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Fünftes Kapitel

Ein Blick auf die Wirtschaftsgeschichte und die sozialen Zustände Deutschlands

Die bäuerlichen Zustände Deutschlands entsprachen im Mittelalter, bei großer Mannigfaltigkeit im einzelnen, im allgemeinen den englischen. Nur scheint die Bevölkerung rascher gewachsen zu sein; die städtischen Gewerbe und der Handel entfalteten sich früher und reicher als in England. Doch war an Anhäufungen der Bevölkerung in Industriezentren nicht zu denken; so weltberühmte Städte wie Mainz, Nürnberg und Frankfurt blieben der Einwohnerzahl nach Kleinstädte. Jeder Bevölkerungszuwachs wurde durch innere Kolonisation – Rodung des Urwalds – oder durch Kolonisation in den slawischen Marken östlich von Elbe und Inn versorgt, sodaß soziale Fragen im heutigen Sinne nicht entstehen konnten.

Um das Jahr 1500 trat auch in unsrer Heimat jene Verschlechterung in der Lage der untern Klassen ein, in deren Anerkennung alle Forscher übereinstimmen, während ihre Erklärungsversuche auseinandergehen. Die Überschwemmung mit amerikanischem Edelmetall läßt Rogers auch für Deutschland nicht als Erklärungsgrund gelten. Hier, meint er, sei der »Thorschluß im Osten« schuld gewesen. Seitdem die Türken die Handelswege nach der Levante versperrt hätten, seien die italienischen und deutschen Bürgerschaften verarmt, hätten sie die Ritter in Mitleidenschaft gezogen, und beide hätten sich an den untern Klassen schadlos zu halten gesucht. Das Volk, dem die wahre Ursache unbekannt geblieben sei, habe denen geglaubt, die alle Not aus den von den Päpsten verübten Erpressungen erklärten, und darum hätte es den Reformatoren zugejauchzt (wie heute unsre Handwerker und Kleinbauern den Antisemiten nachlaufen). Wir können der Sache hier nicht nachspüren, genug: die kleinen Leute in den Städten wie die Bauern fingen an, über einen ehedem unbekannten Druck zu klagen, die Gährung machte sich in den bekannten Kommunisten- und Bauernaufständen Luft, und nach deren Unterdrückung benutzten die Herren ihre Übermacht, die Bauern nach Anweisung der Lehrer des römischen Rechts zu knechten. Doch nahm die Sache keine so verhängnisvolle Wendung wie in England. Die Bauern wurden zwar zu Leibeignen gemacht und teilweise ihrer Grundstücke beraubt, aber nicht von der Scholle verjagt, und nirgends wurde der Körnerbau durch Weidewirtschaft verdrängt. Niedergebeugt, aber ungebrochen, überstand die deutsche Bauernschaft diese böse Zeit und erfreute sich dann nach Aufhebung der Leibeigenschaft und nach Einführung der modernen Verbesserungen des Ackerbaus einer Blüte, die beispiellos dasteht in der Geschichte des Bauernstandes aller Völker und Zeiten. Dabei blieb die Verteilung der Bevölkerung über das Land, das Verhältnis zwischen Stadt und Land, zwischen Gewerbe und Ackerbau bis in die Mitte unsers Jahrhunderts gesund. Von den Gewerben spürte zuerst die Weberei die Saugkraft des schmarotzenden Polypen England. Zu einer Zeit, wo die englische Arbeiterschaft das ärgste schon hinter sich hatte, in den dreißiger Jahren, vernichtete der englische Kattun die deutsche Leineweberei, und diese zog einen Teil des Handelsstandes, sowie einige kleinere Gewerbe in Mitleidenschaft. Bald wurde Deutschland in den Strudel des Weltverkehrs hinein gerissen. Es folgten nach einander die Eisenbahnen, die Geburt der deutschen Großindustrie, die Freizügigkeit, die Bildung eines Standes besitz- und heimatloser Lohnarbeiter. Seitdem haben auch wir eine Arbeiterfrage, doch glücklicherweise nicht in so schrecklichen Formen wie England, auch ist dem größern Teile des Volks die gesunde und natürliche Grundlage des wirtschaftlichen Daseins bis auf den heutigen Tag noch unversehrt geblieben.

Aber die Zeit ist kritisch, und soll unsre Sozial- und Wirtschaftspolitik das Richtige treffen, so müssen wir uns vor allem die Frage beantworten: Geht es im Augenblick mit uns auf- oder abwärts? Aufwärts, versichert Professor Wolf kecken Mutes. Natürlich ist es wieder die Konsum-, Einkommen- und Vermögensstatistik, womit er seine rosige Ansicht zu rechtfertigen versucht. Nur zwei der deutschen Staaten zieht er in Betracht: Sachsen und Preußen.

