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Siebentes Kapitel

Sterblichkeit, Pauperismus, Arbeitslosigkeit, Verbrechen

Sterblichkeit, Pauperismus, Arbeitslosigkeit – diese drei Schattenseiten des Lebens bieten den Sozialisten eine Fülle von Agitationsstoff dar, und es ist daher selbstverständlich, daß sich Wolf nach Kräften bemüht, sie unter den leuchtenden Farben seines optimistischen Kulturbildes verschwinden zu lassen. Leichtes Spiel hat er im ersten Punkte. Die Bevölkerung aller Staaten Europas mit Ausnahme Frankreichs, das in neuester Zeit fast stationär geworden ist, hat seit etwa 150 Jahren in einem weit stärkern Grade zugenommen, als im Altertum und namentlich als im Mittelalter; und diese stärkere Bevölkerungszunahme beruht teils auf einer Vermehrung der Geburten, teils auf Erhöhung des durchschnittlichen Lebensalters durch Verminderung der Sterblichkeit. Es versteht sich, daß diese beiden »Faktoren« in verschiednen Zeiten und Ländern ungleich groß sind, hie und da der eine sogar gänzlich verschwindet. Die Frage nun, ob diese stärkere Volksvermehrung als ein Beweis für zunehmende Volkswohlfahrt anzusehen sei, wollen wir nach unsrer eignen Einsicht beantworten, ohne für jeden einzelnen Punkt die Autoritäten anzuführen, die etwa früher schon dieselbe Meinung ausgesprochen haben.

Bei einer der Parlamentsenquêten, die in England zur Begründung der Arbeiterschutzvorschläge angestellt wurden, machte ein Arzt die Bemerkung, aus der Abnahme der Sterblichkeit dürfe man keineswegs auf Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen schließen; die akuten Krankheiten eines kräftigen Geschlechts hätten eben den schleichenden, langsamer tötenden eines schwächlichen und ausgemergelten Platz gemacht. Wenn man sich erinnert, wie alt häufig schwächliche, immer kränkelnde Personen bei geordneter Lebensweise werden, und wie viele kräftige vollblütige Männer vom Schlage oder von Entzündungskrankheiten vorzeitig weggerafft werden oder bei halsbrechenden Wagnissen umkommen, so wird man sich nicht darüber wundern, daß im Mittelalter, wo Unmäßigkeit im Essen und Trinken allgemein war, und noch dazu das Blut durch eine unvernünftige Menge von Gewürzen erhitzt wurde, und wo bei dem gänzlichen Mangel an Komfort und bequemen Verkehrsmitteln die Mehrzahl der Männer wenigstens zeitweise auf gefahrvollen Reisen, Pilgerschaften und Kriegszügen begriffen war, daß da die Menschen durchschnittlich jünger starben, als ein schlesischer oder sächsischer Leineweber, der nicht aus seiner Bude herauskommt, und dessen Organismus sich den kärglichsten Existenzbedingungen angepaßt hat. In dieser Anpassung vorzugsweise liegt das Geheimnis der überraschend langen Lebensdauer vieler Proletarier. Das gilt sowohl von der Ernährung wie von der Luft und den übrigen Daseinsbedingungen. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, gleich der Ratte ohne Sonnenlicht zu leben und Kloakenduft zu atmen. Wenn aber große Arbeitermassen in kloakenähnliche Räume eingesperrt werden, so bleiben schließlich eine Anzahl übrig, die die neue Spezies homo cloacinus fortpflanzen. Man hat in jüngster Zeit öfter davon gesprochen, daß die Weber das Hungern als Kunst betrieben. Allein über diese Stufe sind sie längst hinaus: ihnen ist spärliche Ernährung bereits zur andern Natur geworden. Wolf selbst führt als klassischen Zeugen dieser Thatsache Rechenberg an, der 1870 eine Abhandlung über »die Ernährung der Handweber in der Amtshauptmannschaft Zittau« geschrieben hat. Darin heißt es: »Die Männer sind schwächlich, zuweilen so sehr [ob nicht »meistens« oder »ganz allgemein« richtiger wäre als »zuweilen?«], daß sie zu einer mehr Muskelkraft erfordernden Arbeit, z. B. zu Tagelöhnerarbeit auf dem Felde nicht fähig sind. Immerhin reichen die Kräfte des Webers zu seiner im Sommer dreizehn- bis fünfzehnstündigen, im Winter vierzehn- bis sechzehnstündigen Arbeit aus; die kinderlose Familie verdient durch solche Arbeit im Jahre 397 Mark.« Seitdem, bemerkt Wolf dazu, allerdings weniger, infolge der Webernot. Daß die Leute bei dieser Einnahme überhaupt noch leben können, verdanken sie der Umsicht, mit der sie »in Übereinstimmung mit den Regeln der Wissenschaft« aus den billigsten Nahrungsmitteln ihre Kost so zusammensetzen, daß der Körper genau das zur Erhaltung des Lebens notwendige erhält, freilich auch nicht ein Quentchen darüber. Dabei wird noch zu beachten sein, daß diese Leute wahrscheinlich ihre eignen ererbten Häuschen bewohnen, also weder Geld auf teure Mietwohnungen brauchen, noch in arbeitsloser Zeit auf das Straßenpflaster geworfen werden können. Wolf scheint diese Erfindung oder Entdeckung der billigsten Lebensweise für ein Glück anzusehen. Er schließt die Anmerkung, in der er sie mitteilt, mit dem Satze: »Was aber jene Beschränkung auf sogenannte Kartoffel-, tatsächlich Kartoffel- und Mehlkost wirtschaftlich bedeuten will, geht aus folgenden Daten deutlich hervor.« Und nun folgt eine Tabelle, aus der man ersieht, daß ein Stück Rindfleisch zwanzigmal (Rindslende fünfunddreißigmal) so teuer ist als eine Kartoffelmasse von demselben Nährwert. In England haben Männer wie Adam Smith, Buckle, John Stuart Mill klar erkannt, daß ein Volk verloren ist, wenn es sich, gleich den Irländern und Indern, unter fortdauerndem Druck dazu bequemt hat, von den denkbar billigsten Nahrungsmitteln zu leben. Ein solches Volk verliert seine Energie, büßt jede Möglichkeit ein, seine Lage zu verbessern, und in einer wirtschaftlichen Krisis findet es keine tiefere Stufe der Lebenshaltung mehr unter sich, auf die es Vorübergehend hinabsteigen könnte: es muß verhungern. Drum ist es eine höchst bedenkliche Erscheinung, wenn man Mais und Lupinen als Volksnahrungsmittel empfiehlt, wenn die Pferdeschlächtereien zahlreich und sogar schon Hundeschlächtereien errichtet werden. Die Pest auf eine mit der Nahrungsmittelchemie verbündete Nationalökonomie, die uns lehren will, wie wir mit 400 Mark Familieneinkommen anständig leben können! Mögen diese Weber immerhin zufrieden, mögen sie sehr achtungswerte Staatsbürger und fromme Christen sein! Der ist des deutschen Volkes grimmigster Feind, der ihm eine Entwicklungsbahn empfiehlt, auf der es ein Volk von Schwächlingen werden soll, das weder den Pflug, noch den Schmiedehammer, noch die Muskete, noch das Schwert des Geistes zu führen vermöchte und nur eben noch dazu taugen würde, einem Nachbarvolke als Fabriksklaven zu dienen! Wäre ein mittelalterlicher Mensch auf einen heutigen Weberwochenlohn heruntergebracht worden, so würde er ihn am Sonntage aufgezehrt haben und dann vor Ablauf der Woche verhungert sein. Die Leute lebten damals für gewöhnlich in Fülle, nach einer Mißernte aber starben die Ärmern den Hungertod sans phrase. Heute sterben die Menschen, wie Rogers sagt, zollweise, nach und nach Hungers.

