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Vierzehntes Kapitel

Wesen und Aufgaben des Staates

Ehe wir sagen, was unser Staat bei dieser Lage der Dinge zu thun hat, wollen wir uns vorher das Wesen und die Aufgaben des Staates im allgemeinen klar machen. Wir werden dabei finden, daß der Staat, wenn er jene ihm in diesem Augenblick obliegende große Aufgabe ablehnte, seinen Daseinszweck verfehlt haben würde, sodaß er dann besser thäte, je eher je lieber zu verschwinden.

Was ist der Staat? Der Ausdruck »moderner Staat,« ist ein Pleonasmus, weil der Staat sowohl dem Wort als der Sache nach überhaupt etwas Neues ist. Er ist eine besondre Art von Gemeinwesen, die weder mit der Politie, civitas und respublica der Alten, noch mit dem römischen oder spätern deutschen imperium, noch mit dem in alten und mittlern Zeiten vorkommenden regnum Ähnlichkeit hat, sondern mit den orientalischen Despotien des Altertums. Dem Worte wie der Sache nach ist der Staat eine Schöpfung Richelieus und Ludwigs XIV., obwohl ihm Karl V. oder vielmehr der Kardinal Ximenes in Spanien, sowie die italienischen Stadttyrannen und die deutschen Territorialfürsten vorgearbeitet hatten. Im Staate ist das Gemeinwesen derart eingerichtet, daß die gemeinsamen Angelegenheiten eines ganzen großen Volkes der Willkür einer allmächtigen Bureaukratie ausgeliefert sind, die den Unterthau bevormundet und ihn von der Wiege bis zum Grabe nicht losläßt. Meine Ansichten über Gemeinwesen, Staat und Gesellschaft, aber natürlich nicht die über Religion und Kirche, decken sich der Hauptsache nach mit denen, die der Dominikaner Weiß in seinem voriges Jahr bei Herder in Freiburg erschienenen Buche »Soziale Frage und soziale Ordnung« entwickelt. Die Übereinstimmung meiner Ausführungen mit den seinen beruht daher nicht auf Entlehnung; nur ein paar seiner treffenden Bemerkungen, die ich einflechte, sind ihm entlehnt. Seit der französischen Revolution haben die Völker des europäischen Festlandes krampfhafte Anstrengungen gemacht, den Staat den alten und mittelalterlichen Städterepubliken ähnlich zu machen und die Unterthanen in freie Bürger zu verwandeln, aber aus Gründen, die auf der Hand liegen, vergebens: Bauern, Schuster und Schneider können sich zwar in einem Gemeinwesen von tausend, von zehntausend, auch von hunderttausend Mitgliedern selbst regieren, aber nimmermehr in einem, das zehn bis hundert Millionen umfaßt. Unsre Parlamente sind der Hauptsache nach Debattirklubs, die, obwohl sie sich Volksvertretungen nennen, nicht einmal so viel Macht haben, den »freien Staatsbürger« vor der Willkür eines Polizeibeamten, Gendarmen oder Unteroffiziers zu schützen. Nur dieses eine haben die Parlamente bewirkt, daß die Bureaukratie, d. h. die Gesamtheit der höhern Staatsbeamten, ihre Macht mit den obern Hunderttausend teilen muß. In Frankreich, Italien und Belgien sind das Staatsoberhaupt und die Minister einfach zu Agenten der Finanzfürsten herabgesunken, in Österreich ist man beinahe so weit, in Deutschland suchen die Krone und die Minister ihre Unabhängigkeit mit wechselndem Erfolg noch zu wahren, können jedoch keinen Schritt thun ohne Verständigung mit den herrschenden Klassen und ohne weitgehende Rücksicht auf ihre Wünsche. Der Regierung kommt dabei die Spaltung der Herrschenden in Großindustrielle, Magnaten, Großhändler und Geldfürsten zu statten, deren Interessen vielfach in Konflikt mit einander geraten. Der gemeine Mann, der »freie Staatsbürger,« wie heutzutage der Unterthan genannt wird, kommt nur soweit in Betracht, als er am Leben und einigermaßen arbeits- und zahlungsfähig bleiben muß, wenn die Herrschenden auf die Rechnung kommen sollen. Er kann schon froh sein, wenn die Regierung wenigstens die Grenze erkennt, bis zu der er belastet werden kann, ohne erdrückt zu werden. Im monarchischen Staate darf er auf dieses Maß von Einsicht noch eher rechnen als in der Republik, weil der Monarch an seine Dynastie und deren Zukunft denkt, die davon abhängt, wie viel Kerls, Pferde und Steuern die Unterthanen zu liefern vermögen, während die republikanischen Machthaber ihre »Dynastien« schon genügend sichern, wenn sie ein paar Millionen auf die Seite bringen. Die leidenschaftliche und nervöse Stimmung der Parlamente, ihre Planlosigkeit und Unsicherheit entspringt einerseits aus ihrer oben erwähnten Spaltung in Gruppen mit entgegengesetzten Interessen, andrerseits aus ihrem Verhältnis zum Volke, zu den Unterthanen. Sie brauchen das Volk als Stimmvieh; verleiht ihnen ja doch die Wahl durchs Volk das formelle Recht, ihre Ansprüche, die sie sonst mit Intriguen und Bestechung durchzusetzen suchen müßten, auf legitimem Wege geltend zu machen. Andrerseits schweben sie in beständiger Angst bei dem Gedanken, dieses Volk könne sich von ihnen emanzipiren und statt ihrer Parteigänger seine eignen Vertreter ins Parlament schicken.

Es sind sehr ehrwürdige Traditionen, die in Preußen den Staat, das ist den König mit seiner Bureaukratie, mit einem Heiligenschein überstrahlt und ihn zu einem höhern Wesen, ja zum Gott gemacht haben. Aber es sind sehr irdische Verhältnisse, die diesem Idealbilde Macht über die Gemüter und Geltung verschaffen auch noch in einer Zeit, wo ihm die Wirklichkeit nicht mehr entspricht und nicht mehr entsprechen kann. Wie alle andern Zweige des öffentlichen Lebens, so hat die Bureaukratie auch das Lehramt an sich gerissen; sie ist nicht allein unsre Beherrscherin, sondern auch unsre Ecclesia docens. Wie der katholische Laienstand in kirchlichen Dingen, so haben wir Unterthanen in weltlichen Dingen nur zu hören; unsre Beherrscher sind zugleich unsre Lehrer, die uns unsre Begriffe machen. Diese unsre Lehrer, die Universitätsprofessoren, sind Glieder der herrschenden Körperschaft, des Staates, und sie werden sich hüten, einen andern Begriff vom Staate in Umlauf zu bringen als den, der ihnen selbst am meisten frommt. Der Ketzer gegen den orthodoxen Staatsbegriff wird nicht verbrannt, aber zum Hungertode verurteilt; eine Anstellung bekommt er nicht, seine Ansichten wagt keine Zeitung oder Zeitschrift zu veröffentlichen, seine Bücher nimmt kein Verleger an, und er ist verloren, wenn er nicht einer vom Staate unabhängigen machtvollen Körperschaft angehört, wie die katholische Kirche noch eine ist, und wie die in der Sozialdemokratie organisirte Arbeiterschaft zu werden im Begriff steht.

Nach unsern Staatsrechtslehrern wäre der Staat das organisirte Volk. Das sollte er allerdings sein, aber er ist es nicht. In den romanischen Ländern und in Rußland ist der Staat weiter nichts als ein Schmarotzergewächs, das am Marke des Volks zehrt und es aussaugt. In Österreich und Deutschland strebt er demselben Ziele zu; mehr und mehr fallen Staat und Volk auseinander. Organisirt waren die Völker, war namentlich das deutsche Volk im Mittelalter. Da konnte man von einem Körper, von Organen und Organismus reden. Durch seine Innung war der Handwerker, durch seine Gilde der Kaufmann, durch seine Gemeinde der Bauer, durch seine geistliche Korporation der Geistliche in den Gesamtkörper eingefügt. Jeder befand sich an seinem Platze und diente durch seine Berufsarbeit zunächst dem engern Verbande, dem er angehörte, und hierdurch dem Ganzen. Sein persönliches Interesse fiel mit dem seiner Berufsgenossen zusammen, und es machte dabei keinen Unterschied, ob er arm oder reich war; Vermögensgegensätze wie die heutigen gab es überhaupt nicht. So war jeder als Glied dem Ganzen eingefügt. Selbst Hegel hat diese Bedeutung der Innung noch anerkannt. Heute sind wir Flugsand, nicht Glieder eines Leibes. Nicht einmal seinen Ort hat der einzelne mehr, wo er einem Gliede eingefügt werden könnte, wenn es eins gäbe. Es ist wahr, sein Name steht in der Leipziger Steuerrolle und nicht in der Berliner, aber er kann in jedem Augenblicke seine Arbeit verlieren oder von einem höhern Lohnangebot nach Berlin gelockt werden; dann wird er eben aus einer Liste in die andre übertragen. Ein Beamter hat sich eben in Straßburg eingerichtet, kaum ist er warm geworden, so wird er nach Königsberg geschleudert. Daß die Handwerker, unter denen er lebt, seine Besoldung aufbringen, und daß sie Geld verdienen müssen, wenn sie Steuern zahlen sollen, daran denkt der Beamte nicht mehr, selbst wenn er nicht königlicher, sondern städtischer Beamter ist; er kauft seine Kleider, seine Möbel, seine Zigarren im Berliner Warenhause des Beamtenvereins, und bei den Handwerkern und Kaufleuten seines Wohnorts nur dann, wenn er kein Geld hat, um bar zu bezahlen. Was bleibt den ruinirten Handwerkern und Krämern der kleinen Orte übrig? Sie müssen nach Berlin ziehen, und sehen, ob sie dort Arbeit oder Anstellung finden, wo der Staat, der alles Leben an sich zieht, seinen eigentlichen Wohnsitz hat. Schon darum hat der moderne Mensch keinen eignen Ort mehr, wo er irgend einem Gliede der Gesellschaft eingefügt sein könnte, weil er meistens kein eignes Haus besitzt. Die Zahl der Hausbesitzer wird im Verhältnis zur steigenden Einwohnerzahl täglich kleiner. In der Großstadt haben wir auf der einen Seite ein paar hunderttausend Menschen, die von den Stürmen des Waren- und Arbeitsmarktes wie Triebsand herumgewirbelt und aus einer Mietkaserne in die andre gejagt werden, auf der andern ein paar hundert Hausbesitzer, die so wenig wie jene an den Ort gebunden sind, sondern den Mietzins ihrer Häuser, wenn es ihnen so paßt, in Paris oder an der Riviera verzehren können.