Für das Königreich Sachsen benutzt er die vielbesprochne Arbeit Böhmerts im Jahrgang 1890 der Zeitschrift des königlich sächsischen statistischen Büreaus. Böhmert behauptet, daß in der Zeit von 1836 bis 1890 der Fleischverbrauch ganz außerordentlich gestiegen sei, und rechnet aus, daß 1886 auf den Kopf 17,8 Pfund Schweinefleisch und 14,3 Pfund Rindfleisch, 1890 aber 41,2 Pfund Schweinefleisch und 28 Pfund Rindfleisch gekommen seien. Die letzten beiden Zahlen sind ebenso wahrscheinlich, wie die ersten beiden unwahrscheinlich. Vom Rindfleisch wollen wir nicht reden, obwohl in Schlesien in den dreißiger Jahren das Pfund davon anderthalb bis zwei Silbergroschen, Kalbfleisch das Pfund neun Pfennige kostete; das Rindfleisch mag mehr in die Mode gekommen sein, namentlich seitdem die Schafzucht abgenommen hat und das Hammelfleisch rar geworden ist. Aber daß 1836, wo die Landbevölkerung noch überwog, wo auch in der Stadt noch fast jeder Bürger sein Schweinchen mästete, der Durchschnittssachse nicht halb so viel Schweinefleisch gegessen haben sollte als jetzt, können mir nicht recht glauben; vielleicht ist es nicht der Fleischverbrauch, der zugenommen hat, sondern die Zahl der statistischen Aufnahmen, früher werden eben mehr Schweine ungezählt verspeist worden sein als heute.

Ein Paradepferd Wolfs und Böhmerts wie aller Optimisten ist ferner das Sparkassenwesen. Ja doch! Die Sparkassenkapitalien wachsen in allen Staaten ins Riesige oder sind wenigstens bis zum vorigen Jahre gewachsen, denn seit einem Jahre ist die Not so groß geworden, daß sogar sie hie und da abzunehmen anfangen. Sogar sie, sagen wir, weil sie für die Millionen der vom Grund und Boden losgelösten höhern und niedern Proletarier als einzige Form des Besitzes übrig geblieben sind. Seitdem Deutschland vollständig verteilt und all sein Grund und Boden in festem Privat- und Staatsbesitz ist, kann jeder Bevölkerungszuwachs nur das Proletariat vermehren, und diesem ist als einzige Form des Erwerbs eines kleinen Kapitals ein durch die Sparkasse vermittelter Hypothekenanspruch an den vaterländischen Boden übrig geblieben. Durch Zerschlagung großen Besitzes könnte wohl noch kleiner für den Nachwuchs geschaffen werden, aber weit entfernt davon, wächst vielmehr überall in Deutschland der Großgrundbesitz auf Kosten des kleinen. Ob die Thätigkeit der Ansiedlungskommission in Posen und Westpreußen und die Zerlegung von Rittergütern in Rentengüter in einigen andern preußischen Provinzen ausreichen wird, dieser aufsaugenden Kraft des großen Besitzes das Gleichgewicht zu halten oder sie gar zu überwinden, muß die Zukunft lehren. Wem das Material zu Gebote stünde, der würde ermitteln können, wie das Wachstum des windigen Sparkassenkapitalbesitzes im geraden Verhältnis steht zur Abnahme des soliden Grundbesitzes. Selbst wenn die Zahl der Haus- und Ackerbesitzer nicht absolut abnähme, würde sie schon im Verhältnis zu der ja stetig wachsenden Gesamtbevölkerung abnehmen. Aber in Sachsen wenigstens scheint sie sogar absolut abzunehmen. In der erwähnten Statistik wird u. a. angegeben, in welchem Verhältnis die verschiednen Berufsstände oder Erwerbsarten an dem sächsischen Volkseinkommen 1879 und 1890 teilgenommen haben. Es nahmen daran teil die Einkünfte aus:

    1879 1890
Grundbesitz mit rund 20,9 Prozent 16,3 Prozent
Renten " 10,7 " 11,6 "
Gehalten und Löhnen " 34,9 " 41,3 "
Handel und Gewerbe " 33,5 " 30,8 "

Wolf ist entzückt von dieser Verschiebung. »Der verhältnismäßige Anteil – sagt er –, der aus dem Volkseinkommen den arbeitenden

Klassen (im weitern Sinne, d. h. denen, die im Dienste andrer stehen) zufließt, hat also weit mehr zugenommen, als Renten- und Unternehmergewinn. Die besitzenden und Zwischenhandelsgewinn beziehenden Klassen empfingen 1879 aus dem gesamten Volkseinkommen 65,1 Prozent, 1890 58,7 Prozent.« Dieses Ergebnis schön zu finden, ist wahrlich der Gipfel der Verschrobenheit oder Einsichtslosigkeit. Was besagt es denn? Die Gesamtheit der freien Männer, der Mitglieder der wohlfundirten Stände: Grundbesitzer, Handwerker, Fabrikanten und Kaufleute nimmt ab oder wenigstens nicht zu, unter den Besitzenden sind es allein die Rentner, d. h. die Unproduktiven, von der Produktion andrer lebenden, deren Einkommenanteil wächst, die Zahl der Beamten aber, die ebenfalls nicht produziren, sondern nur verzehren, und deren Einkommenanteil nur auf Kosten der produktiven Stände vergrößert werden kann, sowie die der Lohnarbeiter nimmt zu. 1880 war der Einkommenanteil der abhängigen Besitzlosen beinahe auf die Hälfte gestiegen, in zwanzig Jahren wird er die Hälfte übersteigen. Damit ist aber natürlich nicht gesagt, daß die Zahl der Besitzlosen weniger als die Hälfte der Bevölkerung betrüge. Deren Zahl ist vielmehr schon jetzt weit größer. Das Steigen des Einkommenanteils dieser Klasse beweist nicht etwa eine Verbesserung ihrer Lage, sondern eine Zunahme ihrer Mitgliederzahl. Daß diese Unmasse von Besitzlosen gar nicht leben könnte ohne eine hochentwickelte Industrie, die viel Geld ins Land bringt, daß also das Geldkapital und das Geldeinkommen dieses Landes enorm steigen müssen, versteht sich ja von selbst, und die Sparkassenkapitalien bilden den Anteil, der von diesem papiernen Kapital auf die untere Mittelklasse und die obern Proletarier fällt. Aber es ist eben nur papiernes Kapital; einige weitere Stöße vom Weltmarkt, wie die Mac Kinley-Bill, und das Papier – ist Papier. Ein Land, wo der Ertrag des Grundbesitzes noch nicht einmal den fünften Teil des Gesamteinkommens bildet – in Frankreich macht dieser Teil die größere Hälfte aus –, schwebt mit seiner Volkswirtschaft in der Luft. Nur darum ist die Lage des Königreichs Sachsen noch nicht so gefährlich wie die Englands, weil es doch noch einen freien Bauernstand hat, und weil es nur einen kleinen Teil eines großen Reiches ausmacht, über das sich seine Besitzlosen dereinst beim Hereinbruch der Katastrophe verbreiten können.