Eine Hauptursache der hohen Sterblichkeit im Mittelalter haben wir schon erwähnt: die unglaubliche Unsauberkeit bei dem gänzlichen Fehlen irgendwelcher Gesundheits- und Reinlichkeitspolizei. Was das bedeutet, hat uns letzten Sommer Hamburg gelehrt. Nach den amtlichen Berichten kann es keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die Elbe, die bei so niedrigem Wasserstande die ihr zugeführten Abfall- und Auswurfstoffe nicht fortzuschwemmen vermochte, der eigentliche Seuchenherd gewesen ist. Sie hat, wie Augen- und Nasenzeugen berichten, bis oberhalb der Schöpfstelle der Wasserwerke »geblüht« und gestunken, und das Gift ist nicht allein durch die Luft, sondern auch durch das Trinkwasser verbreitet worden, selbstverständlich zunächst durch die zunächst gelegnen Stadtteile, und da das die ärmsten sind, wo die Wohnungen am ungesundesten sind und die Widerstandskraft der Bewohner gegen Ansteckung am schwächsten ist, so ergab sich das übrige von selbst. Der Bazillus und die deutsche Wissenschaft in Ehren – allein es trifft sich immer so, daß unter gesundheitswidrigen Verhältnissen Seuchen entstehen, auch wenn gar keine Bazilleneinfuhr nachgewiesen werden kann, daß dagegen solchen Menschen, die unter günstigen Verhältnissen leben, alle Bazillen Bengalens nichts anhaben können, mögen sie auch zu wissenschaftlichen Zwecken kübelweise eingeführt werden. Bedenkt man nun, daß es in allen mittelalterlichen Städten jahraus jahrein ungefähr so duftete wie in den Hamburger Proletariervierteln diesen Sommer, so wird man sich nicht wundern, zu vernehmen, daß in ihnen die Zahl der Sterbefälle regelmäßig größer war als die der Geburten, und daß sich ihre Bevölkerung nur durch steten Zufluß vom Lande erhalten und vermehren konnte. Auf dem Lande schadet die Unreinlichkeit weniger, weil die giftigen Stoffe mehr Platz haben, sich durch Ausbreitung zu verdünnen; ganz unschädlich ist sie natürlich auch dort nicht. Was endlich die Heilkunde anlangt, so war der mittelalterliche Arzt gewöhnlich ein Doktor Eisenbart, der die Leiden des Kranken zwar für den Augenblick vermehrte, sie aber dafür durch ein kräftiges Tränklein, einen forschen Schnitt oder einen reichlichen Aderlaß bedeutend abkürzte.

Mit der Verminderung der Sterblichkeit ging vom sechzehnten Jahrhundert ab, hie und da allerdings durch verheerende Kriege zeitweilig unterbrochen, die Vermehrung der Geburten Hand in Hand. Ihre planmäßige Förderung gehörte mit zu jenem System der innern Politik, das unter dem Namen Merkantilsystem bekannt ist. Nicht mehr in dem Sinne, wie die auf Ackerbau gegründete Feudalwirtschaft, sondern vorzugsweise zu dem Zweck, Geld in den Staatsschatz zu schaffen, wurde die »Population« befördert. Wo, wie in Preußen, zugleich auch das Bedürfnis nach einem tüchtigen stehenden Heere bestand und die Industrie zu unentwickelt war, um viel Geld ins Land bringen zu können, traf diese Politik in ihrer wohlthätigen Wirkung auf den Bauernstand mit der alten Naturalwirtschaft zusammen. Man hieß alles willkommen, was Mensch war, mochte es im Inlande oder im Auslande, ehelich oder unehelich geboren sein. Am besten wird die Anschauung der damaligen Herrscher charakterisirt durch einen Ausspruch Friedrichs des Großen, den Ludwig Elster in seiner umfassenden Arbeit über das Bevölkerungswesen (Handbuch der Staatswissenschaften, Band 2, S. 474) anführt. Im Jahre 1741 schrieb der König an Voltaire: Je les (les hommes) regarde comme une horde de cerfs dans le pare d'un grand seigneur, et qui n'ont d'autre fonction que de peupler et remplir l'enclos. Da sich in neuerer Zeit der Zweck der Volksvermehrung unter der anständigern Fürsorge für die Volkssittlichkeit zu verbergen pflegt, so kann nicht mehr, wie im vorigen Jahrhundert, die uneheliche Vermehrung begünstigt werden.

Gerade in dem mit der Industrie so innig verbundnen Pauperismus nun erwuchs jener Politik ein mächtiger Bundesgenosse. Bekanntlich pflegt die Kinderzahl der Familien im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Vermögen zu stehen. Die drei Hauptursachen dieser Erscheinung sind nicht schwer zu entdecken und längst und vielfach ausgesprochen worden. Erstens wird durch reichliche gute Kost und scharfe alkoholhaltige Getränke die Zeugungskraft geschwächt, die bekanntlich nicht ganz dasselbe ist wie die Fähigkeit zur Befriedigung des Geschlechtstriebes. Was die starken Getränke anlangt, so nehmen viele reiche Leute, die durchaus nicht für unmäßig gelten, davon mehr zu sich, als schnapstrinkende Proletarier. Ein Mensch, der nur eine Mehlsuppe im Magen hat, torkelt schon von einem Gläschen Branntwein; ein starker wohlgenährter Herr kann bei einem Diner bequem zwei Liter kräftigen Wein trinken, ohne etwas im Kopfe zu spüren. Auch anhaltende geistige Beschäftigung, also einseitige Entwicklung des Gehirns, ist der Entwicklung des Zeugungssystems meistens nicht günstig. Zweitens heiraten die Proletarier in der Zeit, wo der Zeugungstrieb am stärksten ist, zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Jahre, und zwar näher dem zwanzigsten als dem dreißigsten, die Männer der höhern Stände dagegen erst, wenn die von der Natur für diesen Zweck bestimmte Blütezeit vorüber ist, nach dem dreißigsten Jahre. Endlich sind die Proletarier im großen und ganzen noch nicht auf den Gedanken verfallen, die Kinderzahl absichtlich zu beschränken. Wie weit diese Absicht Mitursache der durchschnittlich geringern Kinderzahl der Besitzenden ist, läßt sich natürlich nicht ermitteln. Thatsache ist, daß sie auch außerhalb Frankreichs vorkommt, und daß sogar schon viele deutsche Bauern die schmutzigen Künste der Franzosen erlernt haben. Nachträglich habe ich Hans Ferdys Schrift: »Die Mittel zur Verhütung der Conception« gelesen. Darin heißt es S. 7: »Die Zahl der deutschen Ärzte, welche Ehefrauen den regelmäßigen Gebrauch anticonceptioneller Mittel verordnen, zählt bereits nach Tausenden.« In England und Holland bestehen »gemeinnützige« Gesellschaften, die den Frauen des Volkes in dieser neuen ekelhaften Wissenschaft planmäßigen Unterricht erteilen lassen. Wäre der Prozeß gegen den Breslauer Arzt Schwand und seine dreißig Mitangeklagten nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt worden, so könnte man aus dieser Stichprobe Schlüsse ziehen erstens auf die Häufigkeit der procuratio abortus, zweitens auf die Häufigkeit der Fälle, wo nicht bloß niedere sondern auch höhere Dienstboten, wie Gouvernanten, von ihren Brotherren oder deren Söhnen geschwängert werden. Unter den Proletariern also, nur darauf kommt es uns hier an, herrscht das Gegenteil dieser »Vorsicht,« daher bedeutet jede Vermehrung des Proletariats und die entsprechende Verminderung des Standes der Besitzenden zugleich eine Verstärkung der Tendenz zur Volksvermehrung. Zwar wird der proletarische Zuwachs durch die ungeheure Kindersterblichkeit der untern Klassen einigermaßen gehemmt, aber der Überschuß bleibt trotzdem bedeutend. Schon in diesem Sinne hat Engels Recht, wenn er meint, ohne die Maschinen, die ja die Entstehung oder wenigstens Vermehrung des englischen Proletariats so sehr begünstigt haben, würde dieses in so großen Massen gar nicht vorhanden sein. Dazu kommt dann noch, daß erst die heutige Verkehrstechnik die Ernährung ungeheurer zusammengehäufter Menschenmassen möglich gemacht hat. Daraus, daß sie möglich ist, folgt natürlich nicht, daß sie auch gut sein müsse.

