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Zwölftes Kapitel

Ist vom technischen Fortschritt, oder von der Religion, oder von der Humanität Hilfe zu erwarten?

Wir fassen diese drei Mächte, deren erste den andern beiden innerlich fremd ist, in ein Kapitel zusammen, weil wir nach dem schon Gesagten nicht mehr viel darüber zu sagen haben. Wenn die materialistische Geschichtsauffassung Recht hätte, so märe es der technische Fortschritt, der das Massenelend erzeugt hätte, und in seinem weitern Verlaufe müßte sich die Heilung des Übels von selbst aus ihm ergeben. Wir haben aber gesehen, daß in dem typischen England schon lange vor unserm Maschinenzeitalter ein großartiger Landraub das Elend erzeugt hat, und daß die Erlösung aus der vermeintlichen grausamen Übergangsperiode, die der technische Fortschritt in den sechziger Jahren gebracht zu haben schien, eben nur scheinbar war. Mit den Wertzeugen, die unsre Technik schafft, verhalt es sich nicht anders als mit allen andern Werkzeugen: der Nutzen oder Schaden eines Schnitzmessers hängt davon ab, ob die Hand, die es führt, einem Kinde, oder einem Künstler, oder einem Tölpel, oder einem Wahnsinnigen, oder einem Verbrecher angehört; die moderne Gesellschaft macht in dieser Hinsicht den Eindruck eines rasenden Tölpels.

Den Sozialisten, besonders Hertzka gegenüber, die uns vorzurechnen pflegen, was alles die Völker mit ihren fünfzig Millionen Dampfpferdekräften ausrichten könnten, wie armselig aber das wirtliche Ergebnis ihrer Arbeit sei, meist Wolf – und hier trifft er in einem entscheidenden Punkte das Richtige – auf die einfache Wahrheit hin, daß man zur Gütererzeugung nicht bloß Maschinen, sondern vor allem Grund und Boden braucht. Die Bodenfläche eines Landes läßt sich aber nicht vergrößern, und die Produktivität der Landwirtschaft vermag der technische Fortschritt nur unbedeutend zu erhöhen. Während sich der Ertrag des Acre Landes in England im Zeitraum von sechshundert Jahren zur Not verdreifacht hat, ist die Produktivität der Baumwollenindustrie binnen sechzig Jahren um 680 Prozent gestiegen; nach Wolfs Berechnung verhalt sich die eine Steigerung zur andern wie 1 zu 27. Sehr gut sagt er Seite 342: »Das Leben ist mir durch billigere Nähnadeln und billigere Stahlfedern, und selbst was weit mehr und was am meisten von allem, was die Maschine geleistet hat, in Anschlag kommt, durch billigere Wäsche und Kleider, billigere Personen- und Frachttarife nicht wesentlich leichter geworden. Wüßte die Maschine zehn Metzen Korn, wo früher eine wuchs, und fünf Stück Vieh, wo wir früher eins aufgezogen haben, aus dem Boden zu stampfen, dann allerdings stünde es anders. Aber wann, wann wird solches möglich sein?« Wahrscheinlich niemals, antworten mir, und es ist auch gar nicht nötig, so lange auf Erden der Boden schon bei dem jetzigen Grade der landwirtschaftlichen Produktivität zureicht, und das ist vorläufig noch der Fall. Wer heißt denn die Menschen, sich in einigen Winkeln der Erde zusammendrängen und weite Flächen ganz oder halb unbebaut lassen? In dieser Beziehung hat der technische Fortschritt, als Werkzeug menschlicher Unvernunft und Selbstsucht, höchst verderblich gewirkt. Es ist nämlich nicht wahr, oder nur in sehr beschränktem Maße wahr, daß der technische Fortschritt, wenn er auch das Leben nicht leichter und schöner macht, doch wenigstens einer größern Anzahl von Menschen das Dasein ermögliche, was auch Wolf als eine seiner Hauptleistungen rühmend hervorhebt. Die kultivirtesten Provinzen Chinas scheinen dichter bevölkert zu sein als England und Belgien, und wer weiß, ob nicht die dortige sorgfältige Spatenkultur ohne unsre Ackerbauchemie einen höhern Ertrag abwirft als unsre wissenschaftlich betriebne Landwirtschaft. Sondern was der technische Fortschritt möglich gemacht hat, das ist nur die Zusammendrängung der Menschen auf enge Räume und eine Arbeitsteilung, bei der sich ein Volk auf Industrie beschränkt, sein eignes Land unangebaut liegen läßt und seine Nahrungsmittel aus andern Ländern, aus sogenannten Agrikulturstaaten bezieht. Daraus aber, daß ein solcher Zustand möglich ist, folgt keineswegs, daß er auch wünschenswert, heilsam und vernünftig sei.

