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Neuntes Kapitel

Erfordert der Kulturfortschritt Massenelend?

Das Elend ausrotten wollen, wäre utopisch. Aber das Massenelend ausrotten wollen, ist nicht utopisch, weil dieses Übel keineswegs mit Notwendigkeit aus der Natur der Erde und des Menschengeschlechts hervorgeht, sondern außer dem übervölkerten China nur die modernen Kulturstaaten drückt. Wir sind, von vielen verschiednen Seiten in die Frage eindringend, überall auf die Übervölkerung – natürliche oder künstlich erzeugte – als die eigentliche Ursache der Massennot gestoßen und haben damit keine neue Weisheit entdeckt, denn vom Anbeginn der Kultur bis ans Ende des Mittelalters haben alle Völker und Regierungen gar wohl gemußt, daß Massenelend unvermeidlich ist, wenn man einem Lande mehr Einwohner zu tragen zumutet, als es bequem ernähren kann, und haben jedesmal dem Beginn des Übels durch Kolonisation gesteuert; nicht durch solche Spielerei, wie wir sie heute unter dem Namen Kolonisation betreiben, sondern durch wirkliche Verpflanzung eines Viertels oder Drittels der Bewohnerschaft in ein fremdes Land. Bei uns ist schon der Gedanke an wirkliche Kolonisation, das heißt an das einzige mögliche Mittel, unser Massenelend zu beseitigen, verpönt, und die förmliche Aufforderung dazu würde mit den härtesten Strafen geahndet werden. Das ist ganz natürlich. Denn, wie wir gesehen haben, die Anhäufung großer Vermögen hat das Massenelend zur Voraussetzung, und daher dürfen die reichen Leute, die ja selbstverständlich den größten Einfluß im Staate haben, jenen Gedanken in der öffentlichen Meinung nicht aufkommen lassen. Selbstverständlich suchen sie die Wahrheit so gut wie möglich zu verstecken, und am geeignetsten scheinen ihnen für diesen Zweck solche allgemeinen Redensarten, wie daß der Kulturfortschritt Opfer erfordre, und daß man für die Segnungen der Kultur ihre Übel mit in Kauf nehmen müsse. Das Truggewebe dieser Redensarten gedenken wir im nachfolgenden zu zerreißen.

Es hieße Holz in den Wald tragen, wollten wir die in unsern Betrachtungen schon mehrfach erwähnte Thatsache ausführlich erörtern, daß die höchsten Blüten der Geistes-, Gemüts- und Herzenskultur aus einer mittlern Lebenslage erwachsen sind, die gleich weit entfernt war von großem Reichtum wie von bettelhaftem Elend. Diese Kultur, die allein den Namen Kultur verdient, hat weder den Geheimen Kommerzienräten noch den Fabrik- und Grubenarbeitern etwas zu verdanken; sie ist Jahrtausende vor beiden dagewesen, und man sieht nicht, daß sie in unsrer Zeit durch diese neuen Mächte irgendwie gefördert würde. Es ist richtig, daß die größten Gedanken und Entschlüsse, die erhabensten Charaktere aus tiefstem Weh geboren werden, aber dem stinkenden Elend des Proletariats ist noch keine Kulturblüte entsprossen. Nicht dieses war es, was die tiefen Kontraste von Verzweiflung und Himmelsseligkeit in Beethovens Tondichtungen erzeugt hat, sondern Liebesleidenschaft und Taubheit, zwei allgemein menschliche und individuelle Übel, nicht Klassenleiden. Selbst die zwei großen Religionen, deren Ziel die Erlösung des Menschengeschlechts vom Übel ist, haben Zustände wie unsre modernen nicht zur Voraussetzung. Aus der Buddhalegende erfahren mir wohl, daß Gautamas Herz durch den Anblick von Krüppeln, Blinden und Leichen erschüttert worden sei, aber wir lesen nicht, daß er einer Versammlung von Arbeitslosen beigewohnt hätte. Und die vier Evangelien sind, abgesehen von ihrem tragischen Schluß, ein Idyll, das in nichts an die häßlichen Bilder unsrer großstädtischen Lumpenviertel oder an eine Fabrik oder an die sklavenmäßige Arbeit auf einem modernen Dominium erinnert, und das von den großen christlichen Malern, wenn auch verklärt, so doch nicht unwahr dargestellt worden ist. Tagelang sehen wir da das arme Volk hinter Christus herziehen, und bald an einem Bergabhange, bald am Meeresstrande bequem gelagert, seinen Worten lauschen. Ab und zu wird ein wenig gearbeitet, z. B. das Fischernetz ausgeworfen, und die gar nicht arbeiten wollen oder können, betteln einfach. Christus und seine Apostel selbst leben, in der amtlichen Sprache unsrer Zeit ausgedrückt, vom Bettel; und nirgends eine Spur von gemütlichkeitstörender Polizei! Der Kulturzustand also, aus dem das Christentum geboren ward, ist jener Zustand der »Verlotterung und Unkultur,« über den die reisenden Engländer und Deutschen so erbost sind, wenn sie in südlichen Ländern hie und da »Gesindel« finden, das »müssig herumlungert,« singt, springt und lacht, d, h, sich auf eine wenig kostspielige Weise seines Lebens freut, da es doch von Rechts wegen Tag und Nacht in Fabriken eingesperrt und zu »produktiver« Thätigkeit gezwungen werden müßte. Blicken wir aber auf eine wirklich produktive Arbeit, die aus echter Kultur hervorgegangen ist und echte Kultur geschaffen hat, auf eine Kulturthat, die in mancher Beziehung als die größte der beiden christlichen Jahrtausende bezeichnet werden kann, die Eroberung der östlichen Länder durch den schwereren deutschen Pflug, wie Lothar Bucher es ausgedrückt hat, so ist sie ohne Großkapital vollbracht worden – das ganze Kapital bestand in der körperlichen und der durch keine büreaukratische Bevormundung gehinderten oder gebrochnen geistig-sittlichen Kraft deutscher Bauern –, und Elend hat sie schon gar nicht erzeugt, sondern nichts als Glück und Wohlstand.