Auf die sächsische Einkommenstatistik im einzelnen brauchen wir um so weniger einzugehen, als uns ja die preußische, die die größere Hälfte Deutschlands und fast alle in Deutschland vorkommenden wirtschaftlichen Verschiedenheiten umfaßt, ein weit zuverlässigeres Bild der deutschen Entwicklung darbietet. Hier hat sich nun Wolf dadurch, daß er das Ergebnis der diesjährigen Einschätzung nicht abgewartet hat, eine ganz vergebliche Arbeit gemacht. Doch wollen wir ein Wort über das Mittelchen sagen, mit dem er über die ungünstigen Ergebnisse früherer Einschätzungen hinwegzukommen sucht, und das er wohl der letzten gegenüber ebenfalls anzuwenden versuchen wird. Was selbst entschieden antisozialistische Statistiker besonders bedenklich finden, ist das, daß die Zahl der größten Vermögen am stärksten wächst, selbstverständlich nicht absolut – absolut sind ja die Zahlen in den obersten Klassen am kleinsten –, sondern relativ, um den höchsten Prozentsatz. Wolf sagt nun, diese Darstellung der Sachlage beruhe auf falscher Fragstellung. Man müsse nicht fragen: »Welchen Schichten wachsen die (verhältnismäßig) meisten zu?« sondern: »Aus welchen Schichten steigen die meisten auf?« Und da finde man nun, daß immer aus der untersten Schicht in die nächst höhere die größte Zahl aufsteige, daß sich also die Lage der untersten Klasse am bemerkbarsten bessere. Noch deutlicher trete die Besserung der Lage der untern Klassen hervor, wenn man nach dem Anteile des Einkommenzuwachses frage, der auf die verschiednen Klassen falle. Da finde man für Preußen folgendes. In der Zeit von 1876 bis 1888 habe sich das Nationaleinkommen um 1475 Millionen Mark vermehrt. Davon fielen auf die

  Mark Mill. Proz.
dürftigen Einkommen bis 525 326,0 = 22,1
kleinen Einkommen 526 bis 2000 450,6 = 30,5
mäßigen Einkommen 2001 bis 6000 266,9 = 18,1
mittleren Einkommen 6001 bis 20 000 246,6 = 16,7
großen Einkommen 20 001 bis 100 000 131,4 = 8,8
sehr großen Einkommen über 100 000 53,8 = 3,7

Darauf ist zu erwidern, daß, da der Geldwert beständig sinkt, sich die untersten Einkommen beständig erhöhen müssen, ohne daß diese Erhebung in eine höhere Steuerklasse eine Verbesserung der Lage bedeutete, so wenig wie ein Tagelöhner des neunzehnten Jahrhunderts, der 1 Mark empfängt, zehn- oder fünfmal mehr hat, als einer im dreizehnten, dessen Tagelohn nach heutigem Gelde zehn oder zwanzig Pfennige betrug. Ferner, daß der größte Teil sowohl des Einkommens wie des Einkommenzuwachses auf die Personen der zweiten Klasse fallen muß, da diese bei der steigenden Unmöglichkeit, mit weniger als fünfhundertundfünfzig Mark auszukommen, notwendigerweise die zahlreichste sein muß.

Aber, wie gesagt, die Statistik, die Wolf zu Grunde legt, ist ja veraltet. Um zu erkennen, was das Ergebnis der neuen Einschätzung lehrt, halten wir uns an eine Berechnung des »Sozialpolitischen Zentralblatts.« Ohne alle Berechnung, um dies vorauszuschicken, weiß bereits alle Welt, daß die Deklarationspflicht die großartigste Bochumerei aufgedeckt hat, und daß die großen Einkommen viel größer sind, als man bisher angenommen oder vorgegeben hatte, während sich das Bild der Vermögenslage der untersten Klassen nicht wesentlich geändert hat. Wir dürfen sogar, ohne weder die Einschätzungsbehörden noch die Millionäre einer Pflichtverletzung anzuklagen, die Einkünfte der letztern noch weit höher ansetzen, als sie in den neuen Steuerrollen erscheinen. Denn während einem Fabrikarbeiter oder Weichensteller sein Einkommen auf Heller und Pfennig nachgerechnet werden kann, vermag ein sehr reicher Mann sein Einkommen, das aus den verschiedenartigsten Quellen fließt, beim besten Willen selbst nicht genau anzugeben: die Erträge seiner Rittergüter, seiner Bergwerke, die Dividenden seiner Aktien, die Kursgewinne und Verluste an seinen Wertpapieren schwanken auf und ab, den Reinertrag aus dem Bruttoertrage auszusondern ist eine schwierige Arbeit, und weder sein Gewissen noch das Gesetz verpflichten ihn, mit seinen Angaben über das sich aus einer Wahrscheinlichkeitsrechnung ergebende Minimum hinauszugehen. Ein Millionär in Frankfurt a.M., der in der Baringkrisis viel verloren hat aber trotzdem Millionär geblieben ist, hat als Durchschnitt seines Einkommens in den letzten drei Jahren – nach den Regeln der Buchführung vollkommen korrekt – Null herausgerechnet; er braucht also weder Einkommensteuer zu zahlen, noch liefert er einen Beitrag zur Einkommenstatistik, obwohl er im richtigen Sinne des Worts ganz gewiß Einkommen bezogen hat. Also nun zur Berechnung!