Unter Pauperismus soll hier nur die Erscheinung verstanden werden, daß eine unverhältnismäßig große Anzahl von Menschen von Almosen lebt. Wolf kann sich nun darauf berufen, daß in England und Wales die Zahl der Paupers, d. h. der Personen, deren Unterstützungsbedürfnis amtlich anerkannt ist, in den Jahren 1855 bis 1889 von 4,7 auf 2,8 Prozent der Bevölkerung zurückgegangen ist. Zum Teil mag diese Besserung auf Rechnung der bei andrer Gelegenheit beschriebnen Vermehrung des Volkswohlstandes in den fünfziger und sechziger Jahren kommen. Der Hauptgrund aber ist die barbarische und schimpfliche Behandlung der Unglücklichen in den Armenhäusern, in die sie gesperrt werden, und durch die sich die Obrigkeit ihre Aufgabe ungemein erleichtert. Wer noch einen Funken von Ehr- und Freiheitsgefühl im Leibe hat, der kommt lieber hilflos auf einem Kehrichthaufen um oder stürzt sich in die Themse, als daß er ins Armenhaus ginge. Das am 26. Januar veröffentlichte Blaubuch des Ministeriums des Innern giebt für 1891 die Zahl der Todesfälle durch Verhungern in London auf dreißig an. Fälle, wo bei konstatirtem Nahrungsmangel der Tod schließlich durch eine andre Ursache herbeigeführt oder beschleunigt wurde, sind in dieser Zahl nicht einbegriffen. Sollte es überhaupt möglich sein, in der Fünfmillionenstadt bei allen Proletariertodesfällen die Ursache festzustellen? Als dem Papste Gregor I. einmal gemeldet wurde, es sei ein Mensch in Rom Hungers gestorben, schloß er sich vor Scham und Schmerz ein, wollte sich nicht mehr sehen lassen, und ließ sich erst am dritten Tage bewegen, wieder unter die Leute zu gehen. Welches Glück, daß an die Stelle christlicher Milde wieder die antike Härte getreten und das Herz unsrer zartfelligen Herren und Damen mit Nilpferdhaut überzogen ist! Was würde aus den Staatsgeschäften und Hofbällen werden, wenn sie ein so dummes Gewissen hätten wie Gregor der Große! Im Arbeitshause werden Mann und Weib, Eltern und Kinder von einander getrennt, die empörendsten Mißhandlungen sind an der Tagesordnung, und die »Arbeit« an der Tretmühle regt selbst in dem Stumpfsinnigsten noch einen Rest von Widerstand auf, weil sie gar keine Arbeit ist, sondern nur eine Muskelanstrengung zu dem einzigen Zweck, den Armen zu quälen. Wie raffinirt die dem Götzen Mammon dienende englische Obrigkeit den Unglücklichen das Leben zu einer Hülle zu machen, alles, was der Natur widerstrebt, auf sie zu Haufen, alles, was sie begehrt, ihnen zu rauben versteht, mag man aus dem Umstande schließen, daß im Arbeitshause zu Herne, das in einer der schönsten Gegenden Kents liegt, alle Fenster in den Hof gehen, sodaß keiner der Insassen von Gottes schöner Natur etwas zu sehen bekommt. Der Berichterstatter, der das, nach Engels, in einer illustrirten Zeitschrift erzählt, bemerkt dazu: »Wenn Gott den Menschen für Verbrechen so bestraft, wie der Mensch den Menschen für die Armut straft, dann wehe den Söhnen Adams!« Döllinger handelt in dem von uns öfter erwähnten Buche auch von der englischen Armenpflege und sagt u. a.: »Hier wird mit einem Aufwande von sechs Millionen Pfund soviel erreicht, daß die Armen lieber in den härtesten Entbehrungen und im greulichsten Schmutze leben, als daß sie das Armenhaus aufsuchen.« Wolf bringt, ohne die frühere Behandlung der Insassen der Armenhäuser zu schildern, einige Zeugnisse bei, nach denen sich die Behandlung in neuerer Zeit gebessert haben soll. Vielleicht sind die Behörden gegen die körperlichen Mißhandlungen eingeschritten, aber das Entehrende der Einrichtungen ist geblieben, wie man aus den Angaben eines Buches über die sozialen Zustände Londons ersieht, das ein Namensvetter des Generals der Heilsarmee, der Statistiker Booth, voriges Jahr herausgegeben hat. Es ist nur natürlich, daß das Widerstreben gegen solche Behandlung in dem Maße zunimmt, als die englische Arbeiterschaft durch Schulbildung, Agitation, Organisation und Teilnahme am öffentlichen Leben das Bewußtsein ihrer Menschenwürde wiedergewinnt. Zudem haben die seit vierzig Jahren blühenden Gewerkvereine und Genossenschaften den organisirten Teil der Arbeiter der Gefahr überhoben, bei vorübergehender Arbeitslosigkeit oder dauernder Arbeitsunfähigkeit der Armenpflege zu verfallen.

Der »Reservearmee der Arbeitslosen,« die in der Beweisführung wie in der Agitation der Sozialdemokraten eine so bedeutende Rolle spielt, bestreitet Wolf einfach das Dasein. Er sucht statistisch nachzuweisen, daß, was in einigen Berufszweigen an Arbeitsgelegenheit verloren geht, durch das Aufblühen neuer Berufszweige reichlich ersetzt werde; er meist auf die Vagabundenheere früherer Zeiten hin, mit denen verglichen die heutigen unbedeutend seien; er meint, solches Gesindel, wie es in den Großstädten zu allen Zeiten zusammenströme, spiele in der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage eines Volks keine Rolle, und er schreibt schließlich: »Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei wiederholt, daß wir gegen die Thatsache des Pauperismus und zeitweiliger Arbeitslosigkeit vieler sowie dauernder Arbeitslosigkeit einer gewissen Zahl nichts weniger als blind sind. Was wir leugnen, nicht sehen können, ist bloß das, daß jene Gesellen, die arbeitsuchend von Herberge zu Herberge ziehen, diese »armen Reisenden, die elementare Kraft bedeuten sollen, die über Sein oder Nichtsein, und zwar im Sinne dieses letztern, entscheidet, unsre Gesellschaft aus den Angeln hebt.« Nicht das Vagabundentum wird unsre Gesellschaft aus den Angeln heben, sondern die Not wird es thun, von der die wachsende Zahl der Arbeitslosen ein Symptom ist. Wenn Wolf deutsche Zeitungen liest, so wird er mittlerweile erfahren haben, daß außer jenen »armen Reisenden« doch auch noch andre Leute in Betracht kommen. So z. B. die mehr als 8.000 Kandidaten des höhern Lehramts und die 1.827 Assessoren (nebst 2 973 Referendaren), die in Preußen der Anstellung harren, die studirten Proletarier, die bereits auf Anstellung verzichtet haben und sich als Zeitungsreporter oder sonstwie durchzuschlagen suchen, die »jungen Gelehrten aus guter Familie,« die sich »studienhalber« in Berlin aufhalten und eine Hauslehrerstelle »gegen Mittag- und Abendessen« suchen. Er wird außerdem von den Notstandsarbeiten gelesen haben, die manche Städte, wie Lübeck und Halle, unternehmen, nur um der drohenden Arbeitslosigkeit vorzubeugen. Daß es nicht bloß arbeitsscheues Gesindel ist, das von Herberge zu Herberge »walzt,« kann er u. a. aus dem Bericht über den 21. Bundestag der deutschen Barbierinnungen ersehen, wo mitgeteilt wird, daß 5616 Barbiergehilfen keine Stelle erhalten können. Man denke sich die entsprechenden Zahlen in den übrigen Gewerben zusammengezählt! Seitdem dies geschrieben ist, haben wir die holländischen Arbeiterunruhen, die Versammlungen der Arbeitslosen in England und Deutschland und die Notstandsdebatte im deutschen Reichstage erlebt. Nur eine Ziffer wollen wir anführen. Zu den wenigen Ortsobrigkeiten, die sich der Pflicht, für ihre Arbeitslosen zu sorgen, nicht entzogen haben, gehört die des Berliner Vororts Rixdorf. Der dortige Gemeindevorstand hat Umfrage gehalten und 2500 arbeitslose Ortseinwohner ermittelt. Er wird vielleicht den Aufruf des Landesverbands der sächsischen Naturalverpflegungsstationen vom vorigen Sommer gelesen haben, der zur Gründung weitrer solcher Stationen mahnt unter dem Hinweis darauf, daß »Nachrichten aus allen Teilen Deutschlands ein stetiges Anwachsen der Zahlen wandernder erwerbsloser Arbeiter melden.« Selbstverständlich bezeugt dieser Aufruf wie alle solche Kundgebungen zwar inniges Mitleid mit dem unter der Vagabundenplage leidenden armen Publikum, aber nicht mit dem »Strolche.« Daß diese Strolche Menschen sind, daß ihr Schicksal das schrecklichste ist, das man sich denken kann, daß also sie es vor allem sind, die Mitleid verdienen, daran denkt ja eine »gut bürgerliche Gesellschaft« von heute nicht mehr. In Wirklichkeit giebt es in alten und mittlern Zeiten nichts, was sich dem Elend der heutigen »Strolche,« die mindestens zur Hälfte im Anfang ihrer Wanderschaft ganz ehrliche arbeitsuchende Handwerksburschen gewesen sind, vergleichen ließe. Die beiden Übel, die zu allen Zeiten als die größten nach der Schuld gegolten haben: Hunger und Obdachlosigkeit, und die in frühern Zeiten den Betroffnen zu einem Gegenstande des Mitleids und der Ehrfurcht machten – dem Zeus gehörte im Altertum der mittellose Fremdling, und Christum sah das Mittelalter nach Matth. 25, 35 im Bettler –, diese beiden größten Übel zu Verbrechen zu stempeln, den ihnen Verfallnen als Auswurf der Menschheit, als Ungeziefer zu behandeln und ihn gleich einem wilden Tiere zu hetzen, sodaß er hungrig, halb erfroren und mit wundgelaufnen Füßen auch noch das verkörperte böse Gewissen sein muß, das vor jedem Stück grünen, blauen und roten Tuches erschrickt und jedem gut gekleideten Menschen scheu aus dem Wege geht, dieser Kulturfortschritt ist unsrer humanen Zeit vorbehalten geblieben. Vor fünfzig Jahren war der »arme Reisende« noch nicht zum Ungeziefer herabgewürdigt. Die vornehmen Leute hielten sich ihn wohl auch damals schon vom Leibe, aber der biedere Handwerker, der Kleinbürger hielt sein Näpfchen mit Pfennigen für ihn bereit, die Bauersfrau schnitt ihm einen Ranft Brot ab, und ein freundliches »Gsegns Gott« und »Vergelts Gott« begleitete Spendung und Annahme der Gabe.