Der Begriff Kultur muß daher, um mit den sozialen Zuständen unsrer Zeit irgendwie in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden zu können, auf den technischen Fortschritt beschränkt werden. Und das ist es wohl auch nur, was unsre Gegner meinen, wenn sie behaupten, das Massenelend sei nur der Schatten des Kulturfortschritts und von ihm unzertrennlich. Mit der eigentlichen und höchsten Kultur ist der technische Fortschritt insofern verknüpft, als jene fordert, daß alles dem Menschengeschlecht mögliche Wissen und Können im Laufe der Zeit wirklich werde, und daß es alle Gesellschaftsgestaltungen hervortreibe, deren es fähig ist; für beide Leistungen ist der technische Fortschritt nicht zu entbehren. Die Behauptung nun, daß dieser proletarische Zustände erfordre, hat einen mehrfachen Sinn. Zuweilen meint man damit, daß der technische Fortschritt des Großkapitals bedürfe, und da Großkapital ohne Massenarmut nicht entstehen kann, so wäre damit die Unentbehrlichkeit dieser allerdings erwiesen. Die Bedeutung des Geldkapitals nun für die Gütererzeugung hat Thorold Rogers in einigen kurzen Sätzen so überzeugend dargestellt, daß wir nichts bessers thun können, als seine Ausführungen hier wiedergeben. Sie finden sich in seiner Ausgabe von Smiths Wealth of Nations, und zwar in einer Anmerkung, die ins fünfte Kapitel des zweiten Buches (von den verschiednen Kapitalanlagen) einführen soll.

Für das Verständnis des Gegenstandes, sagt er, ist es außerordentlich wichtig, sich genau klar zu machen, worin eigentlich die Wirksamkeit des kapitalistischen Unternehmers besteht. Viele Nationalökonomen haben sich durch den Umstand irre führen lassen, daß die Arbeit eine Zeit lang durch den vom Unternehmer vorgestreckten Lohn im Gange erhalten zu werden pflegt, haben die Lehre vom Betriebskapital (labour fund) ungebührlich aufgebauscht und die Bedeutung dieses Kapitals für die Lohnarbeiter übertrieben. In Wirklichkeit ist aber der kapitalbesitzende Unternehmer weiter nichts als ein Repräsentant der Arbeitsteilung ( Representative ist kein ganz glücklicher Ausdruck; wie aus dem folgenden hervorgeht, ist Vermittler, Diener, Organ gemeint). Die Arbeit eines Arztes und eines Zimmermanns haben das gemein, daß sie beide Dienste sind, die in der Erwartung angeboten werden, man werde sie verlangen und vergelten. Die Vergeltung entspringt in beiden Fällen derselben Ursache, nämlich der Bereitwilligkeit des Publikums, in dem einen Falle von behauenem Holz, im andern von der Heilkunst Gebrauch zu machen. Dabei ist der Umstand ganz nebensächlich, daß dem Zimmermann ein Kapitalist die Arbeit vermittelt und zuteilt, dem Arzte nicht. Wenn es die Ärzte für vorteilhaft hielten, könnten sie mit einem Kapitalisten das Abkommen treffen, daß dieser ihnen festen Gehalt zahlte, dafür die ihnen zustehenden Gebühren einzöge, und sie so gegen die aus vorübergehender Arbeitslosigkeit entstehenden Verlegenheiten sicherstellte. Bei Anstellung von Armen- und Vereinsärzten geschieht das thatsächlich.

Der kapitalistische Unternehmer ist demnach weiter nichts als ein Vermittler. Er ist für den Arbeiter von großem Wert, indem er die Arbeit so lange fortsetzt, als Nachfrage dafür vorhanden ist, und dem Markte für das betreffende Erzeugnis eine gewisse Festigkeit verleiht, ähnlich wie der Getreidehändler sowohl die Landwirte wie die Brotesser vor Stockungen und übermäßigen Preisschwankungen bewahrt. Aber auf diese Funktion beschränkt sich der Dienst, den er dem Arbeiter leistet. Wenn dieser ihn loswerden, wenn er sich das zur Fortsetzung seiner Arbeit notwendige Geld auf einem andern Wege beschaffen kann, so ist es vielleicht vorteilhaft für ihn, sich ohne Unternehmer zu behelfen. Das versuchen die Produktivgenossenschaften; diese werden wahrscheinlich Erfolg haben, wenn sie einmal jene Mißgriffe vermeiden lernen, die aus der Unterschätzung der Dienste entspringen, die der Kapitalist bei der Leitung eines großen Unternehmens zu leisten pflegt. Wie der Unternehmer dem Produzenten – denn der Arbeiter ist der eigentliche Produzent – dadurch dient, daß er die Produktion in gleichmäßigem Gange erhält und übermäßige Schwankungen im Arbeitslohn verhütet, so dient er dem Konsumenten, indem er in dessen Versorgung mit Waren Stetigkeit bringt und, außer im Falle der Ringbildung, durch die Konkurrenz gezwungen wird, seine Ware zum niedrigsten Marktpreise anzubieten. Kurz: die Dienste, die der Kapitalist dem Arbeiter wie dem Konsumenten leistet, sind nur zeitweilig und vermittelnder Art. Abgesehen davon, daß er dem Arbeiter Vorschuß leistet, thut er weiter nichts, als daß er ihm sein Erzeugnis bezahlt; und sofern er dem Konsumenten nicht kreditirt, thut er für diesen weiter nichts, als daß er ihm die Mühe längern Suchens nach der fraglichen Ware erspart.