Da die Bodenerzeugnisse den immer und unter allen Umständen notwendigsten, daher stets auch wertvollsten und größten Bestandteil des Volkseinkommens bilden, da zugleich die Landwirtschaft das gesündeste und beglückendste aller Gewerbe ist und den darin beschäftigten die in Geld gar nicht abzuschätzenden Güter Licht, Luft, Wasser, Naturgenuß und Bewegungsfreiheit, die dem Städter teils viel Geld kosten, teils auch nicht einmal um Geld erreichbar sind, umsonst gewährt, so folgt daraus, daß jedes Volk, mag es auch sein Nationaleinkommen auf Milliarden Pfund schätzen, arm und elend ist, das seine Nahrungsmittel nicht selbst erzeugt. Der Auslandhandel wirkt nur soweit segensreich, als er die den verschiednen Himmelsstrichen und Völkern eigentümlichen Natur- und Kunsterzeugnisse austauscht. Wenn wir Deutschen unsern Rheinwein, der nirgends als am Rhein wächst, gegen Kakao austauschen, der nur im tropischen Amerika gedeiht, so wird damit beiden Ländern eine Wohlthat erwiesen. Dagegen hat es schlechterdings keinen Sinn, wenn irgend eine europäische Nation ihr Brotgetreide, ihr Milch- und Schlachtvieh aus dem Auslande bezieht; der Handel mit den gewöhnlichen Nahrungsmitteln ist nur so weit im Gange zu erhalten, als es die Rücksicht auf wünschenswerte Verbesserungen und Züchtungsversuche, auf zweckmäßige Mischungen verschiedner Getreidesorten, und auf den Ausgleich der wechselnden Ernten erfordert. In Beziehung auf Kunsterzeugnisse verlangt die höhere Kultur, daß man Schmuck und Putz, Ziergerät und kostbare Kleiderstoffe der verschiedensten Art von Völkern beziehe, denen ihre besondre Handfertigkeit oder Geschmacksrichtung ein eigentümliches Gepräge und einen eignen Reiz verleiht; dagegen ist schlechterdings kein Grund vorhanden, warum wir gewöhnliche glatte Gewebe von Leinen, Wolle oder Baumwolle, die alle Völker der Erde gleich gut zu fertigen verstehen, aus dem Auslande beziehen oder für Ausländer herstellen sollten. Jede solche Exportindustrie ordinärer Waren macht die Arbeiter zweier Völker zu Sklaven: die des exportirenden Volks, die sich, anstatt Landwirtschaft zu treiben, in Fabriken einsperren lassen und für andre Völker spinnen und weben müssen, und die des importirenden Volks, die, um ihren Broterwerb gebracht, ihre Arbeitskraft unter ungünstigern Bedingungen in irgend einem andern Gewerbe zu verkaufen suchen müssen. Die Arbeiter solcher Exportindustrien haben deshalb auch zu allen Zeiten, schon lange vor unsrer kapitalistischen und Maschinenperiode, über Druck und Elend geklagt, und obwohl die mittelalterlichen Tuchfabrikanten auf der damaligen Entwicklungsstufe des Gewerbes noch Monopolpreise erzielen konnten, waren doch Weberrevolten an der Tagesordnung. Und bei dieser Lage der Dinge preist man auch noch die »Blüte« solcher Industrien als ein Glück und sucht sie künstlich zu fordern! Zu den verhängnisvollsten Neubildungen unsrer sprachreinigenden Zeit gehört das Wort »Wettbewerb,« weil es eine schlechte Sache durch einen edel klingenden Namen zu beschönigen sucht. Bei dem Worte Konkurrenz dachte sich jedermann das richtige: ein Konkurrent, so sagt sich ein jeder der Wahrheit gemäß, ist ein Kerl, der es auf meine Beraubung und meinen wirtschaftlichen Tod abgesehen hat. Das Wort Wettbewerb soll nun den Schein erwecken, als ob die Geschäftsleute und die mit einander in Konkurrenz geratnen Kulturvölker edle Renner oder Athleten wären, die, ohne den Mitkämpfern ein Leid zuzufügen, nur einen Lorbeerkranz oder wohl gar nur das Vorrecht erringen wollten, ihre Mitmenschen mit ihren vortrefflichen, nur aus Liebe zur Menschheit hergestellten Waren zu beglücken. Welch thörichte Heuchelei! Länderverwüstende Kriege zu dynastischen Zwecken und Raubzüge nach Mongolenart sind barbarisch, unmenschlich, tierisch. Aber barbarischer, unmenschlicher, tierischer sind die Vernichtungskriege, die die Völker, oder vielmehr die Kapitalisten der Völker heute auf wirtschaftlichem Gebiete gegen einander und zunächst immer gegen das eigne Volk führen. Denn erst nachdem das eigne Volk ins Elend hinabgedrückt ist, kann man das Ausland unterbieten. Bei den eigentümlichen Erzeugnissen der verschiednen Zonen und der verschiednen nationalen Kunstrichtungen ist von Unterbieten keine Rede.

Also wenn einem Volke der Boden fehlt, kann die Technik diesem Mangel nicht abhelfen. Im Gegenteil verlockt sie es von dem allein vernünftigen Auswege der Kolonisation auf den unvernünftigen der Exportindustrie. Aber auch bei unzureichendem Boden könnte der Wohlstand größer sein, als er ist, und die Technik könnte dazu immerhin etwas beitragen. Wer oder was zwingt uns denn, unsre Produktionskraft auf Nähnadeln, Wolljacken, Spitzen, Reklamebilder und Nippsachen zu verschwenden? Warum verwenden wir sie nicht zunächst auf das nach der Nahrung notwendigste, auf den Häuserbau und die Wohnungseinrichtungen? An Raum für Wohnhäuser fehlts glücklicherweise noch nicht, an Bausteinen, Sand, Lehm und Kalk auch nicht. Sollte das Holz fehlen, so könnte ein Forstgesetz nach dem Muster des badischen Abhilfe schaffen, das dem Privatbesitzer eine willkürliche und gemeinschädliche Ausnutzung seines Waldes verwehrt, und man würde gut thun, es noch durch das Verbot der Cellulosefabrikation zu verschärfen. Wenn nur Vernunft die Produktion regeln möchte, dann könnte immerhin die Technik auch unter den jetzigen Umständen schon Segen verbreiten. Eine sehr geringe Anzahl von Menschen würde dann hinreichen, in mäßiger Arbeitszeit unser Volk mit Kleiderstoffen, Decken, Teppichen, Bettzeug, Papier u. dgl. zu versorgen, und die frei gewordnen Arbeitskräfte würden mit der Herstellung wertvollerer Güter, namentlich gesunder, geräumiger und anständiger Wohnungen beschäftigt werden. Vorläufig aber herrscht nicht die Vernunft, sondern die Selbstsucht des Kapitalisten, die, wie wir in dem Kapitel »Die Spitze« gesehen haben, den Arbeiter zwingt, statt seiner eignen Bedürfnisse teils Luxusartikel für die Reichen, teils Exportwaren zur Bereicherung der Unternehmer herzustellen.