Höchster Anerkennung ist es wert, daß der preußische Staat durch seine Städteordnung, später durch die Kreis- und Landgemeindeordnung die in der absolutistischen Zeit teils zerstörte, teils verrottete Selbstverwaltung der Gemeinden einigermaßen wiederbelebt hat. Dagegen sind alle Anläufe zur Wiederherstellung der noch wichtigern berufsgenossenschaftlichen Gliederung teils erfolglos geblieben, teils ins Gegenteil umgeschlagen. Nicht anders ist es den Bemühungen um Befestigung des Besitzes der Mittelklassen ergangen, die, wenn sie gelungen wären, immerhin einen Damm gegen den Flugsand aufgerichtet haben würden. Als klassisches Beispiel möge die Spiritussteuer erwähnt werden, die die mittelgroßen Grundbesitzer durch Begünstigung ihrer Brennereien schützen sollte, sie aber, wie sie klagen, vollends umgebracht hat, während die gewaltigen Steuervergünstigungen fast ausschließlich den großen Brennereien oder vielmehr deren ohnehin reichen Besitzern zugute kommen und diese noch reicher machen.

Es liegt im Wesen der rein mechanisch gefügten Bureaukratie, daß alles, was sie schafft, nicht organischer Natur ist, sondern auf eine rein mechanische Über- und Unterordnung hinausläuft, bei der die untergeordneten Teile nur durch Zwang an der ihnen willkürlich angewiesenen Stelle festgehalten werden. Diese rein mechanische Schichtung entspricht durchaus der sozialen oder vielmehr unsozialen Entwicklung unsrer Zeit, die alle gesellschaftlichen Organismen auflöst und die Menschen in die beiden Schichten der Armen und der Reichen zusammenschwemmt, deren eine durch den Hunger gezwungen wird, der andern zu dienen. Es wäre widernatürlich, wenn sich diese beiden parallelen Schichtungen nicht verschmelzen und gegenseitig durchdringen sollten: die Bureaukratie und die Reichen verbünden sich zur Beherrschung und Darniederhaltung der Armen. Aber die Bruchfläche der Schichtung liegt nicht etwa unterhalb der Bureaukratie, sondern geht mitten durch sie hindurch. Vorläufig allerdings läßt sich das erst in einem Zweige der Staatsverwaltung erkennen, in der Postverwaltung, wo die Behörden alle Hände voll zu thun haben, das Streben der Subalternen und Unterbeamten nach Organisation in einem Verein zu unterdrücken. Das ist ein Vierteljahr vor der Reichstagsdebatte vom 3. bis 6. März geschrieben. Der Abgeordnete von Keudell meinte da, der Staatsbeamte – jedenfalls hatte der Herr zunächst die Subaltern- und die Unterbeamten im Sinne – müsse auf einen Theil seiner staatsbürgerlichen Rechte verzichten. Noch charakteristischer war eine Äußerung des Reichspostmeisters. Man fand es unbillig, daß die Postassistenten nicht in höhere Stellen befördert werden dürfen, und Stöcker wies auf England hin, wo nicht darnach gefragt werde, was einer für Schulen besucht habe, sondern was er könne. Darauf erwiderte Herr von Stephan: »Es ist überall ein Unterschied zwischen höherer und niedrer Karrière; eine andre Organisation ist nicht möglich; vor den englischen Beamtenverhältnissen bewahre uns der Himmel!« aber es kann nicht fehlen, daß diese ganz natürliche Bewegung allmählich in die andern Verwaltungszweige übergreift. Auch hier wiederum muß anerkannt werden, daß die Hohenzollern redlich bemüht gewesen sind, dieser Entwicklung vorzubeugen und Schirmherren des gemeinen Volks wider reiche Unterdrücker zu sein, allein gegen diesen gewaltigen Zersetzungsprozeß haben sie nichts auszurichten vermocht.

Wie furchtbar ist doch die dadurch geschaffene Lage! Der Freiherr von Stumm hat es offen im Reichstag ausgesprochen, daß er die Arbeiterfrage als reine Machtfrage auffasse, und er hat die Regierung aufgefordert, von ihrer Macht rücksichtslos Gebrauch zu machen. Sehr einflußreiche Preßstimmen haben ihm beigepflichtet, und keine der bürgerlichen Parteien hat dieser Auffassung mit Nachdruck widersprochen. Das heißt also: die Lohnarbeiter, die zur Zeit die kleinere Hälfte der Bevölkerung bilden und vielleicht schon nach zehn Jahren die größere bilden werden, denen sich möglicherweise auch zahlreiche Kleinbürger, Kleinbauern und Unterbeamte anschließen, diese Lohnarbeiter wollen unter den bisherigen Bedingungen nicht mehr weiter schaffen und dienen, und der Staat soll sie zwingen, es zu thun. Sein Zwangsmittel ist sein Heer. Dieses Heer besteht zur Hälfte aus Söhnen der rebellischen Klasse. Die Entscheidung hängt also davon ab, ob diese bereit sind, ihrem Eide getreu, auf ihre Brüder, Väter und Mütter zu schießen, wenn es ihnen befohlen wird. Nur eins giebt es, was dem Eide Kraft verleiht, das ist der Glaube an den lebendigen persönlichen Gott, und zwar ein Glaube, der sich auf keine Kasuistik einläßt und nicht untersucht, ob ein Eid auch dann binde, wenn man mit Berufung auf ihn zu einer Handlung gezwungen wird, der nicht allein die Empfindung, sondern auch das Gewissen widerstrebt. Und auf dieses dünnen Messers Schneide gedenkt man die Gesellschaftsordnung und den Staat zu bauen, ein Jahr nachdem der große Entrüstungssturm die »Auslieferung der Schule an die Kirche« verhütet hat, während doch der einfältigste Kirchenglaube allein jene unbedingte Eidestreue sichern kann, für die es auf freigeistigem Standpunkte gar keine Möglichkeit vernünftiger Begründung giebt!

Das ist die Frucht der schrankenlosen Zentralisation! Im Altertum, im Mittelalter verlief der gesellschaftliche Lebensprozeß in kleinen Kreisen. Mochte immerhin bald hier bald dort eine kleine Revolution ausbrechen, sie bedeutete nur ein Entwicklungsfieber des einzelnen kleinen Gemeinwesens, in dem sie sich ereignete; sie wirkte wohl auch als Lebenswecker, und die von ihr geschlagnen Wunden hatten nicht mehr zu bedeuten als Hautritze, die sich ein kräftiger Knabe beim Spielen oder Turnen holt, der Volkskörper im ganzen aber wurde davon gar nicht berührt. Nachdem der Staat alle diese kleinen selbständigen Organisationen zerstört und sich alle Seelen eines Fünfzigmillionenvolks unmittelbar unterthan gemacht hat, findet sich nun das Volk in zwei Massen geteilt, die Herrschenden und die Beherrschten, die sich in Todfeindschaft gegenüberstehen. Bedenkt man nun noch die Vervollkommnung unsrer Mordwaffen und Zerstörungswerkzeuge, so muß man sagen: der Bauernkrieg des sechzehnten Jahrhunderts und die französische Revolution sind Kinderspiele gewesen gegen das, was wir erleben würden, wenn die bestehende Spannung eine gewaltsame Lösung fände. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht, daß es zu einer solchen kommt. Eine große Zahl der Armen wird teils durch religiöse, teils durch patriotische Bedenken, teils durch die Unklarheit über die Quelle ihres Elends, teils durch Stumpfsinn und das Übermaß von Abhängigkeit vom Anschluß an die Umsturzpartei zurückgehalten. Allein der Gedanke an die Verkümmerung und an das Elend, dem die Masse unsers Volks verfallen muß, wenn die herrschenden Kreise ihre Herrschaft uneingeschränkt aufrecht erhalten, ist noch schrecklicher und widerwärtiger als der an ein ungeheures Blutbad und den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung. Denn aus dem Chaos kann ein neues lebenskräftiges Volk wiedererstehn, nicht aber aus dem Sumpfe der Verkümmerung,

Noch eine höhere Würde hat man dem Staate zugedacht, als die, das organisirte Volk zu sein: er soll die sittliche Idee verwirklichen. Zunächst nun wird wohl kein Mensch behaupten wollen, daß er diese Aufgabe außerhalb Preußens irgendwo erfüllt hätte. Alle, die Frankreich und Italien genauer kennen, loben die liebenswürdigen und achtungswerten Eigenschaften des Volks dieser Länder. Was dort Häßliches und Schmutziges geschieht, gehört dem politischen Leben an. Vom moralischen Gesichtspunkte aus gesehen, ist dort der Staat die große Eiterbeule am Volkskörper, wie er in wirtschaftlicher Beziehung ein Schmarotzer ist. In Nordamerika steht es ähnlich. Die südamerikanischen Regierungen sind Räuberbanden, die auch nicht einmal den Schein zu wahren nötig finden. Den englischen Staat haben wir im vierten Kapitel beleuchtet. Vom russischen zu sprechen ist nicht der Mühe wert.

Wenn es zu einer Zeit, wo die meisten deutschen Fürsten und Regierungen ungefähr so waren, wie sie Schiller in Kabale und Liebe darstellt, in Preußen anders stand, so ist das den ausgezeichneten Eigenschaften des Hohenzollernhauses zu verdanken und dem Umstände, daß die Hohenzollern in ihrer Mark das zugleich tüchtige und fügsame Material fanden für jenen berühmten Beamtenstand, den sie sich erzogen haben. Dieser Beamtenstand war nicht das Volk, und seine guten Eigenschaften waren noch nicht die moralische Vollkommenheit, aber es ist keine Frage, daß diese Rechtschaffenheit, Arbeitsamkeit und Pflichttreue vom vorteilhaftesten Einflüsse auf den Volkscharakter gewesen sind. Nur darf man nicht erwarten, daß jemals ein Hohenzoller der Zukunft das vielgestaltige deutsche Fünfzigmillionenvolk werde modeln können, wie der große Kurfürst seine anderthalb Millionen Halbslawen gemodelt hat! Nie äußere Macht des preußischen Königs ist ins Ungeheure gestiegen, und er könnte wohl wen er wollte zerschmettern; sein Einfluß aus die Geister und Gemüter ist sehr gering.

Zum Lehrsatz wurde diese erhabne Ansicht vom Staate in einer Zeit erhoben, wo der preußische Staat kaum mehr vorhanden war. Als es sich darum handelte, das deutsche Volk von der Schmach und dem Druck der französischen Fremdherrschaft zu erlösen, da fanden Fichte und die ausgezeichneten preußischen Staatsmänner, daß nur sittliche Erhebung den Schwung und die Kraft zum Befreiungswerke zu verleihen vermöchten, und sie fanden im ganzen deutschen Vaterlande keine Körperschaft, die es hätte unternehmen können, im Volke die sittlichen Eigenschaften zu pflegen, es anzuregen und zu begeistern, als die bewährte preußische Bureaukratie, geradeso wie unter den schwachen Nachkommen Karls des Großen die Reichsversammlungen außer der Hierarchie keine festgefügte und einigermaßen zuverlässige Körperschaft fanden, von der die Wiederherstellung der zerrütteten bürgerlichen Ordnung zu erwarten gewesen wäre. Nun hat auch jener gewaltige Schwung und Stoß, den sich die preußische Bureaukratie damals selbst gegeben hat, sehr günstig nachgewirkt bis in unsre Tage, aber die theoretische Verallgemeinerung jener großen sittlichen That war ein gefährlicher Irrtum. An andrer Stelle habe ich ausgeführt, daß der Staat unmöglich die Verwirklichung der sittlichen Idee sein könne, weil er ja auf Zwang, die Sittlichkeit aber auf Freiheit beruht.