Die Art und Weise, wie man gewöhnlich von der wohlthätigen Wirksamkeit des Kapitalisten und seines Betriebskapitals spricht, ist alberne Übertreibung (absurdly exaggerated). Der Mann, der die Arbeit im Gange erhält, ist nicht der Kapitalist, sondern der Konsument. Der Kapitalist ist nur eine Bequemlichkeit für den Arbeiter wie für den Konsumenten. Diese Unterscheidung ist von höchster Wichtigkeit. Das Kapital des Kapitalisten dient dem Arbeiter nur vorübergehend. (So verstehe ich den Satz: there is no fund, except temporarily, between the capitalist and the labourer.) Beide empfangen Arbeitslohn, der eine für die Produktion, der andre für deren Verteilung (dieser hat außerdem auch oft noch für die Leitung welchen zu beanspruchen), und beiden wird ihr Lohn vom Konsumenten bezahlt. Die Lage des Arbeiters kann dabei allerdings von der des Konsumenten sehr verschieden sein. Jener kann mehr fordern, als dieser zu zahlen vermag, und so einen ökonomischen Selbstmord begehen, Es kann aber auch vorkommen, daß der Arbeiter in der Lage ist, einen höhern Lohn zu erpressen, als der Konsument eigentlich zu zahlen schuldig wäre; in diesem Falle wird dieser vielleicht seinen Bedarf einschränken. Der kapitalistische Unternehmer verliert in keinem der beiden Fälle.

So der Engländer. Fügen wir ergänzend hinzu, daß es sehr häufig nicht der Arbeiter, sondern der Unternehmer ist, der auf dem Wege entweder der Ringbildung und Monopolisirung oder der Steuer- und Zollgesetzgebung den Preis ungebührlich in die Höhe treibt, wie wir dies in den letzten Jahren an Brot, Fleisch, Zucker und Kohlen erlebt haben, wo die Arbeiter der betreffenden Produktionszweige an den Preiserhöhungen ganz unschuldig waren und gar nichts davon hatten.

Die hier ermittelte Bedeutung des Geldkapitals gilt nun für alle Fälle, gleichviel ob die Produktion zugleich auch noch den technischen Fortschritt fördert oder nicht. Wenn Großes geschaffen werden soll, müssen allerdings viele Kleine ihre Arbeit und ihre Arbeitsmittel vereinigen. Daß aber der Leiter des Unternehmens vor dessen Beginn schon reich sei, d. h. die Macht habe, Arbeiter und Arbeitsmittel selbst zu kaufen, ist ebenso wenig notwendig, als daß er dabei reich werde oder seinen Reichtum verdopple und verzehnfache. Nicht daran ist das Panamaunternehmen gescheitert, daß Lesseps für seine Person nicht die Mittel dazu hatte, sondern daß er beim Beginn schon zu alt war und weder die Schwierigkeiten und die Kosten richtig abzuschätzen, noch die richtige Verwendung der ungeheuern von lauter kleinen Leuten gelieferten Geldmittel zu sichern vermochte. Der verstorbne Kardinal Lavigerie pflegte sich zu rühmen, daß er bei 15000 Franks Einkommen 1200 000 Franks jährlich ausgebe, ohne Schulden zu machen. Diese Summen wurden größtenteils produktiv angelegt namentlich in der Urbarmachung der an die Sahara grenzenden Landstriche Algeriens. Wir haben da also eine großartige Vereinigung von Arbeitsmitteln zu produktiven Zwecken, ohne daß ein Kapitalist vorhanden wäre oder dabei entstünde. Wir könnten eine ganze Reihe solcher wohlthätigen Gründungen anführen, wie die Franckestiftung und das Rauhe Haus, haben aber gerade das »Werk« Lavigeries genannt, weil es im materiellsten Sinne des Wortes produktiv ist.

Ist also der Unternehmer als Kapitalist zwar sehr wohl zu ersetzen, so kann er dagegen als Organisator und Oberleiter des Betriebes allerdings nicht ersetzt werden. Aber da es eben, wie wir gesehen haben, nicht nötig ist, daß er entweder von vornherein Kapitalist sei oder durch das Unternehmen Kapitalist werde, so braucht auch keine misera contribuens plebs geschaffen zu werden, die ihn durch ihre Entbehrungen zum reichen Manne macht.