Von den 29 895 224 Seelen des preußischen Staates bleiben 20 945 227 von der neuen Einkommensteuer befreit, weil die Zensiten dieser Klasse weniger als 900 Mark jährlich einnehmen. Wie groß die Zahl dieser Zensiten ist, wird leider nicht angegeben; eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, in der die Blätter verschiedner Parteien übereinstimmen, ergiebt etwas über 5½ Millionen. Da das Durchschnittseinkommen dieser Klasse auf 500 Mark angenommen werden kann, so beziehen jene 20 945 227 Seelen ungefähr 2850 Millionen Mark Einkommen. Das Einkommen der übrigen, unter denen sich 2,44 Millionen Zensiten befinden, wird amtlich auf 5724 Millionen Mark angegeben. Demnach beziehen die mehr als zwei Drittel der untern Stufe noch nicht ein Drittel des Gesamteinkommens der Nation. Von den 2,44 Millionen der Oberstufe beziehen die allermeisten zwischen 900 und 3000 Mark, nur 316 889 erfreuen sich eines größern Einkommens, aber diese 316 889, etwa ein Siebenundzwanzigstel der Gesamtzahl, erhalten ungefähr die Hälfte jener 5724 Millionen Mark. Demnach haben sich in das erste Drittel des Volkseinkommens über 5½ Millionen Zensiten mit ihren Angehörigen, in das zweite Drittel 2,1 Millionen, in das dritte Drittel etwas über 300 000 Zensiten mit ihren Angehörigen zu teilen. Von je 27 Mark des Volkseinkommens erhält der durchschnittliche Arme 1 Mark, der durchschnittliche Mann des untern Mittelstandes 8 Mark, der durchschnittliche Wohlhabende und Reiche 18 Mark. Allein aus dieser Einteilung gewinnt man noch lange keinen Begriff von den vorhandnen Vermögensunterschieden und sozialen Gegensätzen. Diese werden erst klar, wenn man erwägt, daß es wahrscheinlich mehr als eine Million Familien giebt, die sich mit weniger als 400 Mark Jahreseinkommen behelfen müssen, (nach einer von Wolf aufgenommenen Statistik machen die Einkommen unter 550 Mark in Ostpreußen 58 Prozent aus), daß diesen Armen gegen 10 000 Markmillionäre gegenüberstehen, und darunter 12 Familien, deren Jahreseinkommen 1½ bis 7 Millionen Mark beträgt – nach der Selbsteinschätzung, in Wirklichkeit wohl noch etwas darüber. Als erstes Ergebnis finden wir also, daß unser Jahrhundert nicht allein in dem »reichen« England, sondern auch in dem »armen« Preußen wieder Vermögensunterschiede aufzuweisen hat, wie sie seit dem Untergange des römischen Reichs in der Welt nicht mehr dagewesen waren, oder vielmehr überhaupt noch nicht; als größte aus dem Altertum bekannte Vermögen führt Wolf die des Cnejus Lentulus und des Narziß, eines Freigelassenen Neros, mit je 90 Millionen Franken an.