Wolf hat ganz Recht, wenn er meint, der Reichtum der modernen Volker sei durchaus nicht so groß, wie er zu sein scheine; man dürfe ihn nicht nach den Palästen, Schaufenstern und Schaustellungen der großen Städte beurteilen. Aber er vergißt hinzuzufügen, daß dieser Glanz nicht allein die Kulisse ist, die das Elend verdeckt, sondern zum Teil auch seine Ursache, indem die Armen gerade darum arm sind und elend leben, weil man sie zwingt, statt dessen, was sie selber brauchen, jenen Glanz zu schaffen. Und ganz und gar nicht hat er Recht, wenn er gegen den Sozialismus die abgenutzte Redensart von den lumpigen paar Mark ins Treffen führt, die bei gleichmäßiger Verteilung des Einkommens auf den Kopf fallen würden. Abgesehen davon, daß die Ergebnisse der neuen Einschätzung in Preußen das Durchschnittseinkommen erheblich höher erscheinen lassen, als bisher gewöhnlich angenommen wurde: besteht denn das Volkseinkommen in Geld? Steht die Sache etwa so, daß uns eine geheimnisvolle Macht jährlich eine bestimmte Geldsumme zuteilte, und daß wir nicht mehr Güter haben könnten, als um dieses Geld feil sind? Besteht nicht vielmehr das Einkommen in Gütern, und steht es uns, die wir mit allen Hilfsmitteln der modernen Technik ausgerüstet sind, nicht vollkommen frei, alle Güter herzustellen, die wir brauchen – immer vorausgesetzt, daß der zur Erzeugung unsrer Nahrung erforderliche Boden vorhanden ist? Braucht man zum Bau eines Hauses etwa Papiergeldscheine und Zwanzigmarkstücke, und nicht vielmehr einen Bauplatz, Lehm, Sand, Kalk, Steine, Arbeiter nebst Nahrung und Kleidung für sie? Und ist nicht dieses alles, vielleicht mit Ausnahme der Nahrungsmittel, reichlich vorhanden? Was hindert denn am Bauen? Etwa der Umstand, daß die Arbeiter kein Geld haben, die für sie zu erbauenden Häuser zu bezahlen, und daß sie dieses Geld nicht haben, weil sie keine Arbeit haben?

Damit sind wir auf jenem Gipfel der Unvernunft angelangt, zu dem sich die moderne Gesellschaft emporgeschwungen hat und auf dem sie das Recht auf Arbeit erörtert. Es ist wohl in alten Zeiten vorgekommen, daß es an Arbeitern fehlte, daß die Bürger eines Kulturstaates keine Lust hatten, die zur Erzeugung ihrer Bedürfnisse und Bequemlichkeiten erforderliche körperliche Arbeit selbst zu verrichten, daß sie daher Sklaven eingefangen und zu dieser Arbeit gezwungen haben; aber solche Narren wie wir Heutigen, die wir nicht nach Arbeitern, sondern nach Arbeit für die Arbeiter suchen, hat es in alten Zeiten niemals gegeben. Während wir Kommissionen einsetzen, die untersuchen müssen, wie wohl den Arbeitern zu Wohnungen verhelfen werden könnte, sitzen daneben andre Kommissionen und schwitzen über der Frage, wie den Arbeitern Arbeit verschafft werden könne. Ja mein Gott, wird jeder Nichtnarr sagen, warum thun sich denn die zwei Kommissionen nicht zusammen? Die Arbeiter brauchen ja nur Arbeiterwohnungen zu bauen, so sind die Aufgaben beider Kommissionen zugleich gelöst! Warum geschieht das also nicht? Es unterbleibt aus dem Grunde, weil es der Kapitalismus nicht gestattet. Der Kapitalismus erlaubt nur solche Arbeiten, bei denen für den Kapitalisten ein Profit abfällt.

Wird die Herrschaft dieser Weltmacht nicht gebrochen, dann nützt uns auch die Elektrotechnik nichts. Der jüngst verstorbne Werner Siemens hat das schöne Bild ausgemalt, wie dereinst jeder Wasserlauf seine Dynamomaschinen treiben und wie die elektrische Kraftübertragung die Triebkraft vom Flusse her ins Land, jedem Handwerker in sein Haus leiten werde; wie dadurch die Fabrik überflüssig, der Kleinbetrieb wieder hergestellt, die Industrie dezentralisirt, das verödete platte Land wieder bevölkert und belebt, die natürliche Verbindung von Landwirtschaft und Gewerbe, der unmittelbare Austausch landwirtschaftlicher und gewerblicher Erzeugnisse wieder hergestellt werden werde. Keine innere Unmöglichkeit steht der Verwirklichung dieses glücklichen Zukunftsbildes im Wege, nur die Macht des Kapitalismus; was er vermag, wird er aufbieten, durch Sperrung der Flußläufe, der Grundstücke, aller Arbeitsmittel die Wiederherstellung des gesunden natürlichen Blutlaufs im Volkskörper zu verhindern.

Also, ob die Fortschritte der Technik einem Volke zum Segen oder zum Fluche gereichen, ob sie seinen Wohlstand oder sein Elend vermehren, das hängt von den Geistesmächten ab, die den Gebrauch der Werkzeuge leiten. Vernunft und Gemeinsinn sind diese Kräfte bisher nicht gewesen, und daher haben die ungeheuern Hilfsmittel der heutigen Zeit nicht einmal die durchschnittliche Beschaffenheit unsrer Gebrauchsgegenstände zu verbessern vermocht. Zwar die wenigen Reichen statten ihre Häuser mit einer unendlichen Fülle der gediegensten und geschmackvollsten Gerätschaften und Verzierungen aus, aber der Hausrat des gemeinen Mannes ist vielfach geschmackloser, roher und zum Teil sogar unhaltbarer, als der des gemeinen Mannes in der Zeit der Renaissance und im Altertum war. In der schon erwähnten Utopie von Morris kommt unter andern hübschen Gedanken auch folgender vor. Der Langschläfer, der im einundzwanzigsten Jahrhundert aufgewacht ist und von einem alten Manne über die neuen Einrichtungen und wie sie geworden sind belehrt wird, fragt seinen Mentor: »Machte denn das Volk des neunzehnten Jahrhunderts, was es machte, nicht gut?« Die Antwort lautet: »O ja, es gab eine Art von Gütern, die man damals in allen Teilen gut machte, und das waren die Maschinen, die man zur Anfertigung der Dinge brauchte. Sie waren vollendete Meisterstücke und ihrem Zweck wunderbar entsprechend, sodaß man mit Recht sagen kann, die größte That des neunzehnten Jahrhunderts sei die Anfertigung von Maschinen gewesen, die wahre Wunder der Erfindungskraft, Geschicklichkeit und Geduld waren, aber nur zur Herstellung ungeheurer Massen wertloser Gegenstände gebraucht wurden.« Diese Unterordnung des Zwecks unter das Mittel, die übrigens heutzutage auch alle andern Lebensgebiete in Verwirrung stürzt, z. B. den Polizeibeamten aus einem Diener zum Herrn der Bürger macht, würde als unbegreifliche Verkehrtheit erscheinen, wenn die Völker ihre Zwecke selbst wählten und dafür die Mittel anordneten. In unserm Falle steht die Sache jedoch so, daß die herrschenden Klassen eben nicht die Versorgung des Volks mit Gütern, sondern ihre eigne Bereicherung zum obersten Zwecke der Volkswirtschaft gemacht haben.