Man wird nun vielleicht einwenden: mag sein, daß der Theorie nach alle Leistungen der modernen Großindustrie auch ohne Großkapitalisten denkbar wären – thatsächlich ist das Streben rühriger Privatleute nach Reichtum der Sporn gewesen, der sie ins Dasein zu rufen getrieben hat, und ohne diesen Sporn würden sie nicht vorhanden sein. Wir sind so kühn, diese Behauptung für falsch zu erklären. Man muß unterscheiden zwischen Unternehmungen, die einen wirklichen Kulturwert haben, und solchen, die keinen oder nur einen scheinbaren haben. Unter den ersten nehmen Maschinenbauanstalten, Eisenbahnen, Schiffbau und Elektrotechnik den obersten Rang ein. Bei allen diesen Industriezweigen walten nun zwei merkwürdige Umstände ob: erstens der schon erwogne, daß sie trotz aller Kapitalskonzentration dennoch Arbeiterelend weder zur Voraussetzung haben noch erzeugen, zweitens: daß sie wegen ihrer einleuchtenden Nützlichkeit, die auf einer gewissen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zur Notwendigkeit wird, von der Gesamtheit betrieben werden würden, auch wenn kein Privatkapitalist vorhanden wäre, der sich an ein solches Unternehmen wagen könnte. Wo persönliche Gewinnsucht die Entwicklung dieser Industriezweige über das augenblickliche Bedürfnis hinaus beschleunigt hat, ist der Gesamtheit durch gewaltsame Umwälzung der Arbeits- und Vermögensverhältnisse mehr Unheil als Segen daraus erwachsen. Und gerade die berühmtesten und verdientesten Privatunternehmer sind auf nichts weniger als aufs Geldmachen ausgegangen. Ein Borsig, ein Krupp, ein Werner Siemens haben freilich auch im Vermögen vorwärts kommen wollen. Allein die Sehnsucht nach Reichtum ist nicht die Triebfeder ihres Schaffens gewesen, und sie selbst haben sich, als sie anfingen, gewiß nicht träumen lassen, wie reich sie mit der Zeit werden würden. Was sie trieb, war lediglich jener Schaffensdrang, der überall entsteht, wo Genialität mit Tüchtigkeit des Charakters zusammentrifft. Gesellt sich diesen beiden auch noch die Gunst der Zeitumstände hinzu, so wachsen die Unternehmungen unter den Händen des Unternehmers von selbst solange, bis der von der Nachfrage abhängige Sättigungsgrad erreicht ist. Der Reichtum bildende Unternehmergewinn fällt dabei als reines Accidens ab. Die Erben eines solchen Schöpfergenies pflegen dann freilich das Unternehmen nach rein kapitalistischen Grundsätzen weiter zu betreiben.

Die andre Klasse der Unternehmungen ist es, die Arbeiterelend zur Voraussetzung hat und erzeugt, derer nämlich, die keinen Kulturwert haben. Diese Klasse nun zerfällt in zwei Abteilungen. Gewisse Zweige der modernen Industrie schaffen Dinge, die zwar an sich notwendig sind, die man aber auch ohne sie haben könnte und gehabt hat; sie stellen sie nur in ungeheuern Massen und spottbillig her, und eben dieser Massenhaftigkeit und Billigkeit kommt kein Kulturwert zu oder gar ein negativer. Hauptvertreterin dieser Abteilung ist die Textilindustrie. Gewebe braucht man, aber man hat sie vor Erfindung der heutigen Spinn- und Webmaschinen in ausreichender Menge, Güte und Schönheit gehabt. Der Kulturwert der heutigen Massenproduktion ist nicht allein gleich Null, sondern negativ. Die Überproduktion macht den raschen Modewechsel zur Notwendigkeit; dieser trägt sehr wesentlich bei zur Notwendigkeit einer beständigen Steigerung der Einkommen, zum Wettrennen aller Berufsstände um Einkommenerhöhung und ist schuld an dem wirtschaftlichen Untergange vieler Beamten, Geschäftsleute und Handwerker; er befördert die kommunistischen Ideen durch Zerstörung der Volkstrachten und äußere Uniformirung der Stände und der Völker; hierdurch ist er zugleich der Tod der Ästhetik; macht er doch aus den Frauen und Mädchen unsers Volks jene mitleidswürdigen Fratzen, die man Damen nennt. Ein »Kostüm« mag der Pariser Mondaine oder Demimondaine, der es ursprünglich auf den Leib geschnitten war, sehr »chic« gesessen haben, aber die ehrwürdige Matrone aus dem Volke, die von schwerer Arbeit einen schwerfälligen Gang, eine ungeschickte Haltung und einen krummen Rücken bekommen hat, das ehrliche deutsche Gänschen, die verkümmerte Zwergin, der man am Gesicht abliest, wie unglücklich sie sich fühlt, die arme bucklige oder lahme Nähterin verunstaltet und verunehrt es. Dazu hat die Modenarrheit im Bündnis mit der europäischen Textilindustrie eine Menge schöner orientalischer Stoffe, wie die zarten indischen Musseline und die türkischen Umschlagetücher verdrängt, mit letztern zugleich eine Körperhülle, die schon in Schnitt und Faltenwurf sehr viel schöner war als glatt anliegende Überröcke oder der Mangel jeden Überwurfs. Der Kulturwert der modernen Textilindustrie beschränkt sich darauf, daß wir ihr die Kostümkarrikaturen der Fliegenden Blätter verdanken. Aber so unterhaltend die auch sein mögen, mit einigen Millionen verhungerter Handweber, geräderter und zu Tode geprügelter Fabrikkinder sind sie zu teuer erkauft. Der andre Zweig dieser Klasse umfaßt Industrien, deren Produkte auch nicht einmal an sich notwendig sind. Als Beispiele dafür können wir die Fabrikation der Cellulose und der Anilinfarben nennen. Die Arbeit in diesen Fabriken ist sehr ungesund und wird noch dazu schlecht bezahlt; ohne bettelarme elende Arbeiter, die sich zu jeder Bedingung verstehen müssen, könnten demnach diese Fabriken nicht bestehen. Und zu was sollten ihre Produkte nötig sein? Der einzige Nutzen des billigen und schlechten Holzstoffpapiers besteht darin, daß Zeitungen, deren Inhalt an Schlechtigkeit mit dem Papier wetteifert, durch ihre fabelhafte Billigkeit eine ungeheure Verbreitung erlangen und bessere Blätter verdrängen; an schönen und guten Farben aber ist auch ohne die Anilinindustrie kein Mangel. Der einzige Daseinszweck beider Stoffe ist die Bereicherung einiger Unternehmer, und das ist kein Kulturzweck.