Noch gefährlicher wurde der Irrtum durch die Verquickung der Staatsidee mit Hegels Pantheismus, Wenn die Welt ein sich selbst fortwährend verschlingendes und wiedergebärendes Ungeheuer und die Menschenseele nur ein aufflammender Funke in seinem Lebensprozesse ist, dann ist allerdings alles Daseiende vernünftig, darum auch sittlich, und das stärkste der vorhandnen Wesen, in unsrer Zeit der Staat, ist zugleich auch das sittlichste, ja die verkörperte Vernunft und Sittlichkeit. Die Wirklichkeit darf weder durchaus vernünftig noch durchaus unvernünftig sein. Im zweiten Falle könnte sich gar keine Einzelvernunft entwickeln. Im ersten Falle fände die Einzelvernunft nichts zu thun, als sich in ihrer Umgebung müssig zu bespiegeln, während es doch ihre Aufgabe ist, sich durch Überwindung des Unvernünftigen in ihrer Umgebung durchzusetzen. Wie man leicht einsieht, entspricht diese Auffassung auch dem Darwinismus. Daraus folgt nun einerseits, daß der Staat das Recht hat, zu erzwingen, was ihm beliebt, und daß niemand das Recht hat, mit Berufung auf sein Gewissen ihm den Gehorsam zu verweigern; andrerseits folgt daraus das absolute Recht der Revolution, indem zwar der Widerspruch des einzelnen seiner Ohnmacht wegen unsittlich ist, sobald aber eine Volksmasse die alte Regierung stürzt, diese sofort den Staat bildet und, sofern sie sich nur behauptet, ihrerseits wieder die Vernunft und die Sittlichkeit verkörpert. Damit ist aber der Unterschied zwischen Sittlichem und Unsittlichem und daher die Sittlichkeit selbst aufgehoben. Sittlich heißt jetzt, was das Staatsgesetz bestehlt; das Staatsgesetz wird entweder von einem Fürsten, oder von dessen Dienern, oder von einer Parlamentsmehrheit willkürlich gemacht und geändert, sodaß heute für unsittlich gilt, was gestern noch sittlich war und umgekehrt.

Der Christ glaubt gleich den alten Juden und den griechischen Heiden an die Unwandelbarkeit der sittlichen Ideen und Forderungen, und daß sie von dem persönlichen Gott den persönlichen und unsterblichen Menschenseelen eingepflanzt seien, und die Erfahrung giebt dieser Auffassung Recht. Ihre scheinbare Wandelbarkeit rührt nur daher, daß die Menschheit je nach Völkern und Zeiten bald auf diese bald auf jene sittliche Idee größeres Gewicht legt. Die alten Griechen haben den Totschlag schwer und den Ehebruch leicht, die alten Germanen den Totschlag leicht und den Ehebruch schwer genommen, aber weder diesen noch jenen ist es beigekommen, daran zu zweifeln, daß Totschlag und Ehebruch Sünden und sogar Verbrechen, d. h. solche Sünden seien, über die nicht allein Gott und das Gewissen, sondern auch die weltliche Obrigkeit zu richten hat. Nach modern pantheistischer Auffassung ist der Staat die Quelle des Rechts und der Herr der Gewissen; nach der alten gläubigen ist die Obrigkeit nur Hüterin des unabhängig von ihr von oben gegebnen Rechts, und sie hat die Pflicht, nicht die Sittlichkeit zu verwirklichen, das können nur die einzelnen Personen jede für sich, sondern ihre Gesetze und Verordnungen mit den Forderungen der Sittlichkeit in Einklang zu bringen oder wenigstens nichts anzuordnen, was dagegen verstößt. Nach jener Ansicht fallen Loyalität und Sittlichkeit in eins zusammen, und der Übertreter eines Staatsgesetzes ist ein unsittlicher Mensch, nach dieser bleiben sie gesondert, und der einzelne darf die Staatsgesetze der Kritik seines sittlichen Urteils unterwerfen.

Nicht bloß der Sittlichkeit, sondern auch dem Staate gereicht jene Vermischung zum Verderben. Staatsmänner und Behörden kommen sehr oft in die Lage, zu wählen zwischen einer dem Staat oder Volke nützlichen aber ungerechten oder sonst unsittlichen Maßregel und einer gerechten, die aber dem Staate weniger nützt oder ihm sogar schadet. Zuweilen ist der Nutzen einer ungerechten Maßregel für den Staat nur Schein, wenn auch ein sehr blendender Schein. In solcher Lage erweist sich nun der eine Staatsmann als ein Aristides, der andre als ein Themistokles. Das Volk zieht gewöhnlich die Themistoklesse vor und erteilt ihnen gern Absolution für eine bedenkliche Maßregel. Dadurch wird die Sittlichkeit nicht untergraben, denn man hört nicht auf, das Böse böse zu nennen, wenn man sich auch seine Früchte schmecken läßt, aber auch der Staat wird nicht gefährdet, denn weil der Begriff des sittlich Bösen unverdunkelt bleibt, macht sich jeder ein Gewissen daraus, etwas gegen Staat und Obrigkeit zu unternehmen. Der Gewissenhafte wird ein Gesetz oder eine Maßregel des Staates, die er für ungerecht hält, laut schelten und auf ihre Änderung dringen, er wird sich lieber einsperren oder verbannen lassen, als daß er sich einem solchen Gesetze beugte oder gar zu seiner Durchführung mitwirkte, aber er wird nicht die Hand gegen die Obrigkeit erheben und sich nicht zu ihrem Sturze verschwören, eingedenk des apostolischen Wortes, daß jede Obrigkeit von Gott sei, und daß man nicht allein den guten, sondern auch den bösen Herren gehorchen müsse, eingedenk auch der Erfahrung, daß für gewöhnlich eine schlechte Obrigkeit immer noch besser sei als gar keine. Wer dagegen dem Glaubenssatze huldigt: sittlich ist, was das Staatsgesetz gebietet, unsittlich, was es verbietet, der braucht bloß mit Hilfe von Mehrheiten, die er per fas et nefas zusammenbringt, neue Gesetze zu machen (»wo wir kein Recht haben, da machen wir ein Gesetz«) und sofort wird sittlich erlaubt, was ihm beliebt. Kann er aber unter dieser Regierung die Mehrheit, die er wünscht, nicht zusammenbringen, so – stürzt er die Regierung. Was sollte ihn davon abhalten? Das Seiende ist vernünftig, der Stärkere hat Recht! Im Kulturkampf ist dieser theoretische Gegensatz der Auffassungen vom Staat praktisch geworden. Die liberalen Parteien suchten den passiven Widerstand der Katholiken gegen die Maigesetze als unmoralisch zu brandmarken, obwohl ohne Zweifel der Richter vor jedem Geistlichen, den er wegen maigesetzwidriger Amtshandlungen verurteilen mußte, Hochachtung empfunden hat und den Mann verachtet haben würde, wenn er anders gehandelt hätte. In Frankreich haben aus einem ähnlichen Anlaß hundert Richter ihre Ämter niedergelegt, weil sie zur Ausführung eines Gesetzes, das sie als materiell ungerecht erkannten, nicht mitwirken wollten. Dagegen zweifle ich nicht im geringsten daran, daß die Herren, die am lautesten über die »Vaterlandslosigkeit« und »Staatsfeindschaft« der »Römlinge« geschrieen haben, keinen Augenblick anstehen würden, eine ihnen widerwärtige Regierung und selbst die Dynastie zu stürzen, wenn das nicht unter den heutigen Umständen zu gefährlich wäre. Einstweilen hat ein großes nalionalliberales Blatt vor etwa anderthalb Jahren seine Leser wenigstens daran erinnert, daß der Monarchismus der Liberalen doch eigentlich nur ein Vernunftmonarchismus sei.