Diesem schrecklichen Schicksal können sich nur solche Wanderburschen entziehen, die entschlossen mit der Gesellschaft, die sie verstoßen hat, brechen, ihr offen den Krieg erklären und in die Armee der großstädtischen Verbrecher einspringen. Hier können sie, wenn ihnen das Glück günstig ist, und wenn sie Frechheit mit Geschick verbinden, einige Jahre ein vom Bestienstandpunkte aus genußreiches Leben führen, und fallen sie schließlich der Obrigkeit in die Hände, so leben sie im Zuchthause immer noch angenehmer, als »auf der Walze,« im Asyl, in der Arbeiterkolonie, im Korrektionshause. Indem die bürgerliche Gesellschaft das lustige Vagantenleben des Mittelalters, das in dem Räuberleben einiger südlichen Länder noch einige Spätlinge treibt, vollständig zerstörte und das Los des Beschäftigungslosen so schrecklich machte, hat sie es ja wirklich erreicht, daß mit verschwindenden Ausnahmen jeder Mittellose jede Arbeit, die er nur irgend zu leisten vermag, unter jeder Bedingung übernimmt, die man ihm stellt. Diesem Umstande allein verdanken alle jene Industrien ihr Dasein, die entweder nur durch überlange Arbeitszeiten bestehen können, oder die eine ganz außerordentlich widerwärtige Beschäftigung, zum Teil in unerträglicher Temperatur, erfordern, und von denen manche, wie die Fabrikation der Anilinfarben, den Arbeiter binnen wenigen Jahren so gründlich vergiften, daß er zeitlebens siech bleibt. Die Sache steht also derart, daß wir mindestens zehnmal so viel Arbeitslose in Deutschland haben würden, als wir haben, wenn im deutschen Volke der germanische Geist jener alten Römerbezwinger noch lebendig wäre, die sich eher an den Mauern eines Gefängnisses den Kopf eingerannt, als in ein solches Joch gefügt haben würden. Die Ziffern der sächsischen Statistik, mit denen Wolf zeigt, wie herrlich der Industriefortschritt für das Unterkommen der steigenden Bevölkerung sorge, beweisen das aufs schönste. Die Zahl der in dem gesündesten aller Gewerbe, im landwirtschaftlichen, beschäftigten Personen nimmt ab, während die chemischen, die polygraphischen, die Papierindustrien und ähnliche immer größere Mengen von Arbeitern aufnehmen. Um den starken Zuwachs der Arbeiter »in künstlerischen Betrieben für gewerbliche Zwecke« (von 1849 bis 1875 über 400 Prozent) erfreulich zu finden, müßte man erst genauer wissen, was alles unter dieser Bezeichnung zusammengefaßt wird. Erfreulich ist in dieser Zusammenstellung, die wir nicht vollständig mitteilen können, nur das Wachstum der Verkehrsgewerbe, der Metallverarbeitung und der Baugewerbe. Das starke Wachstum der Veranstaltungen »für Beherbergung und Erquickung« erinnert uns daran, wie viel tausend Menschen, zum Teil starke gesunde Männer, dem Schicksal, zu den Beruflosen gerechnet zu werden, dadurch entgehen, daß sie ein »Geschäft« betreiben, das keine Arbeit ist: als überzählige Kneipwirte, als Krämer, Hausirer, Drehorgelspieler, Plakatausträger, Winkeladvokaten, Faktotums und sonstige Schmarotzer. Was die Erfolge der sehr löblichen Vereine und Anstalten, die sich um den Arbeitsnachweis bemühen, unter Umständen wert sind, dafür hat der Berliner Zentralverein für Arbeitsnachweis in seiner Oktoberübersicht ein lehrreiches Beispiel gegeben. Er rühmt sich, in den ersten drei Vierteljahren des laufenden Geschäftsjahres ausgezeichnete Erfolge gehabt zu haben, was um so erfreulicher sei, als bekanntlich (dieses »bekanntlich« mögen sich die Schönfärber zu Herzen nehmen) der Arbeitsmarkt sehr darniederliege. Das »sehr günstige« Ergebnis besteht nun darin, daß von 9000 arbeitslosen Personen 6000 untergebracht wurden. Wo und wie? erfährt man aus dem Vorwärts, dessen Kritik unangefochten geblieben ist. So z. B. wurden einige hundert zu einem Bahnbau nach Mecklenburg geschickt. Davon befanden sich acht Tage später drei Viertel wieder auf der Fußwanderung nach Berlin, und die Mecklenburger spotteten oder räsonnirten darüber, daß man ihnen Goldarbeiter, Uhrmacher und Advokatenschreiber geschickt habe, die sich freilich nicht zum Erdekarren eigneten. Daß es thatsächlich unmöglich ist, allen Arbeitsuchenden Arbeit zu verschaffen, beweisen die Arbeiterkolonien. Diese von den Behörden unterstützten und geförderten Anstalten verfügen natürlich über ganz andre Mittel, das Angebot der Nachfrage anzupassen, sich Aufträge zu verschaffen und ihre Erzeugnisse zu verwerten, als der einzelne arme Arbeiter. Wenn nun auch die Pfleglinge dieser Anstalten als heruntergekommne oder von Haus aus wenig taugliche Menschen nicht für voll genommen werden können, und man von ihnen nicht erwarten wird, daß sie genug verdienen werden, eine Familie zu ernähren, so sollte man doch meinen, sie müßten unter der eisernen Disziplin dieser Anstalten wenigstens ihren eignen Lebensunterhalt vollständig verdienen. Das ist aber nicht der Fall; diese Anstalten brauchen, so viel wir wissen, sämtlich Zuschüsse aus den Provinzialhilfskassen oder von Wohlthätern. Es ist also wenig Bedarf für die Erzeugnisse dieser Anstalten, und die darin angelegte Arbeit ernährt den Arbeiter nicht. Man hebt den Sozialdemokraten gegenüber immer den sittlichen Wert der Arbeit hervor, wir selbst haben es wiederholt gethan, und niemand kann diesen Wert höher schätzen, als wir es thun. Allein mit dem wirtschaftlichen Werte der Arbeit schwindet auch ihr sittlicher Wert; wer etwas schlechthin Überflüssiges thut – und in die beiden Klassen des Überflüssigen und des Schädlichen gehören die Arbeiten vieler modernen Industrien, die Scheinbeschäftigungen der Schmarotzer und solche sogenannte Notstandsarbeiten, die wirklich nur zu dem Zwecke ausgeführt werden, die Leute nicht unbeschäftigt zu lassen –, der hat nicht das Bewußtsein, eine sittliche Forderung zu erfüllen. Spielen ist noch sittlicher als solche »Arbeit,« weil es, mit Maß betrieben, dem vernünftigen Zwecke der Erholung dient. Der geniale Kunsthistoriker Ruskin, über dessen volkswirtschaftliche Ansichten Schulze-Gävernitz berichtet, sagt vollkommen richtig, die Güter hätten der Erhaltung des menschlichen Lebens nach seiner physischen, intellektuellen und ästhetischen Seite zu dienen, daher sei jede Hervorbringung unwirtschaftlich, die nicht das Leben nach einer dieser drei Seiten hin fördere. Die Hauptfrage sei daher nicht, wie viel Arbeit ein Volk leiste, sondern wie viel Leben es durch seine Arbeit möglich mache. Wenn aber Ruskin meint, wir Heutigen seien in der Wirtschaftlichkeit fortgeschritten, weil wir nicht mehr so viel Arbeit an Edelsteine und andern unnützen Schmuck verschwendeten wie unsre Vorfahren, dagegen weit mehr Arbeit auf die Beschaffung so notwendiger Dinge wie Luft, Licht und Reinlichkeit verwendeten, so hat er nur halb Recht. Wir verwenden, das ist wahr, weit mehr Arbeit auf Reinlichkeit, auch auf Luft und Licht – für die obern Klassen; ist doch, mit Hamerling zu reden, der Fortschritt in der Reinlichkeit der einzige unzweifelhaft wertvolle unter allen Kulturfortschritten. Aber wir haben auch vollauf genug Zeit und Arbeitskraft für diese Zwecke, und wir hätten Arbeitskraft genug, auch den Allerärmsten diese und andre wertvolle Güter zu spenden, wenn es nicht das Getriebe unsrer heutigen Wirtschaft geradezu verböte und die Verschwendung ungeheurer Massen von Arbeitskraft an Überflüssiges erzwänge, zum Teil nur um den Schein zu erzeugen, als sei Arbeitsgelegenheit genug vorhanden. Von dieser Scheinarbeit haben wir nur noch einen Schritt zur Tretmühle des englischen Arbeitshauses, nach dem schon so mancher »konservative« Strafrichter und Gefängnisinspektor hinüberschielt. Als ein Ereignis, das »allgemeine Heiterkeit« erregt habe, wurde neulich in vielen Blättern erzählt, wie in Moabit eine Frauensperson, die wegen Obdachlosigkeit angeklagt worden war, ob ihrer Freisprechung in ein Jammergeschrei ausgebrochen sei und mit aller Gewalt ins Gefängnis zurückgewollt habe. Wie viele Obdachlose im Herbst »Strafthaten« begehen – neuerdings sind Majestätsbeleidigungen beliebt –, nur um Unterkunft im Gefängnis zu bekommen, ist ja bekannt. Die berühmte »lex Heinze« schlägt für diesen Fall körperliche Züchtigung vor, um den Leuten die Sehnsucht nach dem Gefängnisse zu vertreiben. So gelangen wir allmählich zu der englischen Praxis, jedem Armen, der nicht unter jeder ihm zugemuteten Bedingung arbeitet, oder der schlechterdings keine Arbeit bekommt, das Leben zur Hölle zu machen und dadurch den Schein zu erwecken, als sei er ein Verbrecher, der sehr wohl arbeiten könnte, aber nur nicht wolle.