Wenn die Selbstsucht der Herrschenden eine so entscheidende Rolle spielt, dann haben vielleicht die Frommen Recht, die die Religion als Universalheilmittel anpreisen? Wirkliche Religiosität, die selbstverständlich weder Frömmelei noch Heuchelei noch Glaubensfanatismus ist, regt alle edeln Kräfte zur Thätigkeit an und hält die Selbstsucht darnieder; sie kann also auch soziale Übel sowohl verhüten als heilen, wie sie denn auch wirklich im Bunde mit der Humanität den schlimmsten der englischen Fabrikgräueln ein Ende gemacht hat; aber es ist in diesem Falle doch fraglich, ob sie etwas ausgerichtet hätte, wenn ihr nicht der früher beschriebne Umschwung der wirtschaftlichen Verhältnisse und die organisirte Selbsthilfe der Arbeiter zu Hilfe gekommen wären. Diese zu organisiren, hat allerdings wiederum sie ganz erheblich beigetragen, indem die von ihr beseelten Volksfreunde dem englischen Nationalcharakter entsprechend und im Gegensätze zur katholischen Erscheinungsform der Caritas nach dem vollkommen richtigen Grundsatze handelten: to help them to help themselves. Überhaupt hat die evangelische Geistlichkeit der katholischen Kirche gegenüber Recht, wenn sie den subjektiven und individuellen Charakter der Religion auch in sozialer Hinsicht betont, während der Papst und der katholische Klerus predigen, man brauche nur der Kirche, womit die römische Priesterschaft gemeint ist, volle Freiheit zu gönnen, d. h. ihr die Herrschaft einzuräumen, so werde sie allen Streit schlichten und alle Übel heilen. Weiß doch alle Welt, daß im Mittelalter die Päpste nicht allein die ärgsten Kampfhähne und Haderkatzen, sondern auch, was in diesem Falle noch schlimmer ist, die ersten großen Kapitalisten und Ausbeuter gewesen sind, und daß die jetzige kapitalistische Wirtschaft am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus den damaligen unter Mitwirkung der Kirche gewordnen wirtschaftlichen Zuständen hervorgegangen ist. Und heute vernehmen wir aus dem Munde des protestlustigen und ewig klagenden Papstes kein Wort des Protestes und der Anklage gegen die skandalösen, nicht etwa erst im jungen Königreich Italien gewordnen, sondern Jahrhunderte alten Agrarzustände Italiens; nur der »Beraubung des heiligen Vaters,« für die doch als für die Erlösung von einem entsetzlichen Widerspruche gegen die Idee der Kirche der Papst Gott danken müßte, gelten alle seine Proteste; bekäme er nur sein schriftwidriges Königtum zurück, so möchten die italienischen Landlords, unter denen sich, nebenbei bemerkt, auch Priester befinden, ihre armen Kolonen und Tagelöhner schinden, wie sie wollen. Was die sozialen Einrichtungen der mittelalterlichen Kirche anlangt, wie milde Stiftungen und reichbegüterte Klosterorden, so sind ihre Schattenseiten allgemein bekannt und ihre Lichtseiten von uns gelegentlich hervorgehoben worden; von den Zeitumständen und dem Geiste der sie gebrauchenden hängt es ab, ob ihr Nutzen oder ihr Schaden überwiegt. Jedenfalls lassen sich Einrichtungen, die ihrerzeit aus dem Zusammenwirken eines urwüchsigen Volksglaubens mit eigentümlichen sozialen Verhältnissen erwachsen waren, nachdem eine anders geartete Zeit sie hinweggefegt hat, nicht willkürlich mit künstlichen Mitteln wiederbeleben; doch gebieten die Erfahrungen, die man mit der Säkularisirung gemacht hat, die tote Hand da, wo sie, wie in Österreich, noch besteht, zu schonen und, falls man sich zu ihrer Beseitigung entschließt, mit mehr Umsicht und Staatsklugheit dabei zu verfahren, als es früher geschehen ist. In England ist an die Stelle der geistlichen toten Hand die aristokratische getreten, die mit weit größerm Rechte tot genannt zu werden verdient. Der einzige Staat aber, wo die Säkularisirung ganz allgemein zum Heile des Volks ausgeschlagen ist, indem sie einen zahlreichen wohlhabenden Bauernstand begründet hat, ist Frankreich. Ein empörtes Volk und seine Proletarierhaufen haben mehr politische Weisheit bewiesen, als die alten Dynastien Europas mit ihren Geheimräten. Und zwar scheint der entscheidende Schritt, die Ausstattung ländlicher Proletarier mit konfiszirtem Stiftsacker, während der Schreckensherrschaft vor sich gegangen zu sein. Wenigstens hat sich das von der Nationalversammlung am 21. Januar 1790 eingesetzte Komitee »zur Abschaffung der Armut« bis zum Sturze der Girondisten solchen Plänen gegenüber ablehnend verhalten. Es war der Antrag gestellt worden, einen Teil der Nationalgüter zu parzelliren und an arme Bauernfamilien gegen Ratenzahlung zu vergeben. Dagegen erklärte das Komitee in einem seiner Berichte: wenn man dies thäte, so würde das Staatswohl darunter leiden, »weil, wenn der Arme Grundbesitzer würde, dem Fabrikanten und dem Großgrundbesitzer die Arbeiter fehlen würden.« (»Neue Zeit« S. 602, nach Boris Minzes: Die Nationalgüterveräußerung während der französischen Revolution, Jena, Gustav Fischer.)