Wenn einer menschlichen Veranstaltung Aufgaben gestellt werden, die wider ihre Natur sind, so erfüllt sie nicht nur diese nicht, sondern verfehlt meistens auch solche, die ihr wirklich obliegen. Unter den sittlichen Ideen giebt es eine, die in bescheidnem Umfange zu verwirklichen stets zu den Pflichten der bürgerlichen Gewalten gerechnet worden ist und gerechnet werden konnte, weil die ihr entfließenden Handlungen und Unterlassungen erzwingbar sind: die des Rechts oder der Gerechtigkeit. Wie stehts damit im modernen Staat? Wie stehts zuvörderst im Gebiete der Strafrechtspflege? Wenn heute schon eine arme Frau, die Waldbeeren pflückt, wegen Diebstahls verurteilt werden kann, und wenn die mehrfache Wiederholung kleiner Diebstähle ins Zuchthaus führt, so finden darin die Lobredner des modernen Staates eine wunderbare Erhöhung und Verfeinerung der Sittlichkeit. Denn, sagen sie, das Gebiet des Erlaubten wird immer weiter eingeschränkt; und so sind wir Heutigen denn viel besser als unsre Väter, da wir unzählige Dinge für unerlaubt halten, die jenen noch für erlaubt galten. In Wirklichkeit liegt aber nichts vor als im ersten Falle die Beschönigung einer Ungerechtigkeit, im zweiten eine grobe Fälschung des sittlichen Urteils. Es ist eine schwere Ungerechtigkeit gewesen, daß man den ursprünglichen Gemeinbesitz in den Privatbesitz weniger hat übergehen lassen, ohne der zahllosen ursprünglich Erbberechtigten, nun aber Enterbten zu gedenken. Und mit dem Pilze- und Beerenparagraphen, der die dürftigen Reste des ursprünglichen Mitbenutzungsrechts der Armen zum Diebstahl stempelt, hat man das Maß der Ungerechtigkeit voll gemacht. Was aber die kleinen Diebstähle aus Not anlangt, so mag es allerdings heute vorkommen, daß eine Mutter, die zur Stillung des Hungers ihrer Kinder ein Brot stiehlt, dabei zittert, als beginge sie das größte Verbrechen; weiß sie doch, daß wer einmal wegen Diebstahls verurteilt ist, in neun von zehn Fällen im Sumpf des Lumpenproletariats untergeht. Aber wenn es nicht bloß Furcht vor den Folgen ist, was sie erzittern macht, sondern Zartheit des Gewissens, so ist dieses zarte Gewissen ein irriges Gewissen. Die katholische Moral lehrt, daß, wer in äußerster Not von dem Vorrat eines andern so viel nimmt, als zur Erhaltung seines Lebens nötig ist, damit keinen Diebstahl begeht, und Friedrich der Große spricht in einem Briefe an d'Alembert dieselbe Ansicht aus, mit folgender ganz richtigen Begründung: »Die Bande der Gesellschaft beruhen auf der Gegenseitigkeit der Dienste. Wenn diese Gesellschaft aus mitleidlosen Seelen besteht, sind alle Verpflichtungen gelöst; man kehrt in den reinen Naturzustand zurück, wo das Recht des Stärkern entscheidet.« Für den vorliegenden Fall würde der Schlußsatz passender lauten: »wo sich jeder vom ersten besten nährt, was er findet.« (Preußische Jahrbücher, Augustheft 1892, S. 218.) Und wie stumpf müssen die Gewissen geworden sein, wenn sich ein Gerichtshof so verhält, wie in der »Neuen Zeit,« 1892-93, S. 650 erzählt wird! Es handelt sich um die Beleidigung einer Klique von Zeitungschreibern. Der eine der Beleidigten hat als Handelsredakteur faule Gründungen empfohlen, an denen er selbst beteiligt war, und hat zu diesem Zwecke notorisch falsche Angaben gemacht. Das hatte der Beleidiger »bedenkliche Börsenmanöver« genannt. Der Gerichtshof glaubte jedoch den bezeugten Thatsachen »keine Beachtung schenken zu sollen« und fragte nur, wie hoch die Gründergewinne gewesen seien, was ihm natürlich nicht beantwortet werden konnte. Auch bei Beratung der Wuchergesetznovelle zeigte es sich wiederum, daß unsre Gesetzgeber den sittlichen Maßstab verloren haben. Die einzigen, die in diesem Punkte, wie nebenbei bemerkt, auch bei Behandlung der Sonntagsruhe und der Prostitution, die christlichen Grundsätze geltend machten, waren – die Sozialdemokraten. Sie hoben hervor, daß von allen Arten des Wuchers der Lohndruck die schlimmste sei; ist es doch nach der Bibel eine himmelschreiende Sünde, den Arbeitern den verdienten Lohn zu entziehen. Daher ist die ganze aus England stammende Behandlung der Arbeit als einer um möglichst niedrigen Preis zu erstehenden Handelsware, wobei gar nicht mehr darnach gefragt wird, was der Mann für seine Leistung verdient, ein Wuchersystem. Der Fall, der den Gesetzgebern am meisten am Herzen liegt, verdient gar keine Beachtung. Wenn ein leichtsinniger junger Mann Spiel- und Trinkschulden macht und dann dem Halsabschneider ins Messer fällt, der »aus seiner Not und Unerfahrenheit Vorteil zieht,« so ist der Lump den Gauner wert, und der Gesetzgeber hat gar keine Veranlassung, sich des ersten gegen den zweiten anzunehmen. Der Gauner kann noch für sich geltend machen, daß sich kein vernünftiger Mensch in ein so unangenehmes und riskantes Geschäft einlassen wird ohne Aussicht auf hohen Gewinn. Nach christlichem, schriftmäßigem Begriff ist jeder Zins für ein Gelddarlehn Wucher, gleichviel ob zwanzig oder zwei Prozent gefordert werden, wenn es sich nicht um Produktivkredit, sondern um Hilfe in der Not handelt.

Und wie stehts um die Verwirklichung des Eigentumsrechts im Zivilprozeß? Es giebt nur einen sittlich begründeten Anspruch auf Eigentum, das ist der aus der Arbeit. Alle andern Ansprüche sind aus diesem abgeleitet, andernfalls sittlich bedenklich oder geradezu unsittlich. Heute nun steht bei uns die Sache so, daß die unbegründetsten Eigentumsrechte am besten geschützt werden, während das auf Arbeit begründete Eigentum in vielen Fällen nahezu schutzlos dem Raube preisgegeben ist. Statt aller Ausführungen zitire ich nur eine Stelle aus Gieses bei Fr. Wilh. Grunow erschienenen Schrift: »Die Juden und die deutsche Kriminalstatistik.« Der Verfasser spricht S. 40 über den Bauschwindel. »Alle Welt entrüstet sich darüber, aber die Bauunternehmer und Geldgeber treiben unbehelligt, ja unter dem Schutze der bestehenden Gesetze, ihr Wesen weiter. Sie häufen Millionen auf Millionen, plündern unsern ehrenfesten Handwerkerstand aus, und wenn sich die Gerichte ja einmal mit diesen erbaulichen Dingen zu befassen haben, so geschieht das, wenn etwa ein Schlossermeister in seinem sehr begreiflichen Grimme dem Bauunternehmer die wohlverdiente Tracht Prügel zugemessen hat. Dann wird unser Meister wegen Körperverletzung verdonnert.«

Vielleicht war es die Scham über diesen Mißerfolg innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit, was die Staatsbehörden und die Gesetzgeber angetrieben hat, außerhalb nur desto eifriger Lorbeeren zu suchen. Mit aller Wucht haben sich in den letzten zwanzig Jahren Gesetzgeber und Polizei darauf verlegt, das deutsche Volk keusch zu machen. Das heißt, das Wort Unkeuschheit wird nicht ausgesprochen, sei es aus einem Übermaß von Prüderie, oder damit nicht ein Spötter frage, warum der Staat nicht auch die Undankbarkeit und die Liederlichkeit bestrafe. Man nennt die Unkeuschheit Unsittlichkeit und vergrößert dadurch die ohnehin schlimme Verwirrung, indem man einen Teil, der nur in der Sittlichkeit des Weibes zentrale Bedeutung hat, fürs Ganze nimmt und die Vorstellung erweckt, als ob ein Wucherer, ein Schwindler, ein grausamer Despot ein sittlicher Mensch sei, solange er nur keine Unkeuschheitssünde begeht. Das Verhältnis der Geschlechter zu einander ist allerdings eine materia mixta und geht den Staat in mehr als einer Beziehung an. Es könnte nun gezeigt werden, daß unsre heutige deutsche Obrigkeit, während sie einerseits weit über ihre Zuständigkeit hinausgreift, andrerseits auch in diesem Punkte wichtige Pflichten vernachlässigt, die ihr wirklich obliegen. Ich beschränke mich jedoch auf die Bemerkung, daß ihr Scheinerfolg ebenso glänzend wie der wirkliche kläglich ist. Der Scheinerfolg war leicht zu erringen, denn es giebt nichts, was eine Regierungsgewalt wie die deutsche nicht aus dem Tageslicht entfernen könnte, wenn sie es entfernen will. Und so kann denn eine ältliche englische Miß alle Straßen und Gäßlein des deutschen Vaterlandes, mit alleiniger Ausnahme der Berliner Schloßbrücke, ohne Anstoß durchwandeln, während sie vor vierzig, fünfzig Jahren, wo sich auf der Straße weder Mensch noch Vieh einen Zwang anthat, aus dem Entsetzen nicht herausgekommen wäre. Zwar behaupten die Befürworter der lex Heinze, es werde immer noch viel Schändliches ausgestellt und gedruckt, allein diese Herren müssen mehr Glück oder Geschick im Finden haben als ich; mir ist außer den Schloßbrückenpuppen und allgemein bekannten Schriften unsrer Klassiker seit Jahren nichts vor die Augen gekommen, was gegen jene Bestimmungen verstieße, die jetzt verschärft werden sollen. Zwar Unsittliches im wirklichen Sinne des Worts wird genug gedruckt; vielleicht die Mehrzahl der belletristischen und publizistischen Erscheinungen ist geeignet, das sittliche Urteil zu verwirren und zu verderben, indem darin häufig das Gute als böse, das Böse als gut dargestellt oder mit allerlei Scheingründen entschuldigt wird; ist es doch sogar unserm Schiller mit seinem feinen und strengen sittlichen Takte begegnet, daß er einen Meuchelmörder verherrlicht. Aber um über solche Dinge ein Urteil zu fällen, ist die Polizei zu dumm, und sollten die Gerichte darüber urteilen, so müßten sie alle Tage Nachtsitzungen halten. Es kann also bloß das Nackte und in der Poesie das sogenannte Erotische gemeint sein. Wenn aber die Gesetzgeber dieses meinen, dann müssen sie es auch sagen und müssen so deutlich sprechen, wie die alten deutschen Volksgesetze gesprochen haben, wenn sie solche Dinge behandelten, damit der Richter, der Polizist und der Unterthan wissen, woran sie sind; jetzt weiß es keiner von den dreien. Also, der Scheinerfolg ist glänzend. Wie kläglich der wirkliche Erfolg ist, weiß alle Welt. Und dieser Mißerfolg entspricht einer alten Erfahrung. Zügellosigkeit macht zuweilen das Einschreiten der Zwangsgewalt des Staates notwendig. Allein, will dieser mehr erzwingen als den äußern Anstand, Schutz der Frauen und Kinder vor Vergewaltigung und die Erfüllung der aus geschlechtlichen Verhältnissen entspringenden Verbindlichkeiten, so vermindert er nicht die Zahl der Laster und Verbrechen, sondern zerstört bloß die Heiterkeit und Anmut, die Schönheit und Poesie des Lebens. Innerliche Besserung, Reinigung und Erhebung anzustreben, ist Sache der Kirchen, der Kunst und Wissenschaft, der Familie, der Korporationen.