Die statistischen Angaben, die zur Beleuchtung des Grades der Arbeitslosigkeit hie und da beigebracht werden, sind wertlos. Es giebt keine Statistik der Arbeitslosen, und obwohl man sich jetzt von verschiednen Seiten um eine solche bemüht, werden wir doch noch lange vergebens darauf warten. Denn sobald einmal offenkundig geworden ist, daß – sagen wir eine Million – Einwohner des Staates keine Gelegenheit mehr haben, sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verschaffen, erwächst daraus für den Staat die furchtbare Aufgabe, diese Schwierigkeit zu lösen. Davor fürchten sich aber alle Staatsmänner so sehr, daß sie den Thatsachen gegenüber Augen und Ohren verschließen und von einem statistischen Nachweise nichts wissen wollen. In England ist man in dieser Hinsicht nicht ganz so feig. Freilich drängen sich dort auch den Augen die Thatsachen mehr auf. An den Thoren der Docks sah es zur Zeit des großen Streiks noch genau so aus, wie es Engels vor fünfzig Jahren beschrieben hat: jeden Morgen harrten Tausende dort in banger Erwartung; beim Öffnen und schon vorher entwickelte sich der Kampf ums Dasein im buchstäblichen Sinne des Wortes und in seiner abschreckendsten Gestalt, jeder suchte sich nach vorn vorzudrängen; war die gerade erforderliche Menge abgezählt – natürlich waren nur die stärksten und rücksichtslosesten so glücklich, dranzukommen –, so hatten diese auf einige Stunden Arbeit und für diesen Tag Brot; die Thore aber wurden geschlossen, und die übrigen mußten traurig oder ingrimmig von dannen ziehn. Die erste Forderung der Dockarbeiter beim Streik war bekanntlich auf gleichmäßige Verteilung der Arbeit gerichtet. Aber da nun einmal das Angebot von Arbeit größer ist als die Nachfrage, so hat auch die Gewerkvereinsbildung die Schwierigkeit nicht zu lösen vermocht, und vor etwa anderthalb Jahren meinte daher die konservative Saturday Review, da es offenbar unmöglich sei, allen armen Bewohnern Londons Arbeit zu verschaffen, so solle man die Zahl der Arbeitslosen ermitteln und diesen Armengeld zahlen; das sei noch nicht so schlimm wie ewige Arbeiterunruhen.

Auch die Abnahme der Verbrechen endlich pflegen Optimisten als einen schlagenden Beweis für das Wachstum des Wohlstands in den untern Schichten anzuführen; in England und Wales kamen nach Wolf 1855 nicht weniger als 79 überführte Verbrecher, 1889 nur 37 auf je 100000 Einwohner. Über diesen letzten Punkt können wir uns kurz fassen. Wie alle Welt weiß, hören die Konservativen nicht auf, über die zunehmende Kriminalität zu jammern, und um dem Übel zu steuern, empfehlen sie die Wiedereinführung der Prügelstrafe und andre Strafverschärfungen. Mit diesen Herren mögen sich die Bewundrer der heutigen Gesellschaftsordnung auseinandersetzen, und wenn ihre Verhandlungen die Sache ins Reine gebracht haben werden, können wir dann den Faden weiterspinnen. Für jetzt nur die Bemerkung, daß es unter allen Arten von Verbrechen nur eine einzige giebt, die als zuverlässiger Maßstab für die ab- und zunehmende Not der Armen verwendet werden kann: das sind die gewöhnlichen kleinen Diebstähle. Dieser Maßstab hat sich bis in die jüngste Zeit bewährt: wie in allen frühern Zeiten, so ist auch im Jahre 1891 die Zahl dieser Diebstahle mit den Kornpreisen gestiegen. Im allgemeinen ist die Kriminalstatistik zur Beurteilung des Volkswohlstandes wie der negativen Sittlichkeit schon deswegen unbrauchbar, weil die Zahl der Anklagen und Verurteilungen weit mehr von der Zahl und dem Eifer der Polizisten, von den Gesetzen, ihrer Interpretation und ihrer Anwendung als von der Beschaffenheit und den Zuständen des Volkes abhängt. Wir haben vor dreißig und vierzig Jahren aus eigner Anschauung blühende Dörfer gekannt, in denen sehr vieles von dem unanstößiger Brauch war, was heute, in einzelnen großen Städten wenigstens, als Vergehen gegen das Eigentum, als Sittlichkeitsvergehen, grober Unfug, Majestätsbeleidigung u. s. w. bestraft zu werden pflegt. Wären die Bauern jener Dörfer damals – wie es heute dort aussieht, wissen wir nicht – mit diesem strengen Maßstabe gemessen worden, so würden sie, anstatt dem Vaterlande Prachtweizen, Prachtkühe und Prachtjungen zu liefern und den Steuersäckel zu füllen, das ganze Jahr hinter Schloß und Riegel gesessen haben, und mit den ihnen unbekannten Schutzleuten würde auch noch der Widerstand gegen die Staatsgewalt bei ihnen eingezogen sein.