Geradezu verderblich in sozialer Beziehung wirkt die Religion, wenn sie im Sinne reaktionärer Regierungen gepflegt oder vielmehr zum Kappzaum für das gemeine Volk mißbraucht wird. Der richtige K. K. Hofprediger reduzirt das ganze Christentum auf die paulinischen Ermahnungen zum Gehorsam gegen die obrigkeitliche Gewalt. Diese Ermahnungen haben aber mit dem Kerne des Evangeliums gar nichts zu schaffen, sondern sind lediglich aus den praktischen Bedürfnissen hervorgegangen, durch die sich der große Gemeindegründer so gut wie spätere Kirchengewaltige zu Konzessionen hat drängen lassen und zu Nutzanwendungen des Evangeliums, an die Christus nicht gedacht hat. Gerade die Männer, die das paulinische Grunddogma von der Gnadenwahl mit der größten Energie und freilich darum höchst einseitig geltend gemacht haben, die Kalvinisten, Presbyterianer und Puritaner, sind allesamt geborne und geschworne Tyrannentäter gewesen. Geradezu lächerlich ist die übertriebne Bedeutung, die heute ganz allgemein dem Worte Christi: Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist, beigelegt wird. Alle vier Evangelien zeigen aufs deutlichste, wie gleichgiltig dem Herrn alle weltliche Gewalten waren und wie geringschätzig er von ihnen dachte. Die Antwort, die er den verbündeten Pharisäern und Herodianern gab, war offenbar nur eine spöttische Ablehnung der Zumutung, in die gestellte Falle zu gehen, und eine ironische Abfertigung der von ihm verachteten Herodianer: Ihr habt euch aus Rom Soldaten und Geld verschrieben; also gebührt es sich auch, daß ihr dieses Geld wieder dahin zurück schickt, woher es gekommen ist. Wenn sich ein Volk entsagend in den Willen Gottes ergiebt, in seinem Herrscher den Vertreter Gottes sieht und gehorsam die Knute küßt, so ists um seine Zukunft geschehen. Ohne Unzufriedenheit und kräftige Opposition der Bedrückten ist keine Besserung verrotteter Zustände möglich.

Geduld, Mäßigkeit, Genügsamkeit, Entsagung soll der christliche Geistliche freilich predigen und soll, was die Hauptsache ist, darin mit gutem Beispiele vorangehen; aber es wäre im höchsten Grade verkehrt, in der allgemeinen Verbreitung dieser Tugenden ein Heilmittel unsrer sozialen Schäden zu sehen, vielmehr sind sie im höchsten Grade gefährlich. Die einzelne christliche Seele vermögen sie zur Engelschönheit zu verklären; werden sie von einem ganzen Volke geübt, so machen sie, wie wir in Rußland sehen, ein Gesindel stinkender Lumpen daraus. Zudem bleibt in modernen Zeiten immer ein Genuß übrig, auf den der Arme nicht verzichtet: das ist der Schnaps; und auf den zu verzichten: erlaubt die Obrigkeit gar nicht, denn in Preußen wie in Rußland sind die Finanzen und die »Landwirtschaft« darauf gegründet. Ähnliches gilt aber auch von allen übrigen weniger verwerflichen und verderblichen Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen. Was wird nicht gegen die Putzsucht der Arbeiterinnen, gegen die Genußsucht der Männer und jungen Burschen, gegen ihr Kneipenlaufen und Zigarrenrauchen geeifert! Aber mit jeder Bekehrung dieser Volksmassen zur Entsagung in der einen oder der andern Beziehung würde eine Industrie totgeschlagen, die Hunderttausende beschäftigt, und zugleich eine Steuerquelle verstopft. Nur dann ist die Bekämpfung des unverständigen Luxus und der verwerflichen Genüsse wirtschaftlich ungefährlich, wenn sie sich zu einer Bekämpfung des herrschenden Wirtschaftssystems erweitert und den Armen für jeden schlechten Genuß, den er preisgiebt, durch einen guten entschädigt, wenn sie ihm statt des Fusels Fleisch, Brot und Milch ( nicht Bier! das schadet noch mehr; eher Wein), statt der verräucherten Kneipe eine geräumige Wohnung, eine behagliche Häuslichkeit, freie Luft, Gärten, Wald und Wiese, statt der mit Anilin gefärbten Kattunlumpen derbe Tuchröcke und wasserdichte Winterstiefel wiedergiebt: alle die Güter, die ihm der moderne Fortschritt geraubt hat. Diese Wandlung allmählich herbeizuführen, wird eine Änderung des Geschmacks, zu der das Volk durch Lehre und Beispiel der Gebildeten erzogen werden muß, mehr Kraft haben als religiöse Ermahnungen, (Die volkswirtschaftliche Bedeutung des guten Geschmacks habe ich in den Grenzboten Jahrgang 1890, 2. Vierteljahr, S. 437 ff, erörtert und dann den Gegenstand noch einmal etwas ausführlicher in Prochaskas Illustrirten Monatsbänden 2. Jahrgang, Nr. 12 unter dem Titel »Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Luxus« behandelt.) Nach alledem wird zwar der einzelne Seelsorger die Geduld, die Mäßigkeit, die Genügsamkeit, die Entsagung als Individualtugenden bei seinen Kirchkindern zu pflegen haben, aber wenn sich die Geistlichkeit in corpore mit Ermahnungen an die Öffentlichkeit wendet, dann hat sie, wenn sie sowohl dem Geiste des Evangeliums wie den sozialen Bedürfnissen der Zeit genügen will, die Spitze ihrer Strafpredigten weniger nach unten als nach oben zu richten. Als Vorbild für evangelische Synodalbeschlüsse und katholische Hirtenbriefe schlage ich die Erklärung vor, die die lombardischen Prälaten 855 auf der Synode zu Pavia abgaben (Pertz, Monumenta, Band III, p. 481). Man rückte der Geistlichkeit vor, daß sie mit schuld sei an der allgemein eingerissenen Zerrüttung und Verwilderung. Die Prälaten entgegneten mit der den ältern Zeiten eignen Offenheit, sie wüßten recht gut, daß sie keine Heiligen und in mehr als einer Beziehung schuldig wären. Was aber die allgemeine Zerrüttung anlange, so könnten sie dagegen nichts thun; denn die Räuber, das seien eben die vornehmen Herren, und die kämen nicht in die Pfarrkirche, wo ihnen die Wahrheit gesagt werden würde, die hielten sich ihre eignen Burgpfaffen, die ihnen nach dem Munde reden müßten oder überhaupt nichts zu sagen und bloß Messe zu lesen hätten. Zur Kirche kämen bloß die Armen, die Opfer der Räubereien und Gewaltthaten, und denen könne man doch nichts weiter predigen als Trost und Geduld im Leiden. So die Bischöfe von Pavia vor Kaiser Ludwig II. Die Hofprediger unsrer Zeit, die sich von Seiner Majestät den Kanzeltest vorschreiben lassen müssen, sind in keinem Sinne Organe der Kirche, mag man sich diese als einen hierarchischen Bau denken, worin der Geist Gottes waltet, oder als die Gesamtheit aller derer, die aus dem Gewissen handeln; sie sind nichts als Fürstendiener. Wären sie Diener Christi, so würden sie bei der heutigen Lage der Dinge mit jenen englischen Geistlichen, deren Wirksamkeit Schulze-Gävernitz schildert (Zum sozialen Frieden II, S. 168 ff,), in jeder ihrer Predigten erklären, daß die Hölle der natürliche Ort aller Reichen sei, solange es Arme gebe, und sie würden bei diesem Thema so lange bleiben, bis die Massenarmut abgestellt wäre.