Endlich weist man auf die ungeheure Verschiedenheit der geistigen Begabung hin, der die Verschiedenheit der Vermögenslagen entsprechen müsse. Die Verwirrung der Vorstellungen von diesem Zusammenhange zwischen Geisteskraft und Reichtum, zwischen Geistesschwäche und Armut ist so groß, daß man nicht recht weiß, an welchem Zipfel man den Knäuel beim Aufknüpfen anfassen soll. Nehmen wir den ersten besten. Der höchsten geistigen Kraft, der Schöpferkraft des Erfinders, des Entdeckers, des Künstlers, des Weltweisen fällt niemals der größte Vermögensanteil zu; weder Kolumbus, noch Kopernikus, noch Kepler, noch Newton, noch Lavoisier, noch Kant, noch Schiller, noch Alexander von Humboldt, noch Professur Weber in Göttingen, der Erfinder des elektrischen Telegraphen, haben zu den reichen Leuten ihrer Zeit gehört, und Stephenson und Watt sind wenigstens nicht sehr reich gestorben. Nicht einmal die größten Staatsmänner pflegen die reichsten Leute ihrer Zeit und ihres Volkes zu sein, obwohl sich bei ihnen die Forderung, das Schicksal oder die Gesellschaftsverfassung müsse dem größten Talent oder Genie den größten Reichtum zuteilen, noch am ehesten begründen ließe, weil ja der leitende Staatsmann der mächtigste Mann im Staate ist, und Geld sowohl als Machtmittel wie als Frucht der Macht von dieser unzertrennlich erscheint. Niemand hält jedoch den Kardinal Mazarin deswegen, weil er unermeßlich reich gestorben ist, für größer als Richelieu, und dieser hatte unbeschadet seiner Erfolge und seines Ruhmes ärmer bleiben können, als er geblieben ist. Nicht die höchste geistige Begabung und Thätigkeit, sondern erst die zweithöchste, die des Unternehmers, pflegt zum Reichtum zu führen, und wenn wir diese wiederum nach der innern Schwierigkeit und dem Kulturwert ihrer Leistungen abstufen, so steht der dadurch erworbne Reichtum oft genug nicht im geraden, sondern im umgekehrten Verhältnis zu den verschiednen Stufen. Viele Papiermüller sind reich geworden, nur gerade der eine nicht, dem die epochemachende Erfindung des Leimens zu verdanken ist, M. F. Illig. Durch einen Prozeß der Edisongesellschaft, die aus ihrem Glühlampenpatent ungeheure Einkünfte zieht, erfährt man jetzt, daß ein Deutscher, Namens Heinrich Göbel, nach der Anweisung seines Lehrers, des Professors Mönnighausen in Hannover, schon vom Jahre 1855 ab genau solche Glühlichtlampen wie die Edisonschen in Newyork gewerbsmäßig hergestellt hat, ohne dadurch reich zu werden. Ein neuer Beweis dafür, daß Edison weit weniger ein genialer Erfinder, als dem englischen und Yankeecharakter gemäß ein geriebner Ausnützer deutscher Erfindungen ist. In einzelnen Fällen wird das Verdienst schöpferischer Gründung, genialer Verbesserung und Leitung mit angemessenem Reichtum belohnt, im allgemeinen aber kommt der Spekulant rascher vorwärts und bringts weiter, als der verdienstvollste Fabrikant, Es heißt den Charakter der Arbeit wie der Nationen gründlich verkennen, wenn Wolf schreibt: »Wie bei den Kulturnationen eine unter Umständen nicht geringe Anzahl Arbeiter ›mit schwachem Gelingen‹ zu verzeichnen sind, giebt es auch da ganze Nationen, die dieses Prädikat verdienen. Bereits dem Südeuropäer fehlt die kolossale Arbeitsenergie des Engländers, eine nicht mehr physische Eigenschaft, die dessen exekutive Arbeit als die in Wahrheit höchststehende charakterisirt.« Es ist einfach nicht wahr, daß der englische Handarbeiter, denn dessen Leistung ist mit der exekutiven Arbeit gemeint, die höchste Arbeitsenergie bethätige; er besitzt nur die Fähigkeit, einseitiger als die Angehörigen aller andern Nationen zu arbeiten, reiner Automat zu werden, und diese Eigenschaft scheint ihm nicht von Haus aus eigen, sondern mit Hunger und Peitsche angedrillt zu sein, denn nach dem Zeugnisse der Shakespearischen Schauspiele muß der Engländer früherer Zeit ein so vollsinniger und vielseitiger Mensch gewesen sein wie der Deutsche; hat er sich doch auch gegen die Art Arbeitsenergie, die man ihm beim Übergang zum Maschinenbetrieb andrillte, mit Mord und Brand gewehrt. Was aber die schöpferische und die dispositive Arbeit der Engländer anlangt, so zeichnet sich die erste vor der der übrigen Völker dadurch aus, daß sie fast ausschließlich auf Dinge verwendet wird, die Geld bringen, und ihrer dispositiven wird der Erfolg, das heißt wiederum der Geldverdienst, weit mehr durch die Energie gewissenloser Ausbeutung als durch die Energie eigentlicher Arbeit gesichert. Eben darum hat der vornehme Engländer Erfolg, weil er sich nicht zum Arbeitstier und zum Sklaven der Pflicht macht, sondern den Blick und die Zeit frei hält, umherzuspähen auf dem Erdenrund, wo irgend ein Gewinn zu ergattern sei, und weil ihm keinerlei Gewissensbedenken noch pedantische Gewohnheiten den Entschluß, im rechten Augenblick zuzugreifen, verzögern noch die brutale Ausführung behindern. Holtzendorff erzählt in dem schon erwähnten Schriftchen, er habe seinem Squire den scherzhaften Wunsch ausgesprochen, die Engländer möchten uns ein Stämmchen Squiresöhne ablassen, daß wir sie in unsern Schulen erziehen und mit diesem lebenskräftigen Element unser durch büreaukratischen Mechanismus träge gewordnes Blut auffrischen könnten; der Squire aber habe geantwortet, das würde uns nichts nützen, denn in deutschen Schulen hielten es englische Jungen nicht aus, sie würden alle fortlaufen. Auch dem Produkte nach kann die englische Arbeit nicht als höchststehende bezeichnet werden. In Ackerbau und Viehzucht, es ist wahr, sind die Engländer den übrigen Nationen eine Zeitlang vorangegangen; aber da sich ihre Reichen auf andre Weise mehr zu »verdienen« wußten, so haben sie diesen wichtigsten aller Produktionszweige mehr und mehr eingeschränkt und sind bis hinter die Weisheit des Euripides zurückgegangen, der im Orestes einen der Ältesten von Argos mit den Worten loben läßt:

Die Stadt besucht er selten und des Marktes Rund,
Sein Feld bestellend, was allein das Land erhält.

Ein Engländer, es ist wahr, hat uns die verbesserte Dampfmaschine gegeben, aber nachdem der Franzose Papin die Maschine selbst hergestellt und den Dampf als bewegende Kraft in die Welt eingeführt hatte, war die Verbesserung nur eine Frage der Zeit, und hätte sie Watt nicht erfunden, so würde ein andrer, vielleicht ein Deutscher oder ein Amerikaner, darauf verfallen sein. Die Industrieprodukte Englands aber sind Erzeugnisse nicht der höchststehenden, sondern der am niedrigsten stehenden Arbeit, rein mechanischer Arbeit, an denen Geist, Phantasie, Kunstfertigkeit und guter Geschmack keinen Anteil haben, und indem dieses Volk mit den ungeheuern Massen seiner rohen Maschinenware die geschickte Hand, die künstlerische Phantasie und den guten Geschmack außer Thätigkeit setzte, hat es die echte und wahre Kultur zurückgeschraubt. Nicht die Menschheit mit neuen Kulturgütern zu beschenken, sondern zur Erzielung eines höhern Geldgewinnes einen Teil der alten Kulturgüter zu verdrängen, war Ziel und Erfolg der englischen Arbeit. Die hervorragende Stellung der Engländer in der Weltwirtschaft besteht nicht darin, daß sie mehr Güter lieferten als andre Völker, sondern daß sie andern Völkern mehr Güter auspressen; sie sind weit mehr Schmarotzer als Produzenten. Wer die Arbeit nach dieser Art Erfolg abschätzt, der muß die der Juden noch höher stellen, weil sie mit einem noch geringern Aufwande von wirklich produktiver Thätigkeit und noch größerer Energie im Erraffen noch höhern Geldgewinn erzielen. Es giebt auch Juden, die im Gewerbe, in Kunst, Wissenschaft und Litteratur produktiv thätig, sind, und ich selbst bin mit einigen befreundet. Solche sind natürlich nicht gemeint, sondern nur die in jener spekulativen Weise thätigen, die als spezifisch jüdisch gilt. In Wirklichkeit steht natürlich die englische höher, weil sie immerhin noch nützlicher ist. Aber was den Erfolg in dem angedeuteten Sinne anlangt, so hat uns der auf den Punkt gebracht, daß jetzt nicht mehr deutsche und russische Kanonen, nicht deutscher und französischer Geist, auch nicht der deutsche Pflug und der italienische Spaten, sondern englisches, amerikanisches und jüdisches Geld um die Weltherrschaft ringen.