In welcher Lage befinden sich nun die beinahe 21 Millionen Menschen der untersten Steuer- oder vielmehr steuerfreien Stufe? Denken wir uns als Typus eine Familie, die 800 Mark, also 300 Mark mehr als das Durchschnittseinkommen hat. Die Ernährung eines preußischen Zuchthäuslers kostet täglich 31 Pfennige. Berücksichtigen wir nun einerseits, daß die Tagelöhnerfrau für dasselbe Geld weniger und schlechtere Waren bekommt, als die unter den vorteilhaftesten Bedingungen einkaufende Zuchthausverwaltung, andrerseits, daß Kinder unter zehn Jahren nicht so viel essen wie Erwachsene, so werden wir annehmen dürfen, daß bei drei Kindern unter 14 Jahren – manche Arbeiterfamilie hat deren sechs und mehr - 500 Mark für Kost nicht zu viel sind. Das stimmt auch mit der bekannten von Wolf angeführten Erfahrung, daß beim Durchschnittsarbeiter Mitteleuropas die Ausgabe für Speist und Trank 60 bis 65 Prozent der Gesamtausgabe zu betragen pflegt. Für weniger als 100 Mark jährlich ist in den dichter bevölkerten Ortschaften keine Wohnung zu bekommen, und Feuerung, Licht, Kleidung und Wäsche für fünf Personen, dazu die unvermeidlichen laufenden und außerordentlichen Nebenausgaben mit 200 Mark zu bestreiten, dazu gehört doch wohl schon ein hauswirtschaftliches Genie. Mit 800 Mark Einkommen befindet sich also eine Familie auf dem Existenzminimum. Es ist ja nun richtig, daß Millionen noch nicht einmal dieses Minimum erreichen. Das erscheint zwar als ein Widerspruch, ist aber doch eben Thatsache. Die Leute leben, aber ihr Leben ist kein menschliches Leben mehr, ist, die Zuthat zum Leben angesehen, nicht einmal Zuchthäuslerleben. Wenn nun reichlich zwei Drittel des preußischen Volks teils hart an der Grenze der Daseinsmöglichkeit, teils auf dieser Grenze herumkriechen, so erscheint die Behauptung, der Wohlstand des Volks oder gar der untersten Schicht dieses Volks nehme zu, geradezu lächerlich. Gleichviel, wie groß das Einkommen der untern zwei Drittel in irgend einer frühern Zeit gewesen sein mag, weniger als das zum Leben unumgänglich Nötige können sie nicht gehabt haben, und mehr haben sie heute auch nicht. Wenn uns demnach ein Statistiker vorrechnet, wie viel Millionen Menschen, die vor fünfzig Jahren unter 500 Mark jährlich eingenommen haben, jetzt ein paar Mark darüber einnehmen, und daraus folgert, daß die arbeitenden Klassen von der untersten allmählich auf höhere Stufen emporstiegen und so das ganze Volk sich hebe, so ist dieser vermeintliche Triumph des Optimismus eitel. Überhaupt muß man sich nicht in toten Ziffern verlieren, sondern ins Leben hineinschauen. Man sehe sich die Leutchen Sonntags an, wo sie, nach der neuesten Mode herausgeputzt, aus ihren Werkstätten und Wohnungshöhlen hervorkommen, prüfe die krummbeinigen blassen Kinder, die abgehärmten und verzwickten Gesichter der Frauen, die engbrüstigen, krummen, verkümmerten Männer, man merke sich die frischen Gesichter und derben Gestalten der Lehrjungen und Dienstmädchen vom Lande und sehe nach zehn, zwanzig Jahren nach, was in der Stadt, in der Fabrik aus ihnen geworden ist, da erfährt man mehr, als aus Einkommensteuerlisten. Man wandle zu Fuß den herrlichen Weg von Gablonz durch Tannwald zum Elbfall hinauf, und beim Anblick der reizenden Villen und der über die Maßen elend aussehenden Fabrikbevölkerung wird man ausrufen: Wahrhaftig, die englische Wirtschaftsgeschichte, wie sie leibt und lebt! Gegenden im deutschen Reiche herauszufinden, wo ähnliche Beobachtungen gemacht werden können, wie in den industriellen Teilen Böhmens, überlassen wir dem Leser.