Wahre Religiosität wird die Gesinnung der Reichen wie der Armen veredeln und so den sozialen Kämpfen einen Teil ihrer Wildheit und Häßlichkeit nehmen, wird auch manche der Wunden heilen, die diese Kämpfe schlagen, aber gegen die natürlichen Ursachen, aus denen sie entspringen, vermag sie nichts; weder vermag sie unserm Lande einige Quadratmeilen anzustückeln, noch ist es ihres Amtes, zu einem Eroberungskriege anzufeuern oder zur Beschränkung der Kinderzahl zu raten. Mehr vermöchte sie, wenn sie vorhanden und stark genug wäre, dort, wo nicht ein Mangel der Natur, sondern menschliche Ungerechtigkeit die Wurzel des Übels bildet. Gegen diese konnte wohl die Gesetzgebung etwas ausrichten. »Wo die Unredlichkeit,« sagen wir mit Wolf (S. 599), ihr Handwerk treibt, es treiben kann, ohne mit dem geschriebnen Recht in Widerspruch zu geraten, ist der Widerspruch durch »Schreibung« des Rechts, durch Ausfüllung der Gesetzgebungslücken herzustellen. Paart sich hiermit eine Vorbeugethätigkeit, die dem Unrecht auch die objektive Gelegenheit und die subjektive Neigung entzieht, und weiterhin eine Berichtigung der öffentlichen Meinung, sodaß sie weit strenger als bisher Übung des Unrechts auch gesellig ahndet, so bricht für das erste der Postulate Neminem laede die Zeit der Erfüllung an.« Und wenn die Kirche bei passender Gelegenheit auf solche Lücken der Gesetzgebung hinweisen und auf ihre Ausfüllung dringen wollte, so würde sie damit, scheint es uns, die Grenze ihrer Zuständigkeit keineswegs überschreiten.

Mehr freilich als alle Gesetze verhelfen günstige physische Bedingungen, die der Notwendigkeit sozialer Gesetze überheben, der Gerechtigkeit zur Verwirklichung; ein Bauernstand, der keines Kredits bedarf, ist unendlich mehr wert als alle Wuchergesetze. Sich einbilden, es werde jemals möglich sein, auf dem Wege der Gesetzgebung die Gerechtigkeit und namentlich, worauf es hier zunächst ankommt, das Recht auf den vollen Arbeitsertrag zu verwirklichen, das heißt schon, den utopistischen Träumen der Sozialdemokraten huldigen. Ist es doch, wie wir gesehen haben, in einem verwickelten Gesellschaftszustande gar nicht einmal möglich, auch nur einigermaßen genau anzugeben, wie viel jedem von Rechts wegen gebührt. Es geht mit der Gerechtigkeit ungefähr so wie mit der Schönheit, Wenn sich vor einem Gesicht die kleinen Kinder fürchten, dann wird man es mit ziemlicher Sicherheit häßlich nennen dürfen; aber ob und in welchem Grade die nicht so augenfällig häßlichen Leute schön genannt werden können, darüber werden die Meinungen ewig auseinander gehen. Und so wird zwar nicht leicht jemand einen Zustand gerecht zu nennen wagen, wo der lasterhafte Müssiggänger schwelgt und der tugendhafte Arbeiter hungert, aber ob ein Maurertagelohn von 2, 3, 4 oder 5 Mark, ein Handelsgewinn von 2000, 3000, 4000 oder 5000 Mark gerecht sei, das zu entscheiden giebt es keinen Richterstuhl auf Erden,

Demgemäß geben wir Wolf (S. 613) auch darin Recht, daß die frei waltende Nächstenliebe zu leisten habe, »was das Gewissen der Zeit über Gerechtigkeit und Billigkeit hinaus verlangt,« oder, wie wir lieber sagen wollen, was das Gewissen verlangt, ohne darnach zu fragen, ob der Leidende Rechtsansprüche begründen könne, und ob sich das Recht überhaupt feststellen lasse oder nicht. Nur sollte er nicht den Schein erwecken, als ob diese Verweisung des fragenden Jahrhunderts an die christliche Nächstenliebe den Abschluß einer Untersuchung bilden könne, von der man die Antwort erwartet. Denn die Aufgabe, jene Leiden zu heilen oder zu lindern, die das Zusammenwirken unfreundlicher Naturgewalten mit menschlicher Unvernunft, Leidenschaft und Bosheit zu allen Zeiten erzeugt, liegt der Caritas immerdar ob. Heute aber handelt es sich um etwas ganz andres, um einen Zustand, der immer größere Massen zu einem lebenslänglichen Elend verurteilt, woraus es kein Entrinnen und worin es kaum einen Trost giebt. Dieses neuen Übels Beseitigung ist nicht Aufgabe der christlichen Caritas, sondern der weltlichen Politik.