Was nun England anlangt, das Wolf zunächst im Auge hat, so ist dessen Statistik nicht zuverlässiger als die unsre, wie man z. B. aus den beinahe spaßhaften Schwankungen der Angaben über den Umfang der Trunksucht sehen kann. Vor etwa fünfzehn Jahren machte eine Statistik die Runde um die Welt, nach der in England auf je eine Seele, die Weiber und Kinder einbegriffen, anderthalb Trunkenbolde kämen. Vor zwei Jahren wurde dann die Welt mit einer Statistik des Alkoholverbrauchs überrascht, aus der sie mit Staunen ersah, daß in keinem Lande der Welt eine so geringe Menge dieses Gifts auf den Schlund komme wie in England. Vorigen Sommer erfuhren wir dann wieder aus einer Artikelreihe des Daily Telegraph und aus einem Vortrage, den eine Nichte Gladstones, Lady Cavendish, auf dem Kirchenkongreß zu Folkestone gehalten hat, daß das weibliche Geschlecht, auch das der höhern Stande, der Trunksucht in früher unerhörtem Maße fröhne. Worauf dann wieder verschiedne Zeitungen meinten, die Sache sei doch wohl nicht so arg, man sehe in London weit weniger Betrunkne im Gerinne liegen wie vor einigen Jahren, dank der strengern Bestrafung solches öffentlichen Ärgernisses, aber eben diese größere Strenge habe eine größere Anzahl von Verurteilungen zur Folge, und diese erzeuge den Schein einer Zunahme der Trunksucht. Von der größern Strenge des Gesetzes werden doch wohl die Damen, die nach der Versicherung der Lady Cavendish nach der Mahlzeit mit den Herren im Rauchzimmer rauchen und kneipen, nicht betroffen.

Die Abnahme der Straffälle in England ist nun allerdings eine Thatsache. Wahrscheinlich gebührt das Hauptverdienst darum jener Verbesserung des Armenwesens und der Strafrechtspflege, deren einen Urheber, Barwick Lloyd Baker, uns Franz von Holtzendorff in seinem reizenden Büchlein »Ein englischer Landsquire« so lebendig vor Augen führt. Es könnte gerade in unsern Tagen nichts schaden, wenn denkende Männer von Einfluß dieses im Jahre 1877 erschienene winzig kleine aber gehaltvolle Buch, das die leider täglich mehr schwindende Lichtseite des englischen Lebens schildert, noch einmal durchläsen. Wir wollen hier nur zwei Anekdoten daraus mitteilen, die den Geist ahnen lassen, der jene Reform beseelt hat. Ein Lord S. wurde von Wilddieben überfallen. Nachdem er sich ihrer glücklich erwehrt hatte, traf er am Saume des Waldes einen Konstabler auf der Lauer, der höchst verdrießlich darüber war, daß die Kerls den Lord lebendig hatten entwischen lassen. Er habe um das Komplott gewußt, gestand er dem Lord ganz offen, sich aber weislich gehütet, ihn zu warnen. Denn wäre der Bedrohte tot geschlagen worden, so hätte er, der Konstabler, dann die Mörder festgenommen und wäre belohnt worden. Hätte er aber den Lord vor der Gefahr gewarnt, so würden seine Vorgesetzten darin keinen Beweis seines Diensteifers erkannt haben. »Der berufsmäßige Polizist, fügte Sir Baker dieser kleinen Erzählung bei, wird nicht bloß in Frankreich, sondern auch in England angeklagt, die armen Teufel aus dem Standpunkte des Sports zu betrachten. Wie es die Pflicht des Jagdhüters ist, seinem Grundherrn im Herbst so viel Fasanen als möglich vorzustellen, damit diese geschossen werden können, so ist es die Pflicht eines regelmäßigen Berufspolizisten, seiner Würdigkeit, dem Richter, die möglichst große Anzahl von Angeklagten vorzuführen, damit diese verurteilt werden können.« Ziehen wir daraus eine kleine Nutzanwendung durch Verallgemeinerung und sagen wir: dem Polizisten, dem Ankläger und dem Strafrichter von Beruf liegt nichts an der Verminderung und Verhütung von Verbrechen, kann gar nichts daran liegen; ist doch deren Vermehrung für ihren Stand Lebensfrage. Bei einer andern Gelegenheit erzählt Baker eine Anekdote aus der Zeit der Hexenprozesse. Ein ausgezeichneter und verständiger Richter unter Jakob dem Zweiten, Sir John Powel, fragte ein armes altes Weiblein, das man der höllischen Kunst des Fliegens beschuldigte: Können Sie fliegen? Jawohl, Mylord, antwortete die Angeklagte. Nun, dann fliegen Sie nur nach Hause; ich kenne kein Gesetz, das das Fliegen verböte. Holtzendorff bemerkte dazu: »Wie viel Weisheit liegt in dieser kleinen Anekdote. Sie ist wirklich wert, erhalten zu werden zum Nutzen mancher gelehrten Herren und manches Staatsgerichtshofes. Wenn z. B. bei uns ein Hochverratsprozeß spielt und der Angeklagte befragt wird: Sie wollen also den Staat über den Haufen rennen und Gebietsstücke gewaltsam losreißen? so könnte man einem Geständigen zuweilen auch wie der alte Powel sagen: Nun, stürzen Sie nur den Staat und reißen Sie ein Stück ab. Vor der Hand gehen Sie nach Hause.«

Das Ergebnis unsrer Untersuchung ist: in der Frage der Arbeitslosigkeit haben die Sozialisten gegen die Lobredner der heutigen Gesellschaft Recht; was die andern drei Punkte anlangt, so mag immerhin die Sterblichkeit und die Zahl der aus öffentlichen Kassen unterstützten Armen, vielleicht auch die Zahl der Verbrechen stetig abnehmen, aber zu Gunsten des heute herrschenden Kapitalismus und Industrialismus läßt sich daraus nichts folgern.

 

Von mancherlei Werte der Arbeit

Wie es eigentlich mit dem Werte der Arbeit stehe, darüber giebt weder die oben erwähnte Erklärung Ruskins erschöpfende Auskunft noch die beliebte Bezeichnung »sittlicher Wert,« die noch vieldeutiger ist als das Wort Sittlichkeit selbst.

Vom Gesichtspunkte der Pflicht aus sind alle Arten von Arbeit gleichwertig: nach christlichem Glauben gilt das Tagewerk der treuen Magd und des Tagelöhners, der im Schweiße seines Angesichts seiner Familie das Brot verdient, so viel vor Gott, wie das Schaffen des genialen Künstlers und die Thaten des großen Staatsmanns. Wird ein Unterschied der Verdienstlichkeit angenommen, was zwar das protestantische Dogma verbietet, die natürliche Empfindung aber fordert, so ist beim Arbeiten ähnlich wie beim Wohlthun (das Scherflein der Wittwe Markus 12, 43) das Verdienst um so höher anzuschlagen, je schwerer die Leistung fällt, also je unangenehmer und anstrengender sie an sich oder für den Leistenden ist, je weniger Lohn und irdischen Ruhm sie ihm einbringt.

