um billigen Preis teils zu kaufen teils zu pachten gab. Plötzlich trat die bekannte Wendung der russischen Politik ein. Der Abzugskanal wurde verstopft, die deutschen Pächter wurden teils ausgewiesen, teils wurde ihnen das Verbleiben bis zum Ablauf der Pachtzeit nur unter erschwerenden Bedingungen gestattet, die einen großen Teil der Frucht ihres Fleißes zu nichte machten. Ich fragte mich nun: was soll fortan aus den überzähligen Gutsbesitzersöhnen werden? Sollen sie die Zahl der unverwendbaren Referendarien vermehren, oder sollen sie mit ihrem an kräftige Kost gewöhnten Magen Schulmeister mit sechs- bis achthundert Mark Gehalt werden, oder den brodelnden Kessel des Tagelöhner- und Fabrikarbeiterproletariats vollends zum Überlaufen bringen? Und ich meine, jeder Schlesier hat schon oft im stillen dieselbe Frage aufgeworfen. Dazu haben wir die oberschlesische Industrie vor Augen, die, in einen Sack gesperrt, erstickt. Seit etwa zehn Jahren verfolge ich die Spuren solcher, auch außerhalb Schlesiens, deren Gedanken sich in derselben Richtung bewegen. Nur schüchtern tauchen solche Gedanken auf, und es ist ja auch sehr schwierig, sie öffentlich auszusprechen, ohne ihr Ziel zu gefährden. Sie hätten so im verborgnen verbreitet und der Verwirklichung entgegengeführt werden müssen, wie in der Zeit von 1806 bis 1813 der Gedanke der Erhebung des preußischen Volks. Aber mittlerweile ist es spät geworden. Wenn schon Moltke dafür hielt, daß die europäischen Völker die Last des bewaffneten Friedens nicht mehr lange würden tragen können, so rückt die Gefahr in unheimliche Nähe, daß die Katastrophe an der unrichtigen Stelle ausbricht. Irgend einer muß also endlich einmal mit der Sprache heraus, wie in dem Märchen vom unsichtbaren Königskleide das Kind, und so habe ich denn die entgegenstehenden Bedenken überwunden.

In Beziehung auf das vierte Kapitel wird man vielleicht meine Zuständigkeit anfechten, da ich England nicht aus eigner Anschauung kenne. Aber was heißt denn das: England aus eigner Anschauung kennen? Kennt einer England, wenn er einen Sommer über bei einem Landsquire zum Besuch gewesen ist? Kennt einer Deutschland, wenn er ein Jahr auf einem schlesischen Rittergute oder in einem Berliner Hotel oder in einer Pension im Rheingau verlebt hat? Wie viele Engländer und Deutsche kennen denn ihr eignes Vaterland? Was weiß denn ein Bewohner der Tiergarten- oder der Wilhelmsstraße von Berlin-Ost, und ein Holsteiner von den bäuerlichen Verhältnissen Hessens und Thüringens, wenn ers nicht etwa in Büchern gelesen hat? Und was für tollen Urteilen über Schlesien bin ich in Baden begegnet! »Woher sind Sie?« fragte mich dort ein recht dürftiges Schulmeisterlein. Aus Schlesien, »Aus Schlesien? Ein aaarmes Land!« Na, dachte ich, dir wäre ein bißchen schlesische Armut zu gönnen. Laut aber sagte ich: Na ja, wenn sie ein Land mit etlichen Dutzend Millionären und vielleicht hunderttausend reichen Bauern arm nennen wollen. – Zuverlässige Angaben über die wirtschaftliche Entwicklung Englands liegen in solcher Fülle vor, daß sich darauf ganz sichere Urteile gründen lassen. Ein übrigens sehr wohlwollender Beurteiler meiner »geschichtsphilosophischen Gedanken« meint, ich hegte eine Abneigung gegen England. Das ist nicht der Fall. Die weltbekannten guten Eigenschaften des englischen Volkscharakters, deren Kehrseite die schlechten bilden, sind mir gerade ungemein sympathisch. Aber es kam in jenem wie in diesem Buche nicht darauf an, Völkerpsychologie zu treiben oder die Lichtseiten des englischen Lebens zu schildern, sondern die Deutschen vor dem Betreten eines Weges zu warnen, der ins Verderben führen müßte, selbst wenn es nicht schon zu spät dazu und für ein zweites Kolonialreich nach englischem Muster kein Raum mehr wäre auf Erden. Man braucht nur folgende Thatsachen nebeneinander zu stellen, um zu erkennen, daß die englischen Verhältnisse ungesund, unnatürlich und auf die Dauer unhaltbar sind. Großbritannien mit Irland hat auf 1000 Hektar 349 Hektar unproduktiven Boden (Deutschland 53) und nur 188 Hektar Ackerland (Deutschland 484, Preußen 503); es erzeugt nur etwa ein Fünftel der für den heimischen Bedarf notwendigen Brotfrüchte. Bei so enormem Übergewicht der Nachfrage über das Angebot müßte doch die englische Landwirtschaft eine Goldgrube sein. Statt dessen werden die Pächter bankrott, der Körnerbau nimmt von Jahr zu Jahr ab, und erst kürzlich ist, wie die Zeitungen melden, in der Grafschaft Norfolk ein 4000 Acres (1600 Hektar) großes Gut außer Kultur gesetzt worden. Die Pächter, die sich bis vor zehn Jahren in die Bewirtschaftung teilten, sind einer nach dem andern bankrott geworden. Dann versuchte es der Besitzer selbst zu bewirtschaften; da er aber nicht durchkam, so hat er das Inventar verkauft und läßt das Land brach liegen.

Da mit dieser Arbeit so wenig, wie etwa mit einer Kriminalstatistik oder einem Krankheitsbilde in einer medizinischen Wochenschrift, ein Kulturgemälde entworfen werden soll, so wird man mir hoffentlich nicht den Vorwurf machen, daß ich einzelne Stände oder gar unser ganzes Volk verleumdet hätte. Wenn der Arzt eine Krankheit beschreibt und die Heilmittel angiebt, so hat er nicht zugleich die Schönheit des Körpers zu beschreiben, in dem die Krankheit wütet. Aber je schöner und edler der erkrankte Leib ist, desto energischer müssen alle, denen an seiner Erhaltung liegt, die Krankheit bekämpfen; und von je edlern Absichten sich die meisten Angehörigen der höhern Stände beseelt wissen, desto dringender müssen sie sich aufgefordert fühlen, aus einer Lage hinauszustreben, die sie fortwährend zwingt, wider Willen Verkehrtes zu thun.

Neiße, im März 1893

Der Verfasser


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