Nun wird uns der Leser vielleicht mit Wolf zwei Einwände machen. Erstens, daß es den Armen doch nicht so schlecht gehen könne, da sie ja ein Heidengeld auf Schnaps, Bier und Tabak vergeudeten. Nun, wenn einmal das Leben nicht mehr menschlich ist, so kommt es nicht darauf an, ob es noch um einige Grad unmenschlicher wird, und das ist allerdings überall der Fall, wo ein Teil des Einkommens dem Notwendigen entzogen und auf jene Stimulantien verwendet wird. Leider aber sind diese selbst eine Notwendigkeit. Wer das nicht glaubt, der probire es einmal, ein Jahr lang von Kartoffeln, Zichorienbrühe und Schwarzmehlsuppe zu leben; wenn er sich dann noch ohne den Gebrauch von Erregungsmitteln thatendurstig und arbeitslustig fühlt, so wollen wir unsrerseits ihm glauben, daß Schnaps und Tabak auch bei der heutigen Art der Volksernährung überflüssig seien. Wie mögen sich wohl übrigens, um das nebenbei zu fragen, die Mäßigkeitsapostel unsre Reichsfinanzen und namentlich den Militäretat denken für den Fall, daß sie mit ihren Bestrebungen Erfolg haben? Wo das Elend einmal eingerissen ist, da kommt das Volk aus dem Zirkel nicht mehr heraus, daß es Schnaps trinkt, weil es ihm schlecht geht, und daß es ihm um so schlechter geht, je mehr es Schnaps trinkt. Begründeter ist die andre Einwendung, daß in den Proletarierfamilien Weib und Kinder gewöhnlich mitverdienen, daß also eine solche Familie unter Umständen zweitausend und mehr Mark jährlich einnehmen kann, wenn auch der Vater nur achthundert Mark verdient. Das bedeutet allerdings in tausenden von Fällen eine weit günstigere Lage, als die vorhin ermittelte; doch darf man die damit gegebne Veränderung des Gesamtbildes nicht überschätzen. Ehe die Kinder mit verdienen, sind sie vorher zwölf bis vierzehn Jahre hindurch bloße Verzehrer, und der Beitrag zu den Kosten des Haushalts, den sie später liefern, reicht oft nur eben hin, die in der vorhergehenden Periode gemachten Schulden abzuzahlen und den durch Verpfändung oder Verkauf zusammengeschwundnen Hausrat wieder zu ergänzen. Dann wird der Fall, daß die heranwachsenden Söhne und Töchter in der Familie bleiben und ihren Verdienst in die gemeinsame Kasse legen, immer seltner. Man mag das beklagen, aber unter den bekannten gegenwärtigen Verhältnissen wird es sich kaum andern lassen. Der Broterwerb der Frau sodann ist in den meisten Fällen das Gegenteil eines wirtschaftlichen Vorteils. Wir kennen Frauen des ärmern Standes, die mit einem Wirtschaftsgelde von acht- bis neunhundert Mark einen Haushalt von sechs bis sieben Personen, die sämtlich über zehn Jahre alt sind, sehr anständig bestreiten. Da wird das Brotkorn auf dem Markte eingekauft und in eine Landmühle zum Mahlen geschickt; aus dem Mehl wird ein Brot hergestellt, das billiger und nahrhafter ist als Bäckerbrot. Die Kleien werden im Herbst, mit Schwarzmehl oder Kartoffeln gemischt, dazu verwendet, Gänse zu mästen, und von diesen allernützlichsten Tierchen bleibt auch kein Blutströpfchen, kein Knöchelchen und kein Federchen unbenutzt. Jede geschlachtete Gans wird auf eine halbe, unter Umständen auf eine ganze Woche eingeteilt. Andres Fleisch wird in großen Stücken billig von Landfleischern gekauft, was allerdings heute, wo fast alle größern Städte mit einem Schlachthof und strenger Fleischpolizei beglückt sind, nur noch mit listiger Hintergehung der Polizei durchzuführen ist. Die Pflege und Einteilung dieser Fleischstücke, das Aufspüren günstiger Gelegenheitskäufe von Fleisch und andern Waren, das Einlegen und Dörren von Obst und Gemüse im Sommer und Herbst, das Einsammeln von allerlei Thee u. s. w. erfordern viel Zeit. Dazu kommt dann noch die sorgsame Behandlung der Wäsche, das öftere Mustern von Wäsche, Kleidern und andern Sachen, das Ausbessern und Ergänzen nebst vielen andern Arbeiten, die der Wandel der Zeiten nötig macht, und die sich gar nicht voraussehen lassen. Eine solche Frau hat alle 365 Tage des Jahres vollauf zu thun und kaum je eine Stunde für Brotverdienst übrig, dafür richtet sie auch mit achthundert Mark soviel aus, wie eine Frau, die in die Fabrik geht, kaum mit sechzehnhundert Mark ausrichten würde. Daß die Frauenarbeit in ihrer heutigen Form – mit der altmodischen Arbeit in Landwirtschaft und Hausindustrie verhält sichs vielfach anders – zusammen mit den langen Arbeitszeiten vieler Männer das »Eheideal« des sozialdemokratischen Zukunftsstaats nicht etwa bloß rechtfertigt, sondern längst verwirklicht hat, und daß jenes »Ideal« weiter nichts ist, als eine von der alltäglichen Wirklichkeit abgezogne Vorstellung, mag nur nebenbei angemerkt werden. Wo die Frau aufgehört hat, einen ordentlichen Haushalt zu führen und die Kinder zu pflegen, wo Mann und Weib einander nur auf ein paar Nachtstunden zu sehen oder vielmehr nicht zu sehen bekommen, da ist ihr Zusammenleben keine Ehe mehr im Sinne der alten und neuen Kulturvölker, sondern nur noch ein polizeilich gestattetes Konkubinat. Standesamt und Kirche können daran nichts ändern; sie können zwar auf den Inhalt, wo er vorhanden ist, den gesetzlichen Stempel drücken, aber den fehlenden Inhalt schaffen oder ersetzen, das können sie nicht.