Vom Gesichtspunkte des gesellschaftlichen Nutzens aus eine Stufenleiter der Werte zu entwerfen, ist nicht allein schwierig, sondern unmöglich, weil wir bei sehr vielen Thätigkeiten nicht wissen, ob ihre guten oder ihre schlimmen Wirkungen überwiegen. Der Mann des öffentlichen Lebens wird die staatsmännische, der Fromme die geistliche, der Pädagog die Lehrthätigkeit am höchsten zu stellen geneigt sein, aber die gebildete Welt ist heute noch nicht einig darüber, ob Cromwell und Napoleon I., Gregor VII. und Luther, Sokrates und Giordano Bruno den Tod oder die Krone der Unsterblichkeit verdient haben. Je bescheidner in einem dieser Thätigkeitsgebiete die Stellung eines Menschen ist, desto zweifelloser pflegt der Nutzen zu sein, den er stiftet, aber ihn darum höher zu stellen als die großen Lichter, das geht doch nun auch wiederum nicht an. Kaum einer der großen Philosophen ist der Anklage entgangen, daß er viel Schaden angerichtet habe. Ein Lateinlehrer dürfte kaum je als gemeingefährlich verschrien werden; dafür bestreiten ihm viele, daß er irgendwelchen Nutzen stifte. Dem Dorfschulmeister endlich bestreitet niemand, daß er etwas unbedingt notwendiges und daher auch nützliches leiste, denn unter den heutigen Umständen muß jedermann lesen, schreiben und rechnen können; in andrer Beziehung aber übt er möglicherweise einen schlimmen Einfluß auf seine Schüler aus. Nur zweierlei steht fest: daß es Personen giebt, die unbedingt schädliche Arbeit leisten, wie die Verfasser verleumderischer Schmähschriften oder unsittlicher Romane und Schauspiele, und daß es zwei Berufsarten giebt, deren Angehörige nur nützliches schaffen, ohne irgend jemanden zu schädigen. Diese zwei Berufsarten sind die Landwirtschaft samt Gärtnerei – aber nur die Landwirtschaft alten Stils – und die höhere Kunst, namentlich die Tonkunst, und zwar wiederum nur die alten Stils, denn Wagnersches Gewimmer macht nervenkrank. Wer Weizen sät, eine Milchkuh groß zieht, Schweine mästet, einen Obstbaum pflanzt, der hat das zweifellose und unanfechtbare Bewußtsein, etwas sehr nützliches gethan zu haben, und es ist gar keine Möglichkeit vorhanden, daß aus seiner Arbeit irgend jemandem ein Nachteil erwüchse. Eine gesunde Tondichtung bereitet unzähligen Menschen Erquickung, wirkt nicht selten auch reinigend und erhebend, und auch hier wiederum ist jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß daraus irgendwelcher Schaden entspringen könnte. Bei der Arbeit des Handwerkers überwiegt wenigstens der Nutzen ganz entschieden.

Vom Gesichtspunkte der Menschennatur aus endlich stehen wiederum die landwirtschaftliche und die künstlerische Thätigkeit am höchsten, diesmal jedoch die des bildenden Künstlers, weil nur in diesen beiden den beiden Anforderungen der Menschennatur Genüge geleistet wird, daß sich Geist und Körper gleichmäßig entfalten und daß der Mensch schaffend dem Schöpfer ähnlich werde. Die Handwerke stehen also um so höher, je naher sie der Kunst kommen. Auch der niedre Handwerker kann einigermaßen Künstler sein. Wie ich aus Posts »Musterstätten« entnehme, erzählt Schäfer (»Die Unvereinbarkeit des sozialistischen Zukunftsstaates mit der menschlichen Natur«) folgende artige Anekdote. Ein ihm bekannter Schuster pflegte an jedem bei ihm bestellten Paar Stiefel so herumzukünsteln, als wenn es zur Weltausstellung geschickt werden sollte. Dabei verdiente er nicht viel, denn er bekam für seine sorgfältige Arbeit nur unbedeutend mehr, als seine Kollegen für Schleuderarbeit. Als ihn Schäfer einst fragte, warum er nicht lieber Durchschnittsware liefre und damit seinen Verdienst erhöhe, da zeigte ihm der Meister lächelnd einen Stiefel und sagte: »ist das Vergnügen an einer solchen gediegnen Arbeit nicht mehr wert, als ein bißchen Wohlleben?«

Nicht selten wird heute über den Vorrang der geistigen Arbeit gestritten. Mit dem Worte »geistig« ist jedoch nichts ausgerichtet; der schuftige Spekulant bildet sich auch ein, geistige Arbeit zu liefern. Wolf und viele andre klagen die Sozialisten an, daß sie nur die Arbeit der schwieligen Hand hochschätzten, die geistige gering achteten. Die Apostel des Handfertigkeitsunterrichts, des Turnens, des Militarismus, der Jugendspiele hingegen klagen das gegenwärtige Geschlecht der Thorheit und Verkrüppelung an, weil es sich nur auf das Bücher- und Schreibwesen verlege und alle körperlichen Künste und Fertigkeiten, als nicht vornehm genug, verachte und vernachlässige. Den richtigen Weg aus dieser Wirrsal zeigt die von den Alten aufgestellte Unterscheidung der Arbeiten in opera liberalia und servilia; die katholischen Moraltheologen benützen sie, um die Frage zu beantworten, welche Arbeiten am Sonntage erlaubt seien; verboten sind nur die »knechtischen.« Bekanntlich giebt es keine geistige Thätigkeit ohne jegliche Mitwirkung des Leibes – mindestens das Gehirn wird in Anspruch genommen – und keine körperliche, die den Geist völlig ausschlösse; ein klein wenig Aufmerksamkeit ist sogar in der Tretmühle und beim Kurbeldrehen noch erforderlich. Die katholischen Theologen irren nun mit den Alten bloß darin, daß sie geneigt sind, der geistigsten aller Thätigkeiten, der philosophischen Spekulation, bei der doch so oft nur leeres Stroh gedroschen wird, die Palme höchster Liberalität zu reichen. Vielmehr steht aus den oben angegebnen Gründen das Schaffen des Künstlers am höchsten. Die gelehrte Forschung ist an sich nur Handlangerarbeit; will der Forscher eines höhern Preises teilhaftig werden, so muß er zugleich Künstler sein. Das ist z. B. der Fall, wenn der Geschichtsforscher Charakterbilder gestaltet, oder wenn der Naturforscher die Ergebnisse seiner Forschung in der Heilkunst anwendet. Am niedrigsten steht offenbar die Fabrikarbeit mit Maschinen, wo der »Arbeiter« nichts zu thun hat, als die arbeitende Maschine zu bedienen. Das ist aber gar keine Arbeit mehr; es ist eine Rackerei, eine Schinderei, vielfach schlimmer als die der Droschkengaul zu erdulden hat, aber es ist keine menschliche Arbeit. Nicht der Mensch schafft, sondern die Maschine thut es; der Mensch hat niemals die Befriedigung, ein fertiges Stück vor sich hinstellen zu können, wie der Schuster alten Stils den Stiefel – der neue Maschinenschuster kanns auch nicht mehr –, und sagen zu dürfen: das ist nun mein Werk, dem ich das Gepräge meiner Individualität aufgedrückt habe! Er darf gar keine Individualität haben, darf nicht Persönlichkeit sein; er ist nur Hand, allenfalls noch Auge, manchmal, aber nicht immer, Muskelmann; der Hauptsache nach ist er Maschinenteil. Schleiermacher ist der erste gewesen, der diese Art »Arbeit« für des Menschen unwürdig erklärt hat, Roscher und Robert von Mohl haben ihm beigestimmt, und es giebt keinen wirklich gebildeten Mann, der nicht ebenfalls beistimmte. Damit ist über unser heutiges Maschinenwesen das Urteil gesprochen: es ist durch und durch unsittlich. Sittlich gerechtfertigt ist die Anwendung der Maschine nur, wenn es sich um Kraftleistungen handelt, denen die Muskelkraft des Menschen nicht gewachsen ist, und bei denen zudem der Mensch nicht Arbeit im oben bezeichneten Sinn, sondern reinen Sklavendienst verrichtet, also beim Heben von Lasten und beim Transport von Waren und Personen. Hier dient die Maschine dem Menschen, erleichtert ihm eine Plackerei oder befreit ihn davon. Dagegen ist es unsittlich, die Maschine im Gewerbe derart anzuwenden, daß sie dem Menschen seine, die zur Vollendung seiner Menschennatur notwendige Arbeit raubt, und ihn zu ihrem Diener herabwürdigt. Demnach handelt jeder unsittlich, der den Maschinenbetrieb auf dem bisherigen Wege fortentwickeln will, anstatt in andre Bahnen einzulenken und die zerstörte Menschenarbeit wiederherzustellen. Wer die Fortentwicklung der Maschinenindustrie auf dem bisherigen Wege für unvermeidlich hält, der ist eben Pessimist; er hat sich in den Gedanken gefunden, daß die Mehrzahl der Menschen, eine stetig wachsende Mehrzahl, zu einem Sklavenleben verurteilt bleibe, das schon der Arbeitsqualität nach tief unter dem muhammedanischen und altheidnischen Sklavenleben steht, und worin die Menschennatur selbst untergeht. Schon aus diesem Grunde steht die Thätigkeit des modernen Unternehmers durchaus nicht so hoch wie Wolf sie stellt; der gesellschaftliche Schaden, den sie anrichtet, überwiegt den Nutzen, den sie stiftet. Der Unternehmer sowie der von ihm beschäftigte Arbeiter haben meistens nicht einmal das Bewußtsein, etwas volkswirtschaftlich Notwendiges zu thun; klagen doch alle Industrien über mangelnden Absatz, d. h. also: klagen sie sich doch selbst an, rein Überflüssiges zu schaffen! Der einzelne Unternehmer mag ein sehr sittlicher, ein edler Mensch sein, der nur fürs Gemeinwohl zu arbeiten glaubt, und seine Unternehmung mag in diesem Zustande der Verkrüppelung, dem die heutige Menschheit verfallen ist, wirklich notwendig sein – an sich ist das Unternehmertum, das die Menschenarbeit mehr und mehr durch Maschinenarbeit zu verdrängen strebt, tief unsittlich.