Einstweilen befindet sich diese Caritas, die sich in modernen Kreisen lieber Humanität nennen hört, in einer Lage, die von Tag zu Tag verzweifelter wird. Voraussetzung einer vernünftigen Armenpflege ist, daß die Not ein individuelles, durch Verschuldung oder Unglück einzelner verursachtes Übel bleibe, und daß, wenn einmal größere Menschenmassen von Not heimgesucht werden, die Ursachen des Übels wie Mißwachs, Feuersbrunst, Überschwemmung, Krieg, vorübergehen. Individuelle Nöte lassen sich bewältigen und individuell behandeln, außerordentliche Leistungen aber nimmt ein christliches Gemeinwesen gern auf sich, wenn es weiß, daß sie nur vorübergehend erfordert werden. Unter solchen Umständen haben die altchristlichen Gemeinden, manche mittelalterliche Stadtgemeinden, die englischen Klöster und Pfarreien vor der Reformation, die reformirten Gemeinden Hollands und der Schweiz in ihrer besten Zeit die Aufgabe zu bewältigen vermocht. Heute aber stehen wir nicht zu bewältigenden Massen von Elenden gegenüber, bei denen an individuelle Behandlung nicht zu denken ist, sondern die Hilfe nur aufs Geratewohl gespendet oder verweigert werden kann, und solchen Ursachen, die dauernd wirken und dabei, weil ihr Wesen den meisten unbekannt ist, als unheimliche gespenstische Mächte eine lähmende Wirkung ausüben. Ich selbst habe noch Orte und sogar eine ganze Gegend kennen gelernt, wo das Ideal christlicher Armenpflege erreicht war. Es war eine Gruppe von Dörfern in einem südlichen Zipfel der Mark Brandenburg. Grundverschieden waren diese Dörfer von den auf Seite 172 erwähnten lustigen und reichen Dörfern Niederschlesiens. Sie waren arm: der Dominialherr nicht reicher als ein mittlerer niederschlesischer Bauer, der Bauer nach schlesischen Begriffen ein Gärtner oder Stellenbesitzer; viele Männer gingen im Sommer auf Maurerarbeit – bis nach Ostpreußen. Aber die eine Familie war so ordentlich wie die andre, ein Häuschen so sauber wie das andre, und für Kranke, Witwen, Waisen, Verunglückte sorgte die Gemeinde unter Leitung des Pfarrers; es gab weder Bettler noch Hilflose. Daß diese kleine Landschaft samt ihrem sechstausend Einwohner zählenden Städtchen keine Eisenbahn, keinen Adlichen, keinen mit einem Orden dekorirten und keinen Juden besaß, und daß der einzige Advokat des Kreises über schlechte Einnahme zu klagen hatte, dürfte nicht ohne Einfluß auf einen Zustand gewesen sein, der die Freude jedes Menschenfreundes und Christen war, der aber jeden Freund des modernen Fortschritts mit tiefster Verachtung vor diesen »elenden Nestern« erfüllt haben würde. Wie es heute dort aussehen mag, ob es auch anderwärts noch – vielleicht in Oberbaiern, Holstein, Oldenburg, Friesland – Gegenden giebt, wo eine geordnete und erfolgreich durchgreifende Armenpflege möglich ist, und wie weit die nach Elberfelder System arbeitende Gemeindearmenpflege einiger größern Städte ihren Zweck erreicht, weiß ich nicht.

In solchen Gegenden könnte, wenn es nicht völlig unnötig wäre, das Betteln ohne Verletzung des christlichen Gewissens verboten werden. Es heute ganz allgemein zu verbieten und auch noch das Almosengeben für strafbar zu erklären, ist bei den herrschenden Zustanden eine Barbarei, die unsre Humanität unter die der Muhammedaner und der vorchristlichen Heiden herabdrückt, und die für vereinbar mit dem Christentum erklären zu wollen eine unwürdige Posse sein würde. Die Theologen mögen über den Sinn jedes Verses der Bibel streiten, Matth. 25, 41 läßt sich nicht drehn noch deuteln: wer die Hungrigen nicht speist, die Nackten nicht bekleidet, den Obdachlosen die Herberge versagt, dem ist das ewige Feuer bereitet. Die Behörden mögen im Interesse der öffentlichen Ordnung zu dieser Barbarei gezwungen sein, aber sie bleibt trotzdem eine Barbarei, und selbstverständlich kehrt sich weder der Notleidende noch der mildherzige Christ an das Verbot, selbst wo es sich um den wirklich bedenklichen Kinderbettel handelt. Daß aus den Betteljungen größtenteils Vagabunden und Verbrecher und aus den Bettelmädchen Dirnen werden, weiß natürlich jedermann. Aber, so sagt sich der Mensch, dem ein Herz im Busen schlagt, werden sie es etwa nicht, wenn ich die Gabe verweigre? Gebe ich nichts, so geben andre, und giebt niemand etwas, so fangen sie eben schon jetzt zu stehlen an. Denn Hunger thut weh, und die Prügel der Eltern, die sie fortschicken und sagen: Ihr kommt nicht wieder, ohne etwas mitzubringen, thun auch weh. In unvernünftigen Zuständen hört eben die Möglichkeit vernünftigen Handelns auf. Natürlich fühlt sich dadurch der Mann des öffentlichen Lebens der Verpflichtung, vernünftig zu handeln, nicht überhoben und fährt fort, für eine zweckmäßige Organisation der Armenpflege zu wirken, aber mehr und mehr unter dem peinigenden Drucke des Bewußtseins, daß er Sisyphusarbeit verrichtet.

