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Zweites Kapitel

Die Fragestellung

Nachdem Wolf im ersten Abschnitt festgestellt zu haben glaubt, »wie im Lauf der Menschheitsentwicklung ein soziales Grundrecht nach dem andern aufgetaucht ist, und wie in diesen Humanitätsrechten die Geschichte der sozialen Moral als exoterischer Moral sich wiederspiegelt,« soll der zweite »der Frage nach dem eigentlichen Inhalt dieser Rechte und insbesondre der beiden ökonomischen von ihnen gewidmet sein.« Als politische Grundrechte bezeichnet er das Recht auf Freiheit und das auf Gleichheit. Die beiden Namen seien freilich »trotz des sonoren Klanges« unzweckmäßig gewählt; nachdem sie ihre revolutionäre Aufgabe erfüllt hätten, habe die Wissenschaft festzustellen, daß unter Freiheit und Gleichheit Selbstbestimmung und Mitbestimmung verstanden werden. »Beide zusammen sind in der That das volle Recht, insofern jede Beschränkung im Selbstbestimmungsrechte wett gemacht wird durch Zuweisung eines Rechts auf Mitbestimmung über andre.« Da wir unsrerseits nicht nach dem Ideal fragen wollen, sondern nach dem unter den gegebnen Umständen notwendigen und möglichen, so können wir die sogenannten politischen Grundrechte erst erörtern, nachdem wir die wirtschaftliche Lage dargestellt haben werden.

Von den beiden wirtschaftlichen Grundrechten ist nach Wolf, und wir stimmen ihm darin bei, das Recht auf Existenz sowohl seiner Begründung als seinem Inhalt nach unsicher, während das Recht auf den vollen Arbeitsertrag wenigstens klar begründet werden kann, wenn auch in vielen Fällen nicht zu ermitteln ist, worin der volle Arbeitsertrag besteht. In vielen, nicht in allen Fällen, sagen wir; und diese Korrektur, die wir an Wolfs allgemein gehaltner These anbringen, ist, wie wir sehen werden, von entscheidender Bedeutung. Eben der noch unbestimmte Inhalt der beiden wirtschaftlichen Grundrechte, heißt es weiter, sei der Gegenstand des sozialen Streites, und die Verwirklichung dieses Inhalts sein Ziel. Indem man aber nach jenem Inhalt forsche, sehe man sich wieder »auf das Grundproblem der sozialen Ethik zurückgeworfen: was ist der Zweck des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sowie der Lebenszweck des einzelnen?«

Über dieses Grundproblem liegen nun, wie weiter ausgeführt wird, zwei »große Auffassungen« mit einander im Streit, die aristokratische, die einigen wenigen die Masse opfern will, und die demokratische, die alle einzelnen für gleichberechtigt hält. Wolf führt eine Anzahl berühmter Vertreter beider Richtungen an und geht näher auf Nietzsche ein, bei dem der Gegensatz in ungeheuerlicher Verzerrung als ein Kampf der angeblichen Sklavenmoral gegen die Herrenmoral erscheint. Daß von unsern beiden großen Dichtern Goethe der aristokratischen und Schiller der demokratischen Auffassung zuneigte, ist bekannt. Ein Streit darüber zwischen Treitschke und Schmoller, über den Wolf berichtet, berührt unsern Gegenstand unmittelbar. Als der sogenannte Kathedersozialismus hervortrat, bekämpfte ihn Treitschke in der Schrift »Der Sozialismus und seine Gönner.« Treitschkes aristokratische Moral ist freilich von der Nietzsches himmelweit verschieden, da er die Unterordnung der vielen unter die wenigen fordert, nicht um der Selbstsucht der Herren zu fröhnen, sondern weil das Wohl des Ganzen sie fordre. Den großen Talenten müsse auf Kosten des Lebensgenusses der Masse eine höhere Stellung und reichlicher Lebensgenuß gesichert werden, damit sie ihre Aufgabe als Kulturerzeuger erfüllen könnten. »Oft und bis zum Überdruß hat man nachgewiesen, daß ohne die Anhäufung großer Reichtümer weder die Großindustrie noch die Blüte der Kunst gedeihen kann. Die Persönlichkeit eines gereiften großen Volkes kommt nicht zur Durchbildung ohne starke soziale Gegensätze.