Das kapitalistische Unternehmertum scheint zu fühlen, daß auch diese Frage über kurz oder lang auf die Tagesordnung werde gesetzt werden müssen, und daraus erkläre ich mir den leidenschaftlichen Angriff einer großen mittelparteilichen Zeitung auf die harmlose und liebenswürdige Utopie des englischen Dichters William Morris. Die sozialdemokratische Wochenschrift »Die Neue Zeit« hat einen Teil davon abgedruckt unter dem Titel: »Kunde von Nirgendwo; einige Kapitel aus einem utopischen Roman.« (Daß der sozialdemokratische Redakteur die Erzählung ausdrücklich als Utopie bezeichnet, ist wohl zu beachten.) Dieser Teil kann als eine Verherrlichung der menschlichen Arbeit, der echt menschlichen Arbeit bezeichnet werden. Es kommen eine Menge höchst glücklicher Gedanken darin vor. So wird u. a. beschrieben, wie die Menschen im Maschinenzeitalter, weil sie sich der Maschinen selbst zu den kleinsten Verrichtungen bedienten, ganz von ihnen abhängig geworden seien und beim Übergang ins neue Zeitalter erst wieder hätten arbeiten lernen, erst wieder hätten lernen müssen, wie man seine Hände und seinen eignen Verstand gebraucht; weil sie alle Gebrauchsgegenstände aus Fabriken bezogen hätten, so hätten sie Dinge verlernt, die ehedem jedes Kind gewußt und gekonnt hatte, z. B. wie man Brot bäckt und wie man Fett und Alkalien zu Seife mischt. Unter den großen Toten würde namentlich Goethe seine Freude gehabt haben an dieser Geißelung moderner Unnatur. Nun sucht die oben erwähnte Zeitung diese Utopie als ein Gewebe von Albernheiten zu verschreien und den Abdruck in der »Neuen Zeit« als einen Beweis dafür hinzustellen, wie weit die Sozialdemokratie bereits heruntergekommen sei. »Was hier an seniler und stumpfsinniger Träumerei geboten wird,« sagt der Verfasser u. a., »das übersteigt alles dagewesene.« Und am Schluß heißt es: »Das Tollste aber ist, daß die Maschinen beseitigt sind und an die Stelle derselben wieder die Handarbeit getreten ist ... Nichts davon ist originell, alles nur senil abgeschwächte Wiederholung Fourierscher Wahnsinnsphantasien.« Ich finde Morris im Gegenteil originell und jugendfrisch; von Fourierschen Phalanstèren und Limonadenmeeren kommt nichts vor in seiner Erzählung, wenn auch selbstverständlich Fouriersche Ideen darin walten; sind doch notwendig alle Utopien untereinander verwandt.

Der Verfasser jenes Leitartikels offenbart darin dreierlei. Erstens, daß er kein Herz im Leibe hat, Alban Stolz, der bekannte katholische Volksschriftsteller – auch evangelische Geistliche schätzen seinen »Kalender für Zeit und Ewigkeit« und seine Erklärung des Vaterunsers sehr hoch – hat die Liberalen für die grausamsten aller Menschen erklärt, weil sie den Armen zuerst durch die Fabriksklaverei den irdischen Himmel eines naturgemäßen Daseins, und dann durch die »Aufklärung« auch noch die Aussicht auf den jenseitigen Himmel geraubt, das Volk also in eine hoffnungslose Hölle gestoßen haben. Nun, nachdem der Sozialismus dem Volke die Hoffnung wiedergegeben hat, die Hoffnung auf ein irdisches Paradies, das die Arbeiter zwar wohl nicht selbst mehr zu erleben hoffen, über das sie sich aber ihrer Kinder wegen freuen, speien die Herren Liberalen Gift und Galle, und bemühen sich aufs eifrigste, auch dieses armselige Stückchen Lebensglück den Armen durch Hohn und Spott zu verekeln und es ihnen zu rauben. Wenn heute der Prophet Jesaja erschiene und sein Lied vom messianischen Reich anstimmte: »dann wird der Wolf beim Lamme wohnen, der Pardel sich zum Böckchen lagern; Rind, Löw und Schaf weiden zusammen, ein kleiner Knabe hütet sie« – so würde auch das natürlich nur seniler Wahnsinn und Volksaufhetzung sein. Zweitens offenbart der Verfasser, daß ihm jede Spur von Gerechtigkeitssinn fehlt. Denn nachdem man den Sozialdemokraten solange vorgeworfen hat, sie erstrebten nichts als ein müßiges Schlaraffenleben, so müßte es doch jetzt lobend anerkannt werden, wenn sie eine Utopie veröffentlichen, in der alles arbeitet, mit Lust und Freude arbeitet, mit Vergnügen, nicht »nur zum Vergnügen,« wie der Leitartikler fälscht. Wenn die heutigen Arbeiter, die die wirkliche echt menschliche Arbeit gar nicht mehr kennen, sondern nur noch die oben beschriebne Plackerei, wirklich dem Schlaraffenideal huldigten, so wäre das nicht zu verwundern; aber Marx und Engels sind daran nicht schuld; beide haben ausdrücklich hervorgehoben, daß echt menschliche Arbeit beglücke – gehören sie doch selbst zu den fleißigsten aller Menschen – und daß nur die Art von Arbeit, zu der unser Industrialismus zwingt, die Hölle sei. Drittens bekundet der Verfasser, daß er nicht weiß, was Arbeit ist.

Wenn man vom sittlichen Wert der Arbeit spricht, so faßt man diesen Ausdruck gewöhnlich in einem engern und so zu sagen subalternen Sinne; man meint damit, daß die Arbeit vor bösen Gedanken und liederlichen Streichen behüte und allerlei Tugenden, wie die Mäßigkeit, Ordnungsliebe, Geduld, Ausdauer, Aufopferungsfähigkeit fördere. Das alles ist richtig; man wird jedoch leicht bemerken, daß diese Wirkung bei den verschiednen Arten von Arbeit sowohl der Art wie dem Grade nach verschieden ist, indem die einen Thätigkeiten mehr diese, die andern mehr andre sittliche Eigenschaften fördern. Auch in dieser Beziehung steht die moderne Fabrikarbeit am allertiefsten; sind doch in England und auch anderwärts viele Fabriken und Bergwerke zu Schulen aller Laster geworden, so daß sich die Humanitätsbestrebungen, die Kirchen und die Zwangsgewalt des Staates haben verbünden müssen, um einigermaßen Ordnung zu schaffen. Viele moderne Berufsarten zerstören das Familienleben und verwüsten demnach ein sehr wichtiges Gebiet des sittlichen Lebens. Eine ganz mechanische Verrichtung endlich, wie das Drehen einer Kurbel, das kaum noch Aufmerksamkeit erfordert, läßt den Gedanken völlig freien Spielraum, und diese werden den Umständen nach vorherrschend schlecht oder wenigstens bedenklicher Art sein: entweder wird der zur arbeitenden Hand gehörige Kopf von sinnlichen Genüssen träumen oder davon, wie er sich wohl bei einer Revolution an seinem Brotherrn und an seinem Aufseher rächen könnte.


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