Nun würde man gern mit dem Spruche: in magnis voluisse sat est über den Mißerfolg hinwegsehen, die Kompetenzüberschreitung mit dem guten Zweck entschuldigen und die Reichsregierung ob der edeln Kühnheit ihres Wagnisses preisen, wenn sie nur wirklich kühn zu sein gewagt hätte. Aber bis auf den heutigen Tag hat sie das noch nicht gewagt, was sie eigentlich will oder nach ihren Gesetzen, Maßregeln und Anordnungen zu wollen scheint. Worauf sie augenscheinlich abzielt, das ist die Unterdrückung jedes außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Zu diesem Zweck müßte sie die Prostitution, den Besuch Prostituirter, die Geburt unehelicher Kinder und die Urheberschaft dieser Geburten unter Strafe stellen. Es gereicht der Heinze-Kommission zum Ruhm, daß sie in zwei Punkten die Kühnheit bewiesen hat, die Gesetzgebung und Regierung bisher haben vermissen lassen, und zwar in zwei Punkten, die ganz unzweifelhaft zur Kompetenz der weltlichen Obrigkeit gehören, so daß sie also doppeltes Lob verdient. Sie beantragt die Bestrafung solcher Männer, die ihre Gewalt als Brotherren zur Befriedigung sinnlicher Gelüste mißbrauchen, und solcher, die eine Frauensperson mit der Syphilis anstecken. Statt dessen erklärt sie das Vermieten von Wohnungen an Prostituirte für strafbar und die Richter verurteilen eine Witwe »wegen Kuppelei,« weil sie der Braut ihres mündigen selbständigen Sohnes, die an den Weihnachtsfeiertagen zum Besuch da war, das Übernachten in der gemeinsamen Familienwohnung gestattet hat! Die Heinzekommission hat mit schwacher Mehrheit einen Antrag angenommen, wonach das bloße Vermiethen von Wohnungen an Prostituirte straflos bleiben soll. Dagegen wird es auch in Zukunft als schwere Kuppelei bestraft werden, wenn die Eltern dem Kinde Gelegenheit zu intimerem Verkehr mit dem oder der Verlobten geben. Und da pflichteifrige Richter im Nichtverhindern schon die Gelegenheitsmacherei sehen werden, so dürfen Liebespaare keine fünf Minuten mehr allein gelassen werden, wenn sich die Eltern nicht der Gefahr des Zuchthauses aussetzen wollen. Demnach wird im weiten deutschen Reich kein Schäferstündchen mehr vorkommen, und wenn die Richter folgerichtig sein wollen, so müssen sie auch die ganze Liebeslyrik samt der verwandten Novellistik und Dramatik ausrotten. Die jetzt viel erörterte Frage nach der Zukunft unsrer Litteratur würde dadurch sehr vereinfacht werden. Bestraft wird also, nicht wer die zu verhindernde Handlung begeht, sondern wer den Begehenden Obdach gewährt, und zwar häufig unter Umständen, wo er es gar nicht versagen kann. Denn wenn sich die Hausbesitzer einer Großstadt verschwören wollten, keine Prostituirten mehr einzunehmen, würden sie wahrscheinlich dazu gezwungen werden. Der Hehler ist ja gewiß oft schlimmer als der Stehler, aber bestraft kann er doch nicht werden, solange der Diebstahl erlaubt wird. Vielleicht das allerärgste an der Sache ist der Umstand, daß die Behörden das einzige Mittel, wodurch die Prostitution vermindert werden könnte, verbieten. Dieses Mittel ist eine gewerkvereinsähnliche Organisation der um Lohn arbeitenden Frauen und Mädchen, wodurch sie höhere Löhne erzwingen, der Notwendigkeit eines schimpflichen Nebenerwerbs überhoben werden und die unheimliche Macht, die Brotherren und Agenten über sie ausüben, brechen könnten. Aber sobald die Frauen dergleichen unternehmen, werden ihre Vereine verboten und die Anführerinnen bestraft, weil sie sich »mit Politik« beschäftigten! Allerdings gehört die Frau ins Haus, und auch ich halte den paulinischen Satz: mulier taceat in ecclesia für richtig. Aber heute, wo die Frauen aus dem Hause hinausgestoßen und gezwungen werden, sich mit selbständigem Erwerb durchzuschlagen, haben diese beiden Sätze ihre Berechtigung verloren. Die Mädchen und Frauen in den Kampf ums Dasein hineinstoßen und ihnen die Waffen dazu versagen, ist nicht allein unritterlich, sondern gemein und niederträchtig. In den Berliner Kellnerinnenversammlungen waren es außer den Kneipwirten Studenten der Rechtswissenschaft, unsre zukünftigen Richter, die jedesmal durch Radau die polizeiliche Auflösung herbeiführten und so eine Bewegung vereitelten, die den Zweck hatte, eine Anzahl von Mädchen vom Zwange zur Prostitution zu befreien. Das Berliner Kellnerinnenwesen, eine der schlimmsten Formen moderner Sklaverei, hat Karl Schneidt in einer 1883 im »Modernen Verlag« Berlin S W erschienenen Schrift beschrieben.

Eine so unmögliche Rechtsprechung würde das Rechtsgefühl im ganzen Volke noch mehr verwirren und erschüttern, als es ohnehin schon verwirrt und erschüttert ist, wenn nicht alle solche Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt würden. Damit kommt aber der Staat vom Regen in die Traufe, da hierdurch das Vertrauen in die Rechtsprechung erschüttert wird. Früher wurde die Zuverlässigkeit der Rechtsprechung dadurch verbürgt, daß der Verurteilte an zwei Instanzen appelliren konnte, deren Mitglieder nicht Mitglieder der untersten Instanz waren, und die den Fall ganz unbefangen auf Grund der Akten prüften. Dann hat man das schriftliche Verfahren und die zwei Instanzen abgeschafft, dafür aber den Richter unter die Kontrolle der Öffentlichkeit gestellt. Und jetzt schließt man die Öffentlichkeit aus, ohne die alten Bürgschaften wieder herzustellen! Handelte es sich noch um vereinzelte Fälle einer solchen ganz unkontrollirten Rechtsprechung, so würde man sie zwar immerhin schon bedenklich, aber noch nicht gefährlich finden. Kommt aber die Ausschließung so häufig vor wie seit einigen Jahren, dann muß das Vertrauen auf unparteiisches und gerechtes Verfahren schwinden. Ein unkontrollirbare Rechtsprechung ist gar keine Rechtsprechung. Mir wenigstens erscheint jedes in geheimer Sitzung zustande gekommene Urteil als ein Willkürakt, und am allerwenigsten würde ich mich dem Schweigegebote fügen, das in solchen Verhandlungen auferlegt werden kann, ausgenommen es handelt sich dabei um wirklichen Landesverrat, z. B. um die Konstruktion eines neuen Gewehrs oder um einen Festungsplan.

Eine weitere Verwirrung erleidet das sittliche Urteil durch die plötzlichen Wechsel der öffentlichen Meinung oder vielmehr der Sprache der Politiker und Publizisten, die sich auf Winke von oben vollziehen. In den letzten fünfzehn Jahren haben wir einen Wechsel von tief einschneidender Bedeutung erlebt, dessen drastische Schilderung Tausenden von Lesern großes Vergnügen bereiten, andre aber tief verstimmen würde, und da letzteres meinen Hauptzweck nicht eben fördern würde, so verzichte ich lieber darauf.

Nein, der Staat hat nicht die Aufgabe, die Sittlichkeit zu verwirklichen! Alle seine höhern Töchterschulen zusammengenommen vermögen nicht ein opferfreudiges Mutterherz zu bilden, wohl aber machen die unter seiner Mitwirkung entstandnen sozialen Verhältnisse aus manchen Müttern Unholdinnen, die ihre eignen Kinder zu Tode quälen oder verkaufen; und wenn es einen Vater, der sein kleines Kind am Beinchen ergriffen und ihm den Kopf an einer Tischkante zerschmettert hat, nur mit zehn Jahren Zuchthaus bestrafen läßt, anstatt die Menschheit von einem solchen Scheusal zu befreien, so bedeutet das einen starken Rückschritt gegen das entwickelte sittliche Urteil des einfachen Mannes aus dem Volke. Am unverfälschtesten bleibt das sittliche Urteil und am sichersten der sittliche Takt bei Leuten, die mit dem Staate möglichst wenig in Berührung kommen, dagegen ist es auch bei uns in Deutschland gerade das politische Leben, das das sittliche Urteil verwirrt, die häßlichsten Leidenschaften entfesselt und aufwühlt, wenn auch, Gott sei Dank, unser Beamten- und Richterstand noch frei geblieben ist von unlautern Elementen.

Was bleibt uns nun vom Staate, nachdem wir den mystischen Nebel weggeblasen haben, in den ihn die Verehrung und – Politik seiner Freunde gehüllt hat? Der Staat ist gleich den alten und mittelalterlichen Gemeinwesen die Gesamtheit der Einrichtungen, die sich ein Volk oder eine Gruppe von Völkern geschaffen hat, um unabhängig von andern Völkern seine oder ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu besorgen, zu denen selbstverständlich auch der Schutz und die Förderung alles Guten, Edeln und Schönen gehört. Eine solche Einrichtung verdient Ehrfurcht, zumal wenn in den zu ihrer Handhabung bestellten Behörden die edelsten Kräfte des Volks thätig sind und seine besten Eigenschaften sich verkörpern, aber sie ist nicht Gott, noch steht sie höher als das Volk. Dieses steht unbedingt über dem Staate, und den Prüfstein für die Güte der Staatseinrichtungen bildet die Antwort auf die Frage, ob diese, wie es recht ist und sein soll, dem Volke dienen, oder ob das Volk dem Staate dient, d. h. in diesem Falle, weil einem Abstraktum niemand dienen kann, den Behörden und den herrschenden Klassen. Was den modernen Staat von ältern Gemeinwesen unterscheidet, ist dieses, daß er alle Selbständigkeit kleinerer Bildungen in seinem Schoße zerstört, alle öffentlichen Angelegenheiten an sich gezogen, dadurch alle materiellen und geistigen Kräfte des Volks in seine Hand bekommen und so eine vordem unbekannte Macht sowohl über seine eignen Angehörigen wie dem Auslande gegenüber erlangt hat. Wenn gefragt wird, ob diese gewaltige Konzentration der Kultur wegen notwendig gewesen sei, so antwortet die Weltgeschichte darauf mit nein; haben doch kleine bäuerliche, bürgerliche, geistliche Gemeinwesen alle hohen, edeln Kulturblüten erzeugt, die mir kennen. Nur die ungeheure Wucht mechanischer Massenwirkung und die Fähigkeit, diese Massen durch die Kraft des militärischen und bureaukratischen Gehorsams mit spielender Leichtigkeit zu handhaben, zeichnet die modernen Staaten aus.

Auf die akademische Frage, warum sie nun dennoch geworden seien und wozu sie dienen, brauchen wir uns um so weniger einzulassen, als wir von unserm deutschen Staate ganz genau wissen, warum und wozu er notwendig war. Nachdem sich auf dem europäischen Festlande zwei solche Riesen: Spanien und Frankreich, gebildet hatten, konnte kein Volk seine Unabhängigkeit mehr wahren, wenn es sich nicht in derselben Weise konzentrirte. Wir haben oben gesagt, daß sich im Mittelalter das deutsche Volk einer organischen Gesellschaftsverfassung erfreut habe. Um die Ordnung im Innern aufrecht zu erhalten und die Unabhängigkeit vom Auslande zu wahren, wäre nun noch eine Zentralgewalt nötig gewesen, der ein durch Reichssteuern zu erhaltendes Kriegsheer zur Verfügung gestanden hätte. Vernichtung der kleinen Lebenskreise und Konzentration aller Verwaltungszweige waren für diesen Zweck nicht nötig. An Anläufen, diesen Schlußstein der Organisation zu gewinnen, hat es nicht gefehlt. Man weiß, woran sie gescheitert sind. So sah sich denn das deutsche Volk auf einen andern langen, mühseligen und unerfreulichen Weg gewiesen. Das Territorialfürstentum bildete sich nach dem Muster des bureaukratischen Militärstaates Frankreich aus, die zwei mächtigsten Territorialstaaten verschlangen teils die kleinern Glieder, teils brachten sie sie in Abhängigkeit und gründeten zwei große Reiche, die, nachdem sie einander im Kriege zu gegenseitiger Anerkennung gezwungen haben, sich nun darauf angewiesen sehen, durch ein enges Bündnis dem deutschen Volke den zu seinem Unterhalt und seiner Kraftentfaltung erforderlichen Boden und Spielraum zu sichern.