Trotz alledem ist das Gesamtbild der wirtschaftlichen Lage jener 95 Hundertstel des preußischen Volks, die weniger als dreitausend Mark jährlich einnehmen, in Wirklichkeit nicht so düster, wie es nach den obigen Betrachtungen erscheint. Nur werden Forscher, die ihren Blick mehr auf die Ziffern als auf die Menschen gerichtet halten, niemals herausbekommen, wo der Fehler des übertriebnen Pessimismus steckt. Zwar, wenn der Beobachter Unglück hat, kann es ihm leicht begegnen, daß gleich der erste Versuch seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er kann sich z. B., um die Lage des behäbigen Mittelstandes zu prüfen, der nach Wolf im erfreulichsten Wachstum begriffen sein soll, in eine »Ressource« einführen lassen, und wenn er dann der Vergangenheit der Herren nachspürt, die er da angetroffen hat, und die allesamt den günstigsten Eindruck machen, so kann er etwa folgendes entdecken. Nummer eins hat sich dreimal mit seinen Gläubigern »gesetzt« und lebt von den Renten der Kapitalien, die er bei seinem Bankerott um die Ecke gebracht hat. Nummer zwei hat als Laufbursche angefangen, nichts ordentliches gelernt, bald diesen, bald jenen kleinen Schacher unternommen, hier eine Kneipe, dort eine Eisbahn gepachtet – denn daß Staat oder Gemeinde eine Pfütze Wasser oder eine Eisbahn der Jugend zur freien Benutzung überlassen sollten, anstatt eine Einnahmequelle daraus zu machen, das geht ja in unsrer so überaus wirtschaftlichen Zeit gar nicht mehr –. Nummer drei ist ein ehemaliger Beamter, der seine Stellung zu Geschäften mißbraucht hat, von denen man nur im Geheimen munkeln darf, wenn man sich nicht eine Beleidigungsklage zuziehen will, Nummer vier ist ein ehrbar gewordner Bordellwirt, Nummer fünf ein sehr ehrbarer Handwerker und Kravattenfabrikant u. s. w. Kurzum: lauter Schmarotzer, deren keiner sein Vermögen durch produktive Arbeit erworben hat. Oder stürzt sich der Beobachter auf einen Damenflor und horcht dann die Umgegend aus, so vernimmt er wohl, daß die Müllers, deren weibliches Oberhaupt durch eine wahrhaft fürstliche Erscheinung blendet, daheim nichts zu brechen und zu beißen haben, daß von den kostbaren Anzügen der Fräulein Schulze nicht ein Faden bezahlt, daß bei Meyers der Gerichtsvollzieher täglicher Gast ist u. s. w. Aber wir haben stellenweise wirklich noch einen soliden Handwerkerstand. Zwar, daß ein Handwerker ohne Anfangskapital lediglich durch seiner Hände Arbeit wohlhabend würde, kommt kaum noch vor. Wir haben mit Schustern und Tischlern die sorgfältigsten Berechnungen angestellt und herausbekommen, daß sie es, allein oder mit einem Gehilfen und einem Lehrling arbeitend, auch bei größter Tüchtigkeit nicht höher als auf neunhundert Mark jährlich bringen, also, wenn sie ein Häuflein Kinder haben, kein Vermögen ansammeln können. Aber daß Handwerker, namentlich Bauhandwerker, und solche, die einen Laden anlegen, mit einem kleinen ererbten oder erheirateten Betriebskapital ihr Geschäft weit genug vergrößern, um ein Vermögen von zwanzig- bis dreißigtausend Thalern ansammeln zu können, kommt überall noch vor. Auch die kleinern Kaufleute sind bei uns noch nicht, wie in England, von den großen Konsumvereinen erdrückt worden, und wir sehen auch da noch durch rechtmäßigen Erwerb Vermögen von zwanzig- bis hunderttausend Thalern entstehen. Sofern der Handel einem wirklichen Bedürfnis dient, d. h. notwendige Waren, deren die Konsumenten auf andre Weise nicht habhaft werden könnten, ihnen zugänglich macht und diesen Waren solchergestalt erst Gebrauchswert verleiht, ist er zu den produktiven Berufsarten zu rechnen.

Endlich aber und vor allem haben wir Deutschen einen tüchtigen Stand von Groß- und Kleinbauern und von kleinen Rittergutsbesitzern. In einigen Gegenden freilich ist durch fortgesetzte Erbteilung, unter welchem Namen unsre Staatsmänner das Übel der Übervölkerung feige verstecken, der Bauernstand teils auf die Zwergwirtschaft heruntergekommen, teils überschuldet; aber anderwärts, wo ein Zusammenwirken günstiger Umstände die Einwirkung jenes Übels vorderhand noch gehemmt hat, steht er ungebrochen und glänzend da. Auf Grund der Angaben eines Fachmanns und auf eigne Anschauung gestützt, haben wir im Jahrgang 1890 der Grenzboten (4. Vierteljahr, S. 630) die wahrhaft idealen und doch ganz wirklichen Zustände einer Gemeinde in dem bessern Teile Oberschlesiens geschildert, die als typisch für viele andre Gemeinden gelten kann. Heute möchten wir die Blicke der Leser noch auf den fruchtbarsten Landstrich Niederschlesiens lenken. Die »Rustikalen« oder »Gutsbesitzer« der dortigen großen Dörfer sind meistens insofern keine Bauern mehr, als sie eine höhere Bildung genossen haben, nicht mehr mit eigner Hand den Pflug führen und durchaus herrenmäßig leben. Aber die Grundlage ihres Daseins ist gesund geblieben, ihre Ansprüche gehen nicht über ihre Mittel hinaus, sie haben auch die Fühlung mit dem gemeinen Volke, zunächst mit ihren Arbeitern, nicht verloren. Wir hatten kürzlich Gelegenheit, einen unsrer Bekannten auszufragen, der einer von ihnen geworden ist. Von Haus aus Landwirt, aber städtisch gebildet und jahrzehntelang in einer ansehnlichen Stadt ansässig, wo er sich als Stadtrat vielfache Verdienste um das Gemeinwesen erworben hatte, fand er sich vor einem Jahre veranlaßt, für einen Sohn in jener Gegend ein Gut zu erwerben, das er, bis der junge Mann eingerichtet sein wird, selbst bewirtschaftet. Es ist 230 Morgen groß und mit 90 000 Mark bezahlt wurden. Mit dem Ertrage ist der neue Besitzer vollkommen zufrieden, und über seine Arbeiter hat er nicht die geringste Klage. Nicht allein in seinem, sondern auch im Namen seiner Nachbarn versichert er: die Arbeiter sind mit uns, und wir sind mit ihnen zufrieden. Allerdings ist die Behandlung ganz anders als auf manchen Rittergütern, wo sich das Gesinde glücklich schätzen würde, wenn es das Futter der Jagdhunde als Mahlzeit und den Schweinestall als Wohnung angewiesen bekäme. Das Gesinde jener Herrenbauern ißt zwar nicht, wie bei wirklichen Bauern, mit der Herrschaft am Tische, aber es genießt dieselbe Kost wie sie. Bei dem oben erwähnten Freunde ist die Einrichtung getroffen, daß das Gesinde in einem Zimmer zwischen der Küche und dem Speisezimmer der Herrschaft seine Mahlzeiten einnimmt, sodaß es jede Schüssel sieht, die auf deren Tisch getragen wird. Ähnliche Einrichtungen hat man, um dem Mißtrauen der Leute vorzubeugen, in der Gegend allgemein getroffen. Die Leute bekommen zu Mittag täglich Suppe und Braten – gekochtes Fleisch mögen sie nicht –, an Feiertagen auch abends Fleisch und zu Mittag zwei Fleischspeisen. Zwischen diesem Gesinde und dem Gesinde auf manchen Rittergütern besteht also ein himmelweiter Unterschied. Nur in der Erntezeit beginnt auch dort ein Stück sozialer Frage aufzutauchen. Zwar für den Erwähnten und viele seiner Nachbarn ist sie gelöst; sie haben mit der Verwaltung der benachbarten Eisenbahn einen Vertrag abgeschlossen, wonach diese ihnen ihre Arbeiter während der Erntezeit überläßt. Im allgemeinen aber ist die Frage, woher die größern Gutsbesitzer die bei der heutigen Wirtschaftsweise notwendigen Erntearbeiter nehmen, oder, falls solche vorhanden sind, wohin sie nach der Ernte verschwinden sollen, noch ungelöst und wahrscheinlich unlösbar. Die mittelalterliche Wirtschaftsweise kannte diese Schwierigkeit nicht. So große Bauern wie heute gab es nicht; der Dominialherr aber bewirtschaftete nur einen kleinen Teil seiner Besitzung selbst, und mit dessen Besorgung konnten seine Hörigen und Zinsbauern, deren Zeit und Arbeitskraft von ihrem eignen Gütchen nicht vollständig aufgebraucht wurde, auch in der Ernte bequem fertig werden. Überdies vollzog sich die Arbeit nicht so wie heute in kurzen heißen »Campagnen,« sondern sie erstreckte sich mit größerer Gleichmäßigkeit über das ganze Jahr.