Auf den Umstand, daß das Einkommen der verschiednen Arbeitenden im allgemeinen weder ihren verschiednen Begabungen noch ihren verschiednen Leistungen entspricht, gedenken wir nicht etwa eine Anklage gegen die bestehende Gesellschaftsordnung zu gründen. Im Gegenteil, die vollkommne Gerechtigkeit darf auf Erden nie und nirgends verwirklicht sein. In dem Augenblick, wo sie es wäre, und wo jedem der volle Lohn seiner Thaten, wozu auch der volle Arbeitsertrag gehört, mit naturgesetzlicher Notwendigkeit von selbst zufiele, gäbe es keine Möglichkeit mehr für den Menschen, seine sittliche Natur zu entfalten und zu bethätigen. Sondern wir haben diese Inkongruenz nur hervorgehoben, um die Folgerung abzuweisen, daß um der natürlichen Ungleichheit willen die Menschen von geringer Begabung und geringer Leistungsfähigkeit sich das allerelendeste und zum Teil ein geradezu unmenschliches und untermenschliches Dasein gefallen lassen müßten. Was dazu erforderlich wäre, um auch dem wenig Tüchtigen ein trauliches Nest und ausreichende Kost zu verschaffen, brauchte nicht dem wahren Verdienst entzogen zu werden, das in keiner zukünftigen Gesellschaftsordnung schlechter wegkommen wird, als es heute wegkommt, sondern nur solchen Menschen, die weit über Gebühr bezahlt werden; leistet doch selbst der ungeschickteste Erdarbeiter oder ländliche Tagelöhner für das Gemeinwohl weit mehr, als der geschickteste Couponabschneider oder Bankerotteur.

Und dann: ist es denn von vornherein ausgemacht, daß alle Menschen niedern Standes nur für die niedrigsten Verrichtungen befähigt sind? Wer sich in Volksschulen umgesehen hat, der weiß, daß es dumme und ungeschickte Jungen vornehmen Standes und talentvolle Tagelöhnerkinder giebt; dennoch werden, das steht im voraus fest, jene die höchsten und bestbezahlten gesellschaftlichen Stellungen einnehmen, und diese die untersten und schlechtest bezahlten, denn sich aus niedrigem Stande durch Talent emporzuschwingen, ist zwar zu allen Zeiten möglich gewesen, ist Sklaven und Hörigen gelungen; in unsrer Zeit der Freiheit und Gleichberechtigung aber, unter welchen schönen Namen sich die Alleinherrschaft des Geldes verbirgt, nahezu unmöglich geworden. Es ist unverantwortlich, wenn Wolf in seinem sehr ernsthaften und gelehrten Werke folgenden Äußerungen Kleinpauls eine gewisse Beweiskraft beimißt: »Alle Hutmacher wissen, daß die kleinsten Köpfe den Arbeitern und Handlangern angehören, die Maurer im besondern haben den Kopf so klein, daß man in Paris von einem kleinköpfigen Individuum sprichwörtlich sagt: il a une tête de maçon. Daher auch die Hutmacher in den Arbeiterquartieren nur kleine Hüte auf Lager haben (52-53 cm). Umgekehrt die Huthändler im Schulenquartier brauchen große Hüte (58-60 cm).« Hat nicht Kant einen ungewöhnlich kleinen Schädel gehabt? Und sind denn die Pariser Maurer eine geschlossene Kaste? Und würde sich nicht manches Proletariers Schädel stärker entwickelt haben, wenn er, anstatt mit zwölf Jahren auf Handlangerarbeit zu gehen, auf Schulen gegangen wäre? Zufällig habe ich in früherer Zeit mehrfach mit Bauhandwerkern zu thun gehabt und ein paar Maurerpoliere kennen gelernt, die in Fällen, wo der Regierungsbaumeister mit seinem Latein zu Ende war, noch ganz vortrefflich Rat wußten. Auf Befragen haben mir Hutmacher versichert, daß sie zwischen dem vornehmen und dem geringen Stande keinen Unterschied fanden, in beiden kämen große wie kleine Köpfe vor.

Mit Wolf bezweifeln auch wir die Richtigkeit der Ansicht Ratzels, daß »der Begriff Naturvölker nichts Anthropologisches, nichts Anatomisch-Physiologisches in sich habe, sondern ein rein ethnographischer, ein Kulturbegriff« sei, und »daß Völker von jeder Rasse, von jedem Grade natürlicher Ausstattung entweder noch nicht zur Kultur fortgeschritten oder in der Kultur zurückgegangen sein können.« Aber wenn wir dieser Auffassung gemäß glauben, daß unser Volk, das deutsche, zu höhern Leistungen als alle übrigen, ja zu den höchsten befähigt sei, dann ist es doch die ärgste Versündigung an der Natur, daß zwei Drittel dieses edeln, hochbegabten Volks in der Armut der Wilden schmachten, denn fünfhundert bis sechshundert Mark Familieneinkommen gewähren in Deutschland noch gar nicht einmal den Grad von Lebensgenuß, dessen sich der Wilde erfreut. Oder gehen vielleicht dem Deutschen dadurch, daß er in einer Tagelöhnerfamilie geboren wird, die anatomisch-physiologischen Eigenschaften seiner Rasse verloren? In den meisten Gegenden Deutschlands sind die Kinder der Armen, wenn ihre Eltern nicht schon zur Zeit der Erzeugung verkümmert waren, gewöhnlich bildhübsch und von edler Körperbildung, und ich bin überzeugt, daß sie, wenn sie in der Wiege mit vornehmen Kindern vertauscht würden, ein jedes seinen Platz so gut ausfüllen würden, wie die gebornen Prinzessinnen und Grafen, Professoren und Kommerzienrätinnen, während die Hochgebornen in der proletarischen Umgebung mit der Zeit so häßlich werden würden wie geborne Proletarier. Unedlere Körperbildung habe ich u. a. in einer Gegend der Lausitz bemerkt, wo die Leute wendischer Abstammung sind; auch im Königreich Sachsen soll dieser Unterschied auffällig sein; ähnliche Wahrnehmungen werden die Anthropologen in andern Gegenden Deutschlands gemacht haben. Wenn aus der natürlichen Ungleichheit der Rassen eine Folgerung für die Gestaltung der Gesellschaft gezogen werden soll, so kann es doch nur die sein, die vormals die Griechen, später unsre eignen Vorfahren und überhaupt alle herrschenden Völker gezogen haben, daß wir Deutschen zur schöpferischen und dispositiven Arbeit berufen, die unterworfnen oder zu unterwerfenden Barbaren aber zur exekutiven vorherbestimmt seien, demnach also unsre Sklaven sein müßten, im Herrschervolke selbst aber so ungeheuerliche Ungleichheiten der Berufsarbeit und des Einkommens nicht geduldet werden dürften.