Je weniger sich unter diesen Umständen die kirchliche und Privatarmenpflege ihrer Aufgabe gewachsen zeigt, desto mehr sieht sich der Staat gezwungen, sie zu übernehmen und den Zivilgemeinden, Kreisen und Provinzialregierungen zu überweisen. Und diese Verstaatlichung macht das Unglück voll; will man nicht das unmenschliche englische Workhousesystem einführen, so bedeutet sie die Prämiirung der Liederlichkeit und Gemeinheit und die Bestrafung aller Tugenden. Einige Beispiele aus meiner Erfahrung mögen diese Behauptung beleuchten. 1. Ein blutarmes Tagelöhnerehepaar, beide abnorm klein, schwach und kränklich, nimmt die uralte Mutter der Frau, die ihr Häuschen um hundert Thaler verkauft hat, bei sich auf. Die Wat der beiden Leutchen war, gleich der klein Rolands, »wie Regenbogen anzuschaun, mit Farben mancherlei,« aber nie haben sie gebettelt, von niemandem eine Unterstützung beansprucht und sogar ihren Steuergroschen pünktlich bezahlt. Nun wird das Männlein krank. Auch jetzt sprechen sie noch niemanden an, sondern nehmen nur, was gutherzige Nachbarn an Lebensmitteln von selbst bringen, mit Dank an. Nach ein paar Monaten stirbt der Kranke, und nun faßt die Witwe den kühnen Entschluß, den Herrn Schulzen um das Geld für einen Sarg zu bitten. Der Gestrenge sagt: »Habt Ihr die hundert Thaler von der Mutter schon verbraucht?« Nee, die haben wir noch ganz. »Ja, dann könnt Ihr kein Geld aus der Gemeindekasse kriegen!« Hätten sie die hundert Thaler in vier Wochen verbraucht gehabt, so hätten sie nicht bloß den Sarg, sondern schon während der Krankheit des Mannes Armengeld bekommen müssen. 2. Eine arme Witwe mit drei Kindern erhält von einem Verwandten, der selbst nicht viel hat, einen kleinen monatlichen Zuschuß; aber der Bürgermeister, der davon Wind bekommt, droht mit Entziehung der städtischen Unterstützung, und der Verwandte muß nun seinen Zuschuß heimlich und auf Umwegen übermitteln. 3. Eine junge Mutter, die dient, und deren Kind von der Gemeinde in Pflege gegeben worden ist, zahlt von ihrem kargen Lohne der Pflegerin einen kleinen Zuschuß, damit sie das Kind besser pflege und ihm kräftigere Nahrung reiche. Der Ortsvorstand erfährt es und setzt das Pflegegeld um den Zuschuß der Mutter herab. 4. In der Armendeputation einer süddeutschen Stadt macht der Vorsitzende bekannt, daß eine zu Gefängnis verurteilte Dirne, weil sie syphilitisch sei, von der Stadt erst auskurirt werden müsse, ehe sie ihre Gefängnishaft antreten könne; es werde eine langwierige und kostspielige Geschichte werden. Die Stadtväter bewilligen murrend die Kosten, weil sie müssen. Hierauf beantragt ein Mitglied die Aufnahme einer rechtschaffnen Bürgerwitwe ins Krankenhaus. Ihr Sohn, ein rechtschaffner mit vielen kleinen Kindern gesegneter Handwerker, kann sie in seiner Wohnung, die zugleich Werkstatt ist, nicht behalten, und in ein besondres Zimmerchen gesperrt, muß die an allen Gliedern gelähmte Greisin jeder Handreichung und Hilfeleistung entbehren; zuweilen fällt sie hin und muß stundenlang auf der Diele liegen bleiben. Dafür sind keine Mittel vorhanden, der Antrag wird also abgelehnt. Alle Stadtväter erkennen an, daß das ein verrückter Zustand sei, allein – was ist dagegen zu machen?

Wie jede andre Tugend, so treibt auch die Nächstenliebe unter neuen Verhältnissen neue Blüten und Früchte hervor von neuer, vordem unbekannter Art und Gestalt. In Wechselwirkung mit der Großindustrie hat die moderne Humanität die sogenannten Wohlfahrtseinrichtungen für Arbeiter hervorgebracht. Was sich davon auf deutschem Boden findet, haben Post und Albrecht in ihrem umfangreichen Werke: »Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen« (Berlin, Robert Oppenheim, 1893) ausführlich beschrieben. Wir mißbilligen aufs entschiedenste den hämischen und höhnischen Ton, in dem die Sozialdemokraten solche Einrichtungen zu besprechen pflegen, und die Geringschätzung, die sie dagegen hegen oder vielleicht bloß heucheln; viele unsrer Großindustriellen haben für ihre Bemühungen um das leibliche und geistige Wohl ihrer Arbeiter eine Bürgerkrone verdient. Allein den Weg zur Lösung der sozialen Frage vermögen wir in alledem nicht zu sehen. Einmal bleiben diese Einrichtungen, soweit sie nicht durch die Arbeitsschutzvorschriften des Staates allgemein erzwungen werden, vereinzelt. Sodann handelt es sich dabei zum Teil, wie bei den Aborten, denen Post und Albrecht ein besondres Kapitel widmen, um die Abstellung von Übelständen, die aus der unnatürlichen Anhäufung großer Menschenmassen in engen Räumen entstehen und die nach heutigen Polizeigrundsätzen schlechterdings nicht geduldet werden können, daher so oder anders auf alle Fälle abgestellt werden würden. Sodann führt Post unter diesen wohlthätigen Einrichtungen auch die Arbeiterausschüsse an und darunter auch »die Vertrauensmänner auf den königlichen Steinkohlengruben bei Saarbrücken«; bekanntlich sitzen aber diese Vertrauensmänner gegenwärtig wegen ihrer angeblich aufhetzenden Thätigkeit jetzt hinter Schloß und Riegel oder sind wenigstens abgelegt worden. Endlich wird durch diese patriarchalische Fürsorge du bon tyran die im zehnten Kapitel beschriebne reaktionäre Strömung verstärkt und dadurch die Gefahr eines Zusammenstoßes mit der entgegengesetzten nicht wenig erhöht. Denn je besser der Industriefeudale für seine Leute sorgt, desto weniger läßt er sich vom Staate dreinreden und desto entschiedner lehnt er jede Forderung der Arbeiter ab, die darauf hinzielt, diese selbständig zu machen. Daraus entstehen dann weiter noch zwei andre Gefahren. Was nämlich die guten unter den Industriefeudalen, wie Krupp und Stumm, für sich selbst an Macht erkämpfen, dessen werden auch die zahlreichen weniger guten Unternehmer teilhaftig. Und andrerseits: es giebt keine dauerhaften sozialen Güter außer den selbsterrungnen; was sich die Arbeiter an Wohlfahrtseinrichtungen nicht selbst geschaffen und erobert haben, das hat keine Aussicht auf Bestand. Was Ludlow, den Post zitirt, von den Gewerkvereinen sagt: they must not be made, they must grow, das gilt von allen solchen Organisationen; das Gemachte, das Geschenkte, das Aufgezwungne verschwindet mit dem Wohlthäter. Übrigens soll bei dieser Gelegenheit nicht verschwiegen werden, daß auch Post (Band II, Abteilung I, S. 3) den Widerspruch zwischen der gesetzlichen Freiheit und Gleichberechtigung des Arbeiters mit seiner thatsächlichen Dienstbarkeit gebührend hervorhebt.

Was endlich die von Vereinen gepflegten Humanitätsbestrebungen anlangt, so sind sie aller Ehren wert, aber noch weniger als die vorerwähnten geeignet, zu helfen; gleich diesen, nehmen sie auch ganz unbefangen den unnatürlichen und gefährlichen Zustand, um dessen Aufhebung es sich handelt, als natürliche Grundlage an. Was England anlangt, so macht Rogers noch eine recht pikante Bemerkung. Er meint, es sei nicht ausgeschlossen, daß Lords, die den größten Teil ihrer Grundrente aus den Londoner Proletariervierteln ziehen, an die Spitze eines Wohlthätigkeitskomitees zur Beschaffung bessrer Wohnungen für die Armen träten, um später – die Bodenmiete steigern zu können. (A. a. O. S. 550.)


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