Nun zeigt sich aber, daß dieser Boden und Spielraum, wenigstens für den nordwestlichen der beiden zusammengewachsenen Brüder, nicht hinreicht, und außerdem hat die gewaltige Konzentration der Volkskräfte in der Staatsgewalt die Gefahr zweier Ungeheuern Katastrophen erzeugt, die alle Staaten und Völker des europäischen Festlandes gleichmäßig bedroht. Einmal geht durch alle Völker die Spaltung in die beiden zusammengeballten Massen der Armen und der Reichen, deren Konflikt nur dadurch aufgehalten wird, daß den Reichen die Beamten- und Militärmacht, d. h. kurz ausgedrückt, der Staat zur Verfügung steht. Und andrerseits droht der Zusammenstoß zwischen den Riesenheeren der europäischen Völker, deren bloßes Dasein schon die höchste Kriegsgefahr ist; denn wie jedes Wesen den Zweck zu erfüllen strebt, für den es da ist, so muß auch jedes Kriegsheer um so mehr nach Krieg verlangen, je größer, stärker, vollkommner ausgebildet es ist. Das Gegenteil verlangen zu wollen, wäre wider die Natur, und es macht keinen Unterschied, daß es im vorliegenden Falle nur die Seelen dieser Riesenleiber, die aus Berufssoldaten bestehenden Offizierkorps sind, denen die Sehnsucht, zu beweisen, was sie können, von Natur eingepflanzt ist. Dazu kommt die heimliche Begierde der wirtschaftlich leidenden Völker, ihre Nachbarn zu überfallen, ihnen Land oder wenigstens Geld zu rauben, oder die militärische Macht zur Erpressung handelspolitischer Zugeständnisse zu gebrauchen, und die Furcht der wirtschaftlich günstiger gestellten Völker vor solchen Absichten ihrer Nachbarn.

Nehmen wir nun an, die Regierung des deutschen Reiches könnte ihren eignen Unterthanen ein für deren Bedürfnisse hinreichendes Kolonisationsgebiet erschließen, und zwar mit Hilfe der übrigen Mächte, so wäre damit nicht allein der sozialen Not bei uns, sondern auch manchen Nöten der Nachbarn abgeholfen und ihre Furcht verscheucht; die Spannung zwischen den Großmächten wäre gelöst, eine allgemeine Besserung, der Lage der untern Klassen würde die sozialistischen Bestrebungen hinfällig machen, und weder Gefahren von außen noch solche von innen würden mehr zur Unterhaltung von Riesenheeren zwingen; damit würde der Krieg, den viele als ein für die Erhaltung der Volksgesundheit notwendiges Element betrachten, erst wieder möglich. Augenblicklich ist er trotz aller Kriegssehnsucht der Berufssoldaten unmöglich, weil eine Regierung erst wahnsinnig geworden sein müßte, ehe sie einen Krieg wagte, der die Gefahr des Verlustes aller gesunden Männer in sich schließt und die Aussicht auf ein Blutbad eröffnet, in dem die ganze europäische Kultur ersäuft werden könnte; sodaß also der immer fieberhafter werdende Drang der europäischen Berufssoldaten zwar seine Befriedigung selbst unmöglich macht, aber ein Wettrüsten zur Folge hat, das nicht weniger wahnsinnig ist, als der europäische Krieg sein würde, und den Völkern statt einer allgemeinen Schlächterei den Erschöpfungstod in Aussicht stellt. Vermag das deutsche Reich die oben bezeichnete Aufgabe nicht zu lösen, dann hat es, dann hat der moderne Staat überhaupt seinen Daseinszweck verfehlt; denn da uns nur die Wahl bleibt zwischen den beiden oben bezeichneten Arten des Untergangs, so war es überflüssig, dieses so vergängliche Gebilde mit seiner kurzen Herrlichkeit aufzurichten und uns allen den Unbequemlichkeiten und Opfern zu unterziehen, die uns der nach preußischem Muster zentralisirte deutsche Staat auferlegt hat. Außerdem würden wir uns in die traurige Notwendigkeit versetzt sehen, endlich einmal den im zehnten Kapitel beschriebnen Widerspruch zu lösen und uns entweder für den Kommunismus oder für den Kapitalismus, für Gleichstellung oder Knechtung der Arbeiter zu entscheiden. Eigentliche und Hauptaufgabe des Staates ist, dem Volke die materiellen Bedingungen seiner Existenz zu sichern oder, wofern sie fehlen, zu verschaffen. Kann oder will er das nicht leisten, dann ist er fürs Volk weiter nichts als eine unnütze Last. Natürlich meinen wir damit nur den oben beschriebnen Staat; Obrigkeiten, ein Gemeinwesen, eine Gesellschaftsordnung wird es immer geben müssen.