Was wäre also der Kern unsers Mittelstandes. Aber auch in der Einkommenklasse derer mit weniger als 900 Mark findet sich noch eine Menge ganz gediegner Existenzen. Denn es stecken darin alle jene Kleinbauern und Ackerhäusler, deren Einkommen in barem Gelde gerechnet freilich nicht mehr als 600 bis 900 Mark beträgt, in Wirklichkeit aber weit mehr wert ist. Sie leben auf eigner Scholle und werden nicht aus einer Mietwohnung in die andre gejagt. Ihre Wohnung wird vielleicht zu einem Mietwert von 10 Thalern angeschlagen, ist aber in Wirklichkeit mehr wert, als eine großstädtische von 200 Thalern. Sie können die Arbeit nicht verlieren und nicht durch eine Handelskrisis ins Bettelproletariat hinabgestoßen werden. Ihre Nahrung ist gemein und ärmlich, aber gesund, kräftig und ungefälscht. Ihre Kinder gedeihen ohne besondre Fürsorge in frischer Luft, und in Zeiten der Not, wie nach Mißernten, wird die Familie von gutherzigen Nachbarn durchgeschleppt. Personen andrer Berufsstände werden hie und da einer solchen bei aller Armut sichern, würdigen und beglückenden Existenz teilhaftig. Wir kennen ein Bahnwärterehepaar, das acht Kinder groß gezogen hat und sich eines wirklichen ungetrübten Glücks erfreut. Der Schlüssel des Geheimnisses liegt in den paar Morgen Acker, die die Bahnverwaltung den Leuten zu dem bloß nominellen Pachtzins von 5 Mark für den Morgen überläßt. Um zu erfahren, ob eine Jahreseinnahme von 500 bis 800 Mark ein Zuchthäuslerleben oder etwas besseres bedeute, muß man eben fragen, in welcher Berufsart es erworben wird.

Wir sehen: bei aller Armut haben wir Deutschen weit mehr Wohlstand und Glück im Lande, als die Sozialdemokraten und – manche ihrer eifrigsten Gegner ahnen und zu begreifen vermögen. Als Nation weit ärmer als England, sind wir als Volk viel reicher, und unser Reichtum ruht auf einer weit gesündern Grundlage. Noch über vier Fünftel unsrer Nahrungsmittel erzeugen wir auf unserm heimischen Boden, die Engländer nur noch wenig über ein Fünftel. Unmittelbar im vaterländischen Boden wurzelt die große Mehrheit unsers Volks mit ihrer Arbeit und ihrer Existenz, die Wurzeln des englischen Lebens schwimmen im Wasser, schmarotzern in Indien, in Chile, in Deutschland, in der Türkei, in aller Welt; bekommen es die ausgebeuteten Völker und Kolonisten satt, so genügt ein Ruck, diese Wurzeln zu zerreißen, und das englische Volk ist zum Tode des Verschmachtens verurteilt. Eben weil wir als Nation ärmer sind, sind wir als Volk reicher, und wollen wir die gesunden Grundlagen unsers Volkslebens, wo sie noch vorhanden sind, erhalten, wo sie schon zerstört sind, wiederherstellen, so müssen wir vor allem darauf verzichten, noch weiter nach englischem Muster reich werden zu wollen. Das wird uns noch deutlicher werden, wenn wir nun auf die Spitze der Gesellschaftspyramide einen Blick werfen.


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