« Darauf hat Schmoller geantwortet, daß selbst die höchsten Blüten geistigen Lebens zu ihrer Entfaltung großer Reichtümer nicht bedürften. In der aurea mediocritas gediehen sie am besten. »Die größten deutschen Dichter haben sich vor hundert Jahren in Weimar, die genialsten deutschen Maler und Architekten unsrer Zeit haben sich in dem armen Baiern, in München versammelt, als dort sicher noch kein Privatmann eine Million besaß.« Wolf schließt sich dieser Ansicht, die selbstverständlich auch die unsre ist, aus vollem Herzen an. »Nein, es leidet keinen Zweifel: auf dem Boden mittlern Wohlstandes kann nicht nur die mittlere Volkskraft reifen, sondern auch den Ausnahmeerscheinungen, den großen Künstlern und Denkern wird er der günstigste sein. Existenzbedingung jener, die den Fortschritt »leisten,« ist nicht Opferung der andern ... Der Weg, der zum Glücksziel führt, d. h. zur Bedachtnahme auf alle oder möglichst viele [wie ungeschickt ausgedrückt!], muß das Kulturziel nicht verfehlen.« Er schließt mit einigen Versen aus den »Schutzflehenden« des Euripides, in denen ausgeführt wird, daß weder die Reichen noch die Armen etwas taugen, Zucht und Ordnung nur beim Mittelstande zu finden sei, unterläßt es aber merkwürdigerweise, aus seinen richtigen Vordersätzen die allein zulässige Folgerung zu ziehen, daß die Begünstigung des Kapitalismus und somit auch der Zweck, zu dem er sein Buch geschrieben hat, verwerflich sei.

Aus der von Wolf beleuchteten Polemik Treitschkes wollen wir doch noch einen Satz hervorheben als ein Beispiel jener zahlreichen Fälle, wo hervorragende Männer offenbaren, wie wenig sie von wirtschaftlichen Verhältnissen verstehn. Treitschke spricht von den »jedes menschliche Gefühl empörenden Kontrasten der Großstadt,« durch die man sich aber in der aristokratischen Lebensansicht nicht irre machen lassen dürfe, und Wolf greift folgenden Satz heraus: »Dort auf den Tribünen des Rennplatzes drängt sich lachend die geputzte Menge, drunten wird ein edles Rennpferd durch eine Flasche Wein gestärkt, und einige Schritte davon bettelt eine arme Frau um Brot für ihre Kinder.« Otto Effertz führt denselben Satz an und fragt, was es wohl der armen Frau nutzen könnte, wenn der Gaul den Champagner nicht kriegte? Was sie braucht, ist nicht Wein, sondern Brot, und da der Roggen an Rebgeländen so wenig gedeiht wie der Wein auf Roggenacker, so stehen einander die beiden nicht im Wege, und der Gaul fügt der armen Frau kein Unrecht zu. Es ist demnach gar keine Herrenmoral nötig, um die Grundlosigkeit der Gewissensbisse einzusehn, die der Weingenuß empfindsamen und mitleidigen Seelen im Hinblick auf das menschliche Elend erregt. Klugheit und feine Empfindung mögen also wohl fordern, daß der Reiche den anstößigen Kontrast vermeide und entweder sich und seinen Gaul nur an solchen Orten mit Wein erquicke, wo keine hungernden Witwen und Waisen herumstehn, oder gleichzeitig diese Armen mit einem Almosen erfreue. Aber geholfen werden kann diesen Armen weder durch Almosen, noch durch den Verzicht der Reichen auf den Weingenuß, sondern nur durch Vergrößerung der Flächen, auf denen Roggen gebaut wird. Nicht daher rührt ihre Not, daß zu viel Wein, sondern daß zu wenig Roggen im Lande ist; denn entspräche der Roggenvorrat dem Bedarf, dann würde das Brot so billig sein, daß sich auch die Armen genug davon kaufen könnten, und Allerärmste, d. h. solche, die keine Arbeit finden und daher gar kein Geld haben, würde es nicht geben. So wenig also die Armen ihr Brot zu opfern brauchen, damit sich die großen Geister und die Rennpferde im Wein Lebensmut antrinken können, so wenig brauchen die Reichen auf den Wein zu verzichten, damit die Armen Brot bekommen.