Noch unhaltbarer ist der Hinweis eines andern Gegners der Sozialdemokratie auf die Verschiedenheit der Tiergeschlechter. Ein solcher Unterschied, daß die eine Gattung von Geschöpfen zum Genuß, die andre zum Leiden und Entbehren in beständiger Dienstbarkeit bestimmt wäre, findet sich überhaupt nicht in der Natur. Nicht in den verschiednen Graden des Glückes und des Genusses, sondern in der verschiednen Organisation liegt aller Unterschied, und jedes mit Bewußtsein begabte Geschöpf genießt, von Fällen individuellen Unglücks abgesehen, das Glück, wozu es seine Organisation befähigt; demnach ist der Elefant nicht glücklicher als die Maus, und diese nicht glücklicher als die Mücke. Sollte dieses Naturgesetz für die Menschheit gelten, so müßten, persönliches Unglück abgerechnet, alle Menschen das gleiche Glück genießen. Oder soll der Unterschied der geistig-sittlichen Anlagen und Charaktere, der sich bei unserm Geschlecht innerhalb einer im ganzen gleichen leiblichen Organisation gebildet hat, eine Verschiedenheit in der Ausstattung mit Glücksgütern begründen, so könnte die Verteilung doch nur folgendermaßen gedacht werden. Die Kalibans, wie vor einiger Zeit die Arbeiter einmal in einem konservativen Blatte genannt wurden, jene Kerls, die nach Ansicht der Herrschenden nur zu gemeiner Arbeit taugen und für andre als sinnliche Genüsse nicht empfänglich sind, müßten mit den Mitteln ausgestattet werden, sich in einer Fülle sinnlicher Genüsse zu wälzen, demnach ein sehr bedeutendes Einkommen beziehen. Jene erhabnen Geistmenschen dagegen, die, wie sie versichern, kein andres Bedürfnis kennen als die Wahrheit zu ergründen und sich fürs Vaterland zu opfern, bedürften außer einem sehr anstrengenden und schwierigen Amte nichts als eine weißgetünchte Dachstube, eine Bibliothek, notdürftige Kleidung und ihre tägliche Portion Wasser und Brot. Die in der Mitte stehenden geistig-leiblichen, die ästhetischen Menschen, dürften etwas reichlichern Sinnengenuß und außerdem eine schöne Wohnung in schöner Gegend, Musikinstrumente und Eintrittskarten zu allen Konzerten, Theateraufführungen, Kunstsammlungen beanspruchen. »Nicht humaner als die Natur« will Wolf sein; die Natur aber ist so human, jedem Wesen gerade den Lebensgenuß zu gewähren, dessen es fähig ist. Bebels Meinung, bei gleich günstigen Lebensbedingungen würden sich in allen Menschen annähernd gleiche Anlagen in reichster Fülle entwickeln, halte auch ich für phantastisch, schon aus dem Grunde, weil sich in vielen Fällen die scheinbar ungünstigsten Bedingungen als die günstigsten erweisen, und der große Charakter, oft auch das große Talent sich nur im Widerstande gegen Hindernisse entfaltet. Aber die heutigen Einkommenunterschiede und die Einkommenlosigkeit von vielen Tausenden mit dem Gefolge ihrer schrecklichen Leiden auf die Unterschiede der natürlichen Anlagen gründen wollen, das heißt sich zur aristotelischen Sklaventheorie bekennen und diese noch verschlechtern.

Endlich könnte man die Notwendigkeit des Massenelends noch damit begründen wollen, daß es den Armen zum Heroismus des Leidens und der Selbsthilfe, den Reichen zur Übung der Barmherzigkeit Gelegenheit darbiete. Allein für beides genügen schon die zahlreichen Fälle des persönlichen Elends, an denen es niemals fehlt, und im Vergleich zu der ungeheuern Zahl von Menschen, die im Massenelend sittlich verkümmern und verderben, kommen die einzelnen Heldencharakter, die es erzeugt, kaum in Betracht.

Also wir sehen, weder durch die Gesetze der Natur noch durch die Ansprüche der Kultur läßt sich das Massenelend rechtfertigen. Nur ein Fall ist denkbar, wo es als notwendig erkannt werden müßte, nämlich wenn Karl Marx mit seiner Auffassung der sozialen und volkswirtschaftlichen Entwicklung das Richtige getroffen hätte. Wäre wirklich der Umschlag der kapitalistischen in die kommunistische Produktionsweise das nächste Ziel der Entwicklung, so wäre allerdings das Massenelend unumgänglich notwendig, einmal als die unvermeidliche Wirkung der Vermögenskonzentration, die zum Umschlage führen soll, und andrerseits als das unentbehrliche Mittel zur Vereinigung der Proletarier aller Länder, die die neue Ordnung aufrichten sollen. Behaupten, daß innerhalb der bestehenden Ordnung die Massenarmut unheilbar sei, das heißt, jene Ordnung verurteilen und sich zu Marx bekennen.


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