Unsre leitenden Kreise haben eine bequeme Manier erfunden, alle unbequemen Wahrheiten und Aufgaben den eignen Augen wie denen des Volks zu verschleiern: sie sprechen niemals von Menschen und Dingen, sondern immer nur von Abstrakten, und unter dem ideal angestrichnen Panier eines solchen Abstraktums sucht jeder Mächtige und Einflußreiche seine selbstsüchtigen Absichten zu erreichen. Man sagt nicht, der Herr Graf X. ist verschuldet, weil er zu viel Geschwister, und der Herr Baron I., weil er einen liederlichen Sohn hat, sondern man klagt, die Landwirtschaft sei in Not, und fordert die Regierung auf, diesem edeln, fürs Volk so wohlthätigen und unentbehrlichen Wesen zu helfen in der Hoffnung, daß von der Unterstützungssumme auch für den Herrn Grafen und den Herrn Baron ein Erkleckliches abfallen werde. Man sagt nicht, die Dividenden der Eisenwerte sind von 15 auf 5 gefallen und unser Kapital verinteressirt sich beinahe nicht viel besser, als wenn wir es auf erste Hypothek ausliehen, sondern man schreit: die Industrie ist in Gefahr, wir brauchen Zollschutz für sie. Von den Menschen, die sowohl die ländliche Grundrente wie die Dividenden durch ihre Arbeit erzeugen, ist nie und nirgends die Rede; höchstens droht man, sie würden die Arbeit verlieren, wenn jenen geheimnisvollen Frauenwesen nicht geholfen wird. Aber daß im günstigen Falle den Arbeitern ihr Anteil zugebilligt würde, wofern sie sich ihn nicht durch einen Streik erzwingen, kommt nicht vor, obwohl sie Fleisch von unserm Fleisch, Deutsche wie wir, ureingesessen, von Alters her Mitbesitzer des vaterländischen Bodens und zum Mitgenuß berechtigt sind. Und wenn die Beamtenfamilien, die die höhern Stellen im Staate in Erbpacht haben, befürchten müssen, daß am Ende auch Söhne von bisher weniger begünstigten Familien ein Ämtlein erhaschen könnten, dann schreien sie, das Deutschtum, der Protestantismus, die Freiheit, die Wissenschaft und der Kulturfortschritt seien in Gefahr. Das allerbequemste Abstraktum aber ist das Wort Staat. Alles ihnen Unbequeme können die Herrschenden beseitigen, wenn sie den Staat für gefährdet erklären, alles für sie Wünschenswerte erreichen, wenn sie behaupten, es nütze dem Staate. Wer, was, wo ist der Staat? Unter Ludwig XIV. war es ein Vergehen gegen den Staat, wenn einer vor des Sonnenkönigs geheiligter Majestät laut nieste; heute ist es ein Vergehen gegen den Staat, wenn der oben erwähnte Schlossermeister auf unsre Gesetze und unsre Richter schimpft. Der moderne Staat, das ist entweder der König samt Familie und Günstlingen, oder es ist der König samt seinen höhern Beamten, oder es sind die Herrschenden, d. h. die reichen Klassen samt den ihnen dienenden Behörden. Nun hat allerdings sowohl in Frankreich wie in Deutschland die Regierung ehrliche Anstrengungen gemacht, sämtliche Volksgenossen zu lebendigen Gliedern des Staates und diesen zum organisirten Volke zu machen, allein es ist ihnen, wie gesagt, nicht gelungen. Und bleiben die Dinge wie sie sind, dann wird die Notwendigkeit einer Entscheidung von Tag zu Tage dringender. Entweder man macht mit dem Staatsbürgertum aller Volksgenossen Ernst, und das ist auf keine andre Weise möglich, als wenn man den Armen völlige und wirkliche Gleichberechtigung mit den Reichen einräumt, ihnen ein anständiges Einkommen sichert, sie zu Genossen der Unternehmer macht und ihnen den Zugang zu allen besoldeten und Ehrenämtern öffnet – ohne Aufhebung des bestehenden Eigentumsrechts aber ist diese Wandlung nicht denkbar. Oder man hat den Mut, die Arbeiter für das zu erklären, was sie thatsächlich sind, für Hörige der Unternehmer, nimmt ihnen die politischen Rechte und das Recht der Freizügigkeit, verpflichtet aber dafür den Herrn, seinen Sklaven den lebenslänglichen Unterhalt zu gewähren. Selbstverständlich muß dann auch die Volksschule geschlossen und die allgemeine Dienstpflicht abgeschafft werden; denn unterrichtete und zeitunglesende Sklaven sind notwendig Empörer, und wenn der Staat seinen Feinden die Muskete in die Hand geben und sie im Schießen unterrichten wollte, so wäre er toll. Als die Athener im peloponnesischen Kriege Sklaven bewaffnen mußten, da wurde den Herren verboten, ihre Knechte zu schlagen; denen, die sich in der Schlacht bewähren würden, ward die Freiheit versprochen, und, wie es scheint, ist das Versprechen auch gehalten worden. Gelingt dagegen die Lösung der oben bezeichneten Aufgabe, dann sind wir aller dieser peinlichen und schrecklichen Notwendigkeiten überhoben, Es wird dann ein Prozeß eingeleitet, der dem im vorigen Kapitel beschrieben entgegengesetzt ist. Nehmen wir an, es wanderten zwei Millionen Gutsbesitzersöhne und Bauern in das Kolonialgebiet aus, denen eine Million Gewerbtreibender, Architekten, Ingenieure und Lehrer folgten, mit Familienangehörigen zehn Millionen Menschen; ferner, das Kolonialgebiet wäre so geräumig, daß auf mehrere Jahrzehnte hinaus der Abfluß unsers jährlichen Bevölkerungszuwachses dahin gesichert erschiene und die Einwohnerzahl des deutschen Reiches nicht über vierzig Millionen steigen könnte. Dann würden in unserm Vaterlande folgende Veränderungen eintreten. Der Bodenpreis fiele plötzlich so stark, daß alle verschuldeten Grundbesitzer durch das Mißverhältnis des Werts ihrer Güter zu ihren Schulden bankrott würden. Dadurch würde sehr viel verkäuflicher Boden frei, der Bodenpreis sänke noch mehr, und alle nicht ausgewanderten Tagelöhner, sowie viele dem ländlichen Leben zugeneigte Städter würden sich ankaufen. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß die Bankrotten mit Hilfe des Staates ein Restgut behielten. Der neue Bauernstand, der solchergestalt in den östlichen Provinzen Preußens aufblühen würde, bedürfte der Gewerbe und zöge eine Menge Gewerbtreibender aus dem Westen und aus den großen Städten an sich. Auch diese neuangesiedelten Handwerker und Fabrikarbeiter würden Grundbesitzer, und mit Hilfe der elektrischen Kraftübertragung würde, wie bereits erwähnt wurde, der genossenschaftliche Betrieb aller Arten von Industriezweigen nicht allein in den kleinen Städten, sondern auch auf jedem Dorfe möglich. Industrie und Landwirtschaft wären so in das natürliche Verhältnis zu einander getreten, jeder Produzent hätte seinen festen Stamm von Konsumenten in unmittelbarer Nähe, die Industriellen brauchten keinen Auslandsmarkt, und die Landwirte hätten die Konkurrenz des ausländischen Getreides nicht zu fürchten; dieses würde vielmehr von unsern Kolonisten an Ort und Stelle verzehrt. Der Arbeitslohn wäre so hoch, und bei der weiten Verbreitung des genossenschaftlichen Handwerksbetriebs wäre die Zahl besitzloser Arbeiter so gering, daß die Arbeiterfrage und damit die im engern Sinne sogenannte soziale Frage verschwände. Die gesundheitsschädlichen Industrien gingen aus Mangel an Arbeitern von selbst ein. Industrielle Großbetriebe würde es zwar noch geben, aber nur in solchen Industrien, deren Erzeugnisse körperlich große Gegenstände sind, Lokomotiven können nicht im Hinterstübchen, und Seeschiffe nicht auf dem Dorfweiher gebaut werden. Wofern sich nun solche Industrien zum genossenschaftlichen Betriebe nicht eignen sollten – die Maschinen- und Schiffbau-Aktiengesellschaften scheinen gegen diese Ansicht zu sprechen –, würden wir hier die großen kapitalistischen Unternehmer behalten, deren Arbeiter notwendigerweise Hörige sind, und auch auf den großen Rittergütern würden sich solche finden. Allein diese Hörigen würden sehr gut bezahlt und behandelt werden müssen, weil sie sonst fortlaufen würden; fänden sie doch sowohl daheim als in den Kolonien billiges Land und reichliche Arbeitsgelegenheit. So würde die alte Existenzsicherheit wiedergewonnen, die alte Gliederung der Gesellschaft wieder hergestellt, in neuen Formen jedoch und bereichert um die neuen Gebilde der teils im genossenschaftlichen teils im Einzelbesitz befindlichen Großbetriebe. So brauchten sich diese Verhältnisse nicht einseitig bis ins Extrem zu entwickeln. Es wäre Raum für die Entfaltung aller Arten von Naturanlagen; der zur Abhängigkeit geborne, der zu freiem, selbständigem Wirken befähigte, der zu gemeinsamem Leben aufgelegte Genossenschaftsmensch, der Abenteurer, sie fänden jeder seinen Platz und sein Fortkommen; aller Lage wäre erträglich. Die Regierung hätte nicht mehr nötig, die Zahl der Beamtenstellen, die Schreiberei und Aufpasserei ins Maßlose zu vermehren, teils zur Versorgung der Beamtensprößlinge, teils zur Überwachung und Zügelung unzufriedner Volksmassen. Dadurch würde der Druck beseitigt, mit dem die Bureaukratie sowohl auf dem Einkommen wie auf dem Gemütsleben des Volkes lastet. Das Einkommen der hohen Staatsbeamten ist im Verhältnis zu dem der ihnen ebenbürtigen Gesellschaftsschicht viel zu gering. Unsre Minister sind nur arme Schlucker neben unsern Magnaten, Schlotbaronen und Geldprotzen, und diese Herren zu »regieren« mag jenen schwer genug fallen. Dagegen sind die Besoldungen der mittlern und Subalternbeamten, wenn auch an sich nur eben auskömmlich, doch schon zu hoch im Verhältnis zum Einkommen der entsprechenden bürgerlichen Schichten und erregen deren Neid. Vor fünfzig Jahren konnte ein tüchtiger Handwerksmeister den Gymnasiallehrer mit seinen sechshundert Thalern bemitleiden; heute, wo dieser Herr das dreifache, dazu eine absolut sichre Existenz genießt und über seinen Tod hinaus Frau und Kinder sichergestellt sieht, fühlt er sich versucht, ihn zu beneiden. Dem Lehrer gönnt man ja seine günstige Lage allenfalls noch, andern weniger beliebten Beamten weniger. Für seine Beamten erzwingt der Staat, d, h, die Gesamtheit der höhern Beamten, jederzeit die den Verhältnissen entsprechende Aufbesserung. In unsrer heutigen Lage nun, d, h, wo die Gütermasse nicht mehr wesentlich vermehrt, sondern bloß noch anders verteilt werden kann, könnte eine allgemeine Gehaltserhöhung der Beamten auf zweifache Weise wirken. Entweder die plötzlich gesteigerte Kaufkraft sämtlicher Beamten treibt alle Preise in die Höhe, mit ihnen zugleich alle Arbeitslöhne, dann erhöht sich die Kaufkraft aller Bauern, Gewerbtreibenden und Arbeiter entsprechend, die Beamten können sich mit dem erhöhten Gehalt keinen größern Güteranteil verschaffen als vorher, und finden sich nach kurzer Freude wieder auf dem alten Fleck. Oder die Warenpreise und Arbeitslöhne können der starken Konkurrenz wegen nicht in die Höhe gehen, dann hat sich die Lage der Beamten wirklich gebessert, die der produktiven Stände aber um ebenso viel verschlechtert, und der Haß gegen den Staat wächst. Keine dieser Wirkungsweisen macht sich in auffälliger Weise bemerkbar, weil niemals alle Beamtenklassen zugleich aufgebessert werden, sondern immer nur die einen nach den andern. Da die innern und äußern Gefahren geschwunden sind, braucht die Regierung nicht mehr ängstlich jede Regung der Unterthanen zu überwachen und den Schlüssel zu jeder Kasse, die Leitung jeder Körperschaft im Lande selbst in der Hand zu halten; die Bureaukratie kann entlastet, die Selbstverwaltung im weitesten Umfange wieder hergestellt, die Genossenschafts- und Körperschaftsbildung völlig frei gegeben werden. Bei Beratung der preußischen Kreisordnung und später der Landgemeindeordnung wurde geklagt, die Gemeinden der östlichen Provinzen wären nicht fähig, ihre eignen Angelegenheiten zu verwalten. Ihre Vorväter habens gekonnt, die deutschen Ansiedler, die das Land kultivirt und germanisirt haben, ohne Bureaukratie, Polizei und Militär. Daß es die heutigen Bauern hie und da nicht mehr können, ist sehr natürlich. Der Unterthan eines bureaukratischen Staates gleicht einem im finstern Stall erzognen Gaul, der nur mit Scheuklappen versehen auf die Straße kommt, vor jedem Kinde scheut, und beim Übersteigen einer Schwelle die Beine bricht, wenn ihn der Kutscher nicht führt. Der in Freiheit aufgewachsene Mensch, namentlich wenn er der hochbegabten Germanenrasse angehört, gleicht dem Araberrosse, das mit Gemsengeschicklichkeit auf Felsen herumklettert und sich mit Menschenverstand in jeder Lage zu helfen weiß. Augenblicklich ist daher der Deutsche allerdings auch für die Kolonisation einigermaßen verdorben, weil es da ganz auf eignen Füßen stehen und ohne die Gängelbänder der Paragraphen und des militärischen Kommandos in völlig neuen stets wechselnden Lagen jeden Augenblick selbständige Entschlüsse fassen heißt. Doch kehrt dort allmählich der eigne Verstand, das selbständige Urteil, die Gewandtheit im Handeln wieder. Die deutschen Bauern in Rußland haben sich sogar ein eignes Erbrecht geschaffen und ihre Gemeindeangelegenheiten so vortrefflich geordnet, daß ihre russischen Nachbarn mit neidischer Bewunderung auf sie blicken. Was unsre heutigen Bürger und Bauern scheinbar ungeschickt macht, ist ferner der Umstand, daß sie sich auf Schritt und Tritt einer verwirrenden Menge unverständlicher Gesetze gegenüberfinden, die überhaupt kein Mensch, auch kein Minister, im Kopfe zu behalten und zweifelfrei auszulegen vermag. Indem der zentralisirende Großstaat jedes einzelne Menschenkind unmittelbar an seine unbehilfliche Maschine bindet, sieht er sich genötigt, die Gesetze ins Unendliche zu vermehren. Anstatt die Hinterwinkler ihre Streitsachen für sich allein in Hinterwinkel austragen zu lassen, macht er zu jedem Hinterwinkler Streitfalle ein Gesetz für seine sämtlichen fünfzig Millionen Unterthanen, sodaß die 49 999 000 Nichthinterwinkler mit Hinterwinkelgesetzen, die Hinterwinkler aber mit allen für die 49 999 übrigen Gemeinden berechneten Gesetzen belästigt werden. Auch der Schule ewiges Ach und Weh rührt nur von der Zentralisirung, Uniformirung, Reglementirung, her und ist nur aus diesem einen Punkte zu kuriren. Man lasse doch jeden lernen, was er zu lernen Lust hat oder zu gebrauchen gedenkt, wie es in der Zeit war, wo der europäische Geist seine höchste Spann- und Schöpferkraft entfaltet hat: im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts! Noch überflüssiger ist es, wenn das Beamtentum sich und die Unterthanen mit Kirchengesetzen quält. Seitdem die Kirchengewaltigen keine Fürstentümer noch Soldaten mehr haben, braucht sich der Staat nicht mehr mit Kirchen- und Religionsangelegenheiten zu befassen und kann es den Theologen und den Eiferern der Konfessionen und Konfessionslosen überlassen, ob sie einander gegenseitig totschimpfen oder totdisputiren wollen. Nur wenn sie handgemein werden, haben Polizei und Gericht einzuschreiten, aber nicht zur Abgrenzung der Rechte verschiedner Kirchen und Glaubensmeinungen, sondern wegen Körperverletzung und öffentlicher Ruhestörung. Da kennt sich nun natürlich niemand mehr aus. Haben aber die Hinterwinkler erst einmal ihre eignen Angelegenheiten zu besorgen nach der einfachen Ordnung, die sie sich selbst schaffen, so werden sie sich schon Rat wissen. Die Zentralbehörde muß sich allmählich wieder auf die drei Funktionen zurückziehen, die ihr unzweifelhaft obliegen: die Landesverteidigung, die Ausübung der obersten Gerichtsbarkeit und die Vertretung des Volks dem Auslande gegenüber; dann können die Unterthanen aus blinden Wählern und Kannegießern wieder Bürger, lebendige Glieder eines lebendigen Leibes werden. Bei der einzigen »staatsbürgerlichen« Funktion, die der heutige Staatsbürger auszuüben hat, verfährt er notwendigerweise blind, nicht weil er zu dumm ist, die Wahlparolen zu verstehen, sondern weil es überhaupt keinen Menschen giebt, der diese Wahlparolen verstünde. Endlich: während der von allen Seiten eingeschränkte, oft sogar jeder Arbeitsgelegenheit beraubte Unterthan des absoluten Staates seinem Thätigkeitsdrange nur noch im Schimpfen, Ränkeschmieden, Wühlen, Verschwören und allenfalls in nichtiger Vereinsfexerei genügen kann, hört all dieses teils thörichte teils giftige Treiben von selbst auf, sobald jeder als freier Mann auf seiner Scholle sitzt und Ellbogenraum genug hat, seine Fähigkeiten und Kräfte im Schaffen nützlicher Dinge zu üben. Was für Kinder gilt, daß sie nichts Unnützes thun, sobald sie etwas Nützliches vorhaben, gilt auch für, die Erwachsenen.

 

Wir haben oben bemerkt, eine solche Wendung der Dinge würde eine Anzahl Rittergutsbesitzer von ihren Stammsitzen treiben. Gerade während mir dieses schreiben (Mitte Februar) ist der große Sturm der Agrarier gegen die Handelsverträge losgebrochen und von den Beschwerdeführenden u. a. auch darauf hingewiesen worden, daß ihnen bei einer Katastrophe schwerlich Männer von gleicher Königstreue im Besitz nachfolgen würden. Wenn die Besitznachfolger jüdische Bankiers sind, dann mag das zutreffen, wenn aber die Rittergüter parzellirt und Bauerngüter daraus gemacht werden, dann bekommt der König für jeden treuen Mann, den er verliert, zehn oder hundert ebenso treue wieder. Oder weiß jemand Beispiele dafür anzuführen, daß die Bauern weniger treue und zuverlässige Unterthanen wären als die Ritter? Ich weiß keins; nur soviel weiß ich, daß die Ritter von jeher weit unbequemer und anspruchsvoller gewesen sind als irgend eine andre Klasse von Unterthanen und sich ihre Dienste sehr hoch bezahlen lassen.

Bei dieser Gelegenheit wollen wir doch überhaupt die Ansprüche aller der Herren, die bei uns die Tugenden der Königstreue und Reichstreue, des Patriotismus, der nationalen Gesinnung und der »staatserhaltenden« Kraft in Erbpacht genommen haben, ein wenig prüfen. Wir haben es bei den beiden Flügeln des Kartells mit einer Kombination zweier Gegensätze zu thun, die jedoch nicht stark genug sind, um nicht vor einem noch stärkern Gegensatze zu dritten Parteien zurückzutreten und ein Bündnis beider Flügel zu hindern. Die Konservativen (die neutrale Gruppe der Freikonservativen lassen wir der Einfachheit wegen aus dem Spiele) sind Altpreußen, Freunde eines absolutistischen Königtums, das sie an der Herrschaft teilnehmen läßt, frei von aller »Deutschtümelei« und nur dadurch mit dem neuen deutschen Nationalstaat ausgesöhnt, daß Preußen sein Haupt ist. Die Nationalliberalen sind – nicht Vertreter des urwüchsigen deutschen Volkstums, das ist vielen von ihnen teils unbekannt, teils unverständlich, teils zuwider –, sondern der auf akademischem Wege gefundnen deutschen Nationalität. Sie haben in ihren Schulen den Glaubenssatz eingesogen, daß der Katholizismus ein dem deutschen Volkskörper eingeimpfter fremder Stoff sei, ein Krankheitsstoff, der ausgetrieben werden müsse, und sie lieben Preußen, nicht wie die Ritter, weil es monarchisch und feudal, sondern weil es protestantisch oder, was in ihren Augen dasselbe ist, aufgeklärt ist. Während den Rittern die feudale Seite des preußischen Königtums gefällt, sagt den geistigen Häuptern der Nationalliberalen, die Professoren, also Staatsbeamte sind, die bureaukratische zu. Mit diesem mehr idealen Gegensatze verflicht sich nun ein sehr realistischer. Die Konservativen sind teils ostelbische Großgrundbesitzer, teils Pastoren, sie haben also die Interessen des ostelbischen Großgrundbesitzes und der evangelischen Landeskirche zu vertreten. Die Führer der Nationalliberalen sind Staatsbeamte, vertreten also das Interesse der Bureaukratie gegenüber dem gesamten Nährstande, und ihnen haben sich die Großindustriellen angeschlossen, die ihnen deswegen seelenverwandt sind, weil sie als akademisch gebildete Städter die Fahne der modernen Bildung gegen den Volksglauben oder Aberglauben, und als gelehrige Schüler der modernen Nationalökonomie die Fahne des »wissenschaftlichen« und gebildeten Unternehmertums gegen die proletarischen »rohen« Massen der Handarbeiter schwingen. In den sechziger und siebziger Jahren trat mehr die ideale Seite der beiden Parteien hervor, und zwar in der Konfliktszeit bei den Konservativen, im jungen neuen Reiche, dem die Nationalliberalen die Entstehung ihrer Partei verdankten, bei diesen, heute sind sie fast nur noch Interessenvertretungen; die Königstreue bedeutet hohe Kornpreise und der »nationale Gedanke« weiter nichts als hohe Dividenden.

Die wirklich und aufrichtig Idealen unter den Nationalliberalen haben sich von Anfang an in einer nicht ungefährlichen Täuschung befunden. In dem verzeihlichen Ärger darüber, daß nicht alle Deutschen ihre ungetrübte Freude über den ihren Herzenswünschen so wunderbar entsprechenden Gang der Dinge teilten, haben sie jeden, dem das spezifische Preußentum zuwider war, und dem zwar die Einigung Deutschlands, nicht aber die protestantische Spitze und die Ausschließung Österreichs gefiel, für einen Reichsfeind, Staatsfeind, Welfen, Römling und was sonst noch verschrien. Sie haben sich für berufen erachtet, das Vaterland, das Reich vor den nur in ihrer Phantasie spukenden Gefahren zu schützen, und wäre es ihren Heißspornen nachgegangen, so würden alle Katholiken, alle Polen, dann aber auch alle sozialdemokratischen Arbeiter als Heloten behandelt worden sein. Immerhin darf man das, was sie durchgesetzt haben, nicht gering anschlagen; mag doch die Zahl derer, die infolge dieses patriotischen Eifers vom Staate der Reihe nach sehr stiefväterlich behandelt worden sind, nicht weniger als drei Viertel der deutschen Staatsangehörigen betragen. Macauley nennt die Regierungen lächerlich und verächtlich, die einen Teil ihrer Unterthanen schlecht behandeln und sich dann über mangelnden Patriotismus und illoyales Verhalten beklagen, und wenn die nationalliberale Politik die Mehrzahl der Reichsdeutschen zu Landesverrätern gemacht hätte, so wäre das nicht im mindesten zu verwundern. Dieser Erfolg ist zum Glück nicht eingetreten. Das Volk Das Volk, d. h. die Masse der Ungelehrten und der Armen, haben die Nationalliberalen niemals hinter sich gehabt. Der Schein, als sei es vorübergehend der Fall gewesen, ist nur durch den Kulturkampf erzeugt worden, der die protestantischen zwei Drittel der Nation unter nationalliberaler Führung gegen das katholische mobil gemacht hat. Diese für die Herren sehr günstige Konjunktur ist schnell vorübergegangen. Auf lange Zeit hinaus hat das deutsche Volk andre Sorgen als die päpstliche Unfehlbarkeit, den Priesterzölibat und die Jesuitenmoral, und wird sich auch durch den Lärm, den der Evangelische Bund macht, von der Verfolgung seiner Lebensinteressen nicht mehr abbringen lassen. ist geduldig und Schläge gewöhnt, und gerade die Leute, auf die am meisten losgedroschen wurde, haben Religion und ein Gewissen im Leibe. Außerdem ist Vaterlandsverrat beim Volke widernatürlich, weit widernatürlicher, als er bei einem Professor sein würde. Niemand hängt mehr am Vaterlande als der Bauer, der ein körperliches Stück davon sein eigen nennt, und niemand in der Welt denkt weniger daran, ein feindliches Heer ins Land hereinzurufen. Ich wüßte auch nicht, daß irgend einmal die Bauern irgend eines Landes den Feind hereingerufen oder ihm die Wege geebnet hätten. In Italien haben Stadtbürger zuweilen ein ausländisches Heer zu Hilfe gerufen entweder gegen rivalisirende Nachbarstädte, oder gegen eine andre ausländische Macht. In Deutschland – das ist eine Wahrheit, die allgemein bekannt sein sollte, die genau zu kennen und zu beherzigen von der größten Wichtigkeit ist – in Deutschland sind es immer nur die Fürsten und ihre Räte gewesen, die das Vaterland an Ausländer verraten haben, niemals weder Bürger noch Bauern. Die Einbildung vieler Nationalliberalen, man müsse ihrer Partei angehören, um ein guter Deutscher zu sein, kommt mir persönlich unbeschreiblich komisch vor. Ich habe mein Lebtag das deutsche Land, das deutsche Volk, die deutsche Sprache geliebt, mich in die deutsche Geschichte versenkt und weiß bestimmt, daß ich mich unter Menschen eines fremden Volks auf die Dauer nicht wohl fühlen würde, aber der nationalliberalen Politik habe ich nie, auch nur einen Augenblick Geschmack abgewinnen können, obwohl ich immer mit einzelnen Angehörigen der Partei, die ja sämtlich feingebildete, liebenswürdige und achtungswerte Männer sind, persönlich befreundet gewesen bin.

Der Bauer, der ansässige Stadtbürger, mag mit der Regierung und mit den Staatseinrichtungen manchmal sehr unzufrieden sein, aber ein Umsturzmann oder gar ein Landesverräter wird er niemals, er mag protestantisch oder katholisch, Deutscher oder Pole sein. Es giebt nur eine Klasse von Menschen im Vaterland, die – nicht zwar das Vaterland – aber das Reich und den Staat hassen und beider Untergang wünschen oder wenigstens gleichgiltig dagegen sind, das sind die Besitzlosen, die, die der Staat vom Mitbesitz und Mitgenuß des Vaterlandes ausschließt. Und die werden Staatsfeinde bleiben, solange sie leben. Es kann nicht anders sein; es wäre wider die Natur, wenn es anders wäre. Man verbrenne alle Sozialdemokraten lebendig, man vernichte alle ihre Bücher und Schriften, nur um so grimmiger werden alle Besitzlosen, sofern sie nicht in viehischem Stumpfsinn befangen bleiben, den Staat und die bürgerliche Gesellschaft hassen. Soviel Besitzlose, soviel Feinde zählt der Staat, das kann niemand ändern. Die Sozialdemokratie umzubringen, sagt Lagarde, den ich übrigens nur aus Rezensionen seiner Schriften kenne, giebt es nur ein einziges Mittel: daß man jeden Sozialdemokraten zum Grundbesitzer mache.


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