Um nun zu dem Gedankengange Wolfs zurückzukehren, so stellt er, um der unliebsamen Folgerung auszuweichen, zu der er sich gedrängt sah, die angestellte Untersuchung des Grundproblems der sozialen Ethik als ergebnislos und daher eigentlich überflüssig dar. »Ein absolutes Maß, eine Lösung in ethischen Dingen giebt es eben nicht. Und noch eine Steigerung mag die Willkür darin finden [soll wohl heißen: und noch mehr wird der Spielraum, den die Willkür des persönlichen Geschmacks bei der Entscheidung solcher Fragen beansprucht, dadurch vergrößert], daß, wenn selbst der Streit über das Ziel, damit immer noch nicht jener [?] über das Recht beigelegt wäre. Eine gewisse Verteilung der Einkommen kann uns dem Ziel der Entwicklung näher bringen als eine andre. Stellt diese Verteilung das Recht schon dar? Hat X, weil er mit einem Einkommen von einem gewissen Betrage den ihm von Gesellschaftswegen gestellten Aufgaben am besten entsprechen würde, darum ein Recht auf dieses Einkommen? Heute muß er sich sein »Recht« auf dem Markte in Konkurrenz mit andern gegenüber einer vielleicht mißleiteten oder unverständigen Menge von Käufern zu erkämpfen suchen. Um Extreme herauszugreifen, denke man an den Börsianermillionär gegenüber einem in seiner Dachkammer verhungernden Jünger einer »wenig praktischen« Wissenschaft. Ist die Leistung des letztern nicht vielleicht von Gesellschafts wegen bessern Rechts als die Leistung jenes? Das Gesetz schützt trotzdem den Millionär, das Recht ist mit ihm, und ebenso [?] reicht das Recht des verhungernden Musensohns nicht weiter als die Wand seiner Mansarde.«

Wolf verzichtet also darauf, den Inhalt des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag aus dem Ziele der Kulturentwicklung zu ermitteln. Er begnügt sich damit, festzustellen, daß jenes Recht allgemein anerkannt werde, und findet, daß sich der Streit eigentlich nur darum drehe, ob es schon verwirklicht sei oder nicht. Die Sozialisten behaupteten, dem Arbeiter allein gebühre der ganze Arbeitsertrag, ein beträchtlicher Teil davon aber werde ihm vom Unternehmer vorenthalten, der demnach ein Räuber sei. Die Anhänger des bestehenden hingegen seien der Ansicht, »daß die Entlohnung In dieser jetzt so beliebten Zusammensetzung, hat uns ein Freund zu dieser Stelle bemerkt, liegt eine unfreiwillige bittere Ironie. Entlohnen kann nämlich vernünftigerweise nichts andres bedeuten, als einen seines Lohnes berauben. Vergl. entblättern, entlauben, entleiben, entmannen, entkernen, entseelen, entvölkern u. s. w. Denen, die das Wort gebildet haben, hat wohl dunkel vorgeschwebt: jemand seinen Lohn auszahlen und ihn damit entlassen. Das läßt sich aber eben nicht in einen Begriff zusammenquetschen. des Arbeiters von heute seiner Leistung ungefähr entspreche, daß also die Privateigentumsordnung von heute dem Rechte nicht entgegen sei, und Reformen nur karitativ, als Akte der Nächstenliebe über das nackte Recht hinaus gedacht werden können.« Wolf hätte, nachdem er einmal die aristokratische und die demokratische Moral in die Betrachtung hineingezogen hat, ausdrücklich darauf hinweisen müssen, daß die erste heut »vom Manchestertum und von der Feudalität« (in diese beiden Klassen teilt er die Anhänger der kapitalistischen Wirtschaft ein), die zweite von den Sozialdemokraten vertreten wird. Zwischen diesen beiden Parteien der Interessirten, deren Meinung klar sei, stehe die vermittelnde Partei der Uninteressirten, die die Klarheit vermissen lasse. Diese meine, »die gegenwärtige Wirtschaftsordnung führe die Möglichkeit einer Vergewaltigung des Arbeiters durch den Unternehmer mit sich, und diese Vergewaltigung sei heute bis zu gewissem [einem gewissen] Grade eine Thatsache. Inwieweit? Darauf wird uns eine höchst unsichre Antwort oder gar keine gegeben. Dagegen wird ausgeführt, jener Vergewaltigung und Vergewaltigungsmöglichkeit müsse ein Ende gemacht oder wenigstens müßten die Folgen der Vergewaltigung abgewendet werden, ersteres mehr im Wege privater Organisation der Arbeiter, letzteres mit Bevorzugung staatlichen Eingreifens in die »natürliche« Gestaltung der Dinge.« Der Kathedersozialismus oder Staatssozialismus, unter welchen beiden Benennungen die Männer der vermittelnden Richtung zusammengefaßt zu werden pflegen, unterscheidet sich also zunächst dadurch vom Sozialismus, daß er die Beraubung des Arbeiters durch den Unternehmer unter der Herrschaft des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht für notwendig und unvermeidlich, sondern nur für möglich und stellenweise wirklich erklärt. Außerdem begründet er auch noch die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer ein wenig anders als die Sozialisten. Der Arbeiter, so pflegen Professor Brentano und seine Gesinnungsgenossen auszuführen, habe nichts als seinen Arbeitslohn, um sein Leben zu fristen. Er befinde sich daher beim Verkauf seiner Arbeitskraft stets in der Lage des Falliten, der um jeden Preis, also auch um einen Spottpreis losschlagen müsse. Demnach könne ihm geholfen werden, wenn er, z. B. durch gewerkschaftliche Organisation, in den Stand gesetzt werde, eine Zeitlang auf Arbeitslohn zu verzichten; denn dann sei er stark genug, den Lohn zu erzwingen, der dem Werte seiner Leistung entspreche. Die Sozialisten dagegen erklären die Ohnmacht der Arbeiter nicht aus dem Mangel an Unterhaltsmitteln, sondern daraus, daß sie nicht im Besitz der Produktionsmittel sind und unter der Herrschaft des Kapitalismus angeblich niemals in ihren Besitz gelangen können. Vom Boden dieser Begründung aus gelangen sie dann auch zu viel weitergehenden Forderungen als die Kathedersozialisten. Denn, sagen sie, wenn die Arbeiter auch auf dem Wege der Koalition einen höhern Lohn zu erzwingen imstande sind, so ist dieser höhere Lohn immer noch nicht der volle Arbeitsertrag; diesen vermag der Arbeiter nicht zu erlangen, so lange es eine von den Arbeitern gesonderte Unternehmerklasse giebt, die unter den Bezeichnungen: Grundrente, Kapitalzins und Unternehmergewinn einen Teil des den Arbeitern gebührenden Arbeitsertrages für sich vorwegnimmt; das Unternehmertum muß also abgeschafft werden. So läuft denn Wolfs Untersuchung auf die Beantwortung der Frage hinaus, ob die Sozialisten oder die Anhänger des Kapitalismus oder die Kathedersozialisten mit ihren Behauptungen Recht haben.

Für uns ergiebt sich eine ganz andre Frage oder vielmehr Gruppe von Fragen als Hauptgegenstand der Untersuchung. Was zunächst die gerühmte Klarheit der beiden Interessentengruppen anlangt, so ist sie keineswegs eine Frucht mühsamer Geistesarbeit, sondern auf dieselbe leichte Weise gewonnen, wie in allen Wissenschaften die Doktrinäre, die sich um die ungeheure Mannichfaltigkeit der Welt nicht kümmern, durch Folgerungen aus einem »Prinzip« ihre reinlichen, folgerichtigen und durchsichtigen Systeme aufzubauen verstehen. Eben in dieser Einfachheit und Reinlichkeit, die durch das Absehen von der verwirrenden Mannichfaltigkeit des Lebens auf Kosten der Wahrheit gewonnen wird, liegt der gemeinsame Grundfehler beider Systeme, und eben dadurch werden die vermittelnden Kathedersozialisten unklar, daß sie der Wahrheit näher kommen. Aber freilich, die allerfalscheste Annahme der beiden folgerichtigen Systeme haben auch sie sich zu eigen gemacht und so ihre Untersuchungen auf dieselbe unhaltbare Grundlage gestellt wie jene beiden.

Alle drei, samt Wolf, nehmen ganz unbefangen an, die gesamte Bevölkerung der Kulturstaaten bestehe aus den beiden Klassen der Unternehmer und der Arbeiter, und alle sozialen und volkswirtschaftlichen Streitigkeiten drehten sich um die Aufgabe, den Arbeitsertrag zwischen diese beiden Klassen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu verteilen; sie alle übersehen die drei Thatsachen, daß erstens jene Scheidung keineswegs allgemein ist, daß demnach zweitens in vielen Fällen gar keine Verteilung notwendig ist, sondern dem Arbeiter sein voller Arbeitsertrag schon jetzt unmittelbar zufließt, und daß drittens in den Fällen, wo eine Verteilung stattfindet, die Ermittelung des gerechten Anteils bald leicht, bald schwierig, bald unmöglich ist.

Wolf selbst entnimmt einem Buche des Sozialisten Kautsky folgendes Beispiel: »Als bei den Indianern noch Bogen und Pfeile allein gebraucht wurden, kannte jeder Krieger seine Pfeile und hatte keine Schwierigkeit, die von ihm getöteten Büffel positiv zu erkennen. Diese waren ganz sein individuelles Eigentum. Fanden sich aber Pfeile von verschiednen Männern in demselben toten Büffel, so wurden die Eigentumsansprüche je nach deren Lage entschieden. Wenn jeder Pfeil eine tötliche Wunde verursachte, so wurde der Büffel geteilt.« Hier war also das Recht auf den vollen Arbeitsertrag verwirklicht, und dasselbe geschieht ja noch bis auf den heutigen Tag überall bei Jagd und Fischfang. Aber nicht bloß der Jäger und der Fischer, sondern auch der unverschuldete Kleinbauer, der seinen Acker mit Weib und Kindern selbst bestellt und keiner Lohnarbeiter bedarf, erleidet keinen Abzug. Ihm allein gehört die ganze Ernte, gehört die Milch seiner Kühe, der Erlös aus verkauftem Vieh, das Fleisch seiner Schweine. Der größere Bauer, der sich Knechte, Mägde und Tagelöhner hält, muß allerdings schon mit diesen teilen, oder vom sozialdemokratischen Gesichtspunkte aus betrachtet: sie müssen ihren Arbeitsertrag mit ihm teilen; allein die Schwierigkeit, die aus dieser Arbeitsgemeinschaft herausgediftelt werden könnte, ist rein theoretischer Natur und hat gar keine praktische Bedeutung. Denn der Bauerknecht hält sich für genügend belohnt, wenn er satt und gut zu essen hat, und wenn sein Geldlohn für die ortsübliche Kleidung, das ortsübliche Sonntagsvergnügen und einen Sparpfennig hinreicht. Zwischen ihm und dem Bauer besteht also kein Streit über die gerechte Teilung. Bei den Arbeitern der Rittergüter, auf die wir später zu sprechen kommen, verhält sich die Sache allerdings schon anders. Weil die »klassische Ökonomie« wie der »klassische Sozialismus« in England entstanden ist, wo es keinen Bauernstand mehr giebt, so haben die Herren Gelehrten diesen Stand, der in Deutschland noch vor fünfzig Jahren zwei Drittel der Bevölkerung ausmachte, und der noch heute in Frankreich und Deutschland den Kern des Volkes bildet, der Reinlichkeit und Einfachheit ihrer Systeme zuliebe übersehen und aus einer Frage, die nur einen Teil der städtischen und industriellen Bevölkerung angeht, eine allgemeine Frage gemacht.

Nur einen Teil! Auch der kleine Handwerker wird nicht davon berührt. Sodann giebt es Fälle der Arbeitsteilung, die immer auch Arbeitsgemeinschaft ist, wo von Scheidung in Unternehmer und Arbeiter keine Rede sein kann, und die Teilung des Arbeitsertrages auf dem Wege des Vertrags erfolgt, ohne daß der eine sich in Gefahr begiebt, vom andern vergewaltigt oder übervorteilt zu werden. So wenn sich Verleger, Schriftsteller und Buchdrucker zur Herausgabe eines Buches, Maurermeister, Zimmermeister und Schieferdeckermeister zum Bau eines Hauses vereinigen. In vielen Gegenden Deutschlands sind auch die Maurer und Zimmerleute noch keine reinen »Arbeiter,« die dem Meister als Unternehmer auf Gnade und Ungnade ausgeliefert wären. In kleinern Städten wenigstens beschäftigen die Meister vielfach Leute von den umliegenden Dörfern. Diese Leute sind meistens Söhne von Ackerstellenbesitzern. Sie haben das Maurer- und Zimmerhandwerk gelernt, um sich damit ihr Brot zu verdienen, bis sie selbst in den Besitz einer Stelle gelangen, wobei sie aber fortfahren, bei den Eltern zu wohnen und ihnen in der Ackerarbeit und im Hause zu helfen. Glückt es ihnen nicht, kleine Gutsbesitzer zu werden, so müssen sie allerdings zeitlebens beim Handwerk bleiben, bringen es aber dann meistens bis zum Polir. Übernehmen sie die väterliche Stelle, oder heiraten sie in eine Stelle ein, oder kaufen sie mit ihren Ersparnissen eine, und ist ihr Gütchen nicht groß genug, sie vollständig zu beschäftigen und – was immer die Folge davon ist – anständig zu ernähren, so betreiben sie die Maurerei oder Zimmerei als Nebenberuf weiter. Solche Leute stehen keineswegs in Gefahr, gleich zu verhungern oder zu verlumpen, wenn sie ein ihnen zu niedrig scheinendes Lohnangebot des Maurer- oder Zimmermeisters zurückweisen. Der Meister andrerseits aber ist auch nicht in der Lage, sich durch Lohndruck um alle diese zuverlässigen Leute zu bringen und mit hergelaufenem Volk zu arbeiten. Beide bedürfen einander gegenseitig, beide können sichs aber auch überlegen, ehe sie einen Vertrag abschließen. Sie stehen also wirtschaftlich so ziemlich auf gleichem Fuße, und nur als Betriebsleiter ist der Meister der Vorgesetzte, wenn man will, der Herr der Gesellen. Unter solchen Umständen fällt die Verteilung des Arbeitsertrages von selbst gerecht aus. Unternehmer war der kleinstädtische Maurer- und Zimmermeister bis vor etwa fünfzig Jahren überhaupt nicht. Damals kannte man nur in den größern Städten Mietkasernen; in den kleinern baute man nur Häuser, um sie selbst zu bewohnen. Der Bauherr bezahlte den Maurer- und Zimmermeister für den Entwurf und für die Materialien, falls er sie nicht selbst lieferte, für die Bauleitung aber bekamen sie unmittelbar gar nichts, sondern wurden in der Weise bezahlt, daß ihnen jeder Gesell von seinem Tagelohn einen Silbergroschen abtrat; so viel Gesellen der Meister beschäftigte, so viel Silbergroschen hatte er täglich. Die Möglichkeit eines unverhältnismäßigen Gewinns war also ausgeschlossen, und den Lohn der Gesellen zu drücken, daran hatte der Meister gar kein Interesse; nicht er, sondern der Bauherr zahlte ihn, zwischen Meister und Gesellen aber waltete die vollständigste Interessenharmonie. Hätten die Gesellen auf eigne Faust einen Bau übernehmen und einen aus ihrer Mitte als Betriebsleiter anstellen wollen, so würde der mit weniger als einem Silbergroschen von jedem Kameraden gewiß auch nicht zufrieden gewesen sein. Heute freilich sind in den größern Städten die Maurer- und Zimmermeister weit mehr Bauunternehmer als Handwerksmeister, und die Gesellen sind reine Arbeiter nach modernem Begriff, aber in den kleinern Orten finden sich, wie gesagt, noch Reste des ursprünglichen Verhältnisses, und wenn man dieses der Berechnung zu Grunde legte, so würde sich wohl auch der Lohn finden lassen, den der Maurer und Zimmermann der Großstadt zu fordern hat. Möglicherweise würde sich ergeben, daß er von seinem wirklichen Lohne nicht sehr abweicht.

Erst bei verwickelter Arbeitsteilung wird die Berechnung schwierig; sie wird unmöglich, wenn Personen, die weit entfernt von einander wohnen und einander gar nicht kennen, wenn gar die Rohproduktionen und Industrien verschiedner Länder zur Herstellung einer Ware zusammenwirken. Wenn eine elsässische Kattunfabrik englisches Garn verarbeitet und ihre Ware nach Schwaben verkauft, so ist es schon sehr schwierig, die beteiligten Personen alle anzuführen, ohne eine zu vergessen. In den fünfzig Pfennigen für eine Elle dieses Kattuns, die in einem Stuttgarter Kramladen verkauft wird, stecken die Bodenrenten, Kapitalzinsen, Geschäftsgewinne und Arbeitslöhne einer unübersehbaren Menge von Personen. Es sind u. a.: der amerikanische oder indische Baumwollenpflanzer, sein Aufseher und sein Arbeiter; die beim Transport der Baumwolle nach England auf der Bahn und auf dem Schiff beschäftigten Leute; die Aktionäre der Eisenbahnen; der Besitzer der Spinnfabrik, der Aufseher, der Krämpler, der Spinner u. s. w.; die Bauhandwerker, die an der Herstellung des Fabrikgebäudes beteiligt gewesen sind, die Maschinenbauer, aus deren Anstalt die Maschinen der Spinnerei hervorgegangen sind, das beim Transport nach dem Elsaß beschäftigte Personal, dort wieder Besitzer und Arbeiter der Webefabrik und die Leute, die das Gebäude und die Maschinen hergestellt haben, dann das Personal der Färberei und Druckerei, die Musterzeichner u. s. w., dann wieder die beim Transport nach Stuttgart beschäftigten, dann die amerikanischen, englischen und rheinischen Bergleute und Eisenarbeiter, die die Kohle und das Eisen für die Lokomotiven und Maschinen aus dem Schoße der Erde herausgeschafft und verarbeitet haben, sowie die beteiligten Gruben-, Hütten- Fabrikbesitzer und Aktionäre, endlich der Schnittwarenkaufmann, sein Personal, der Hauswirt, dem er Miete zahlt, und zu allerletzt die Leute, denen das Papier verdankt wird, worein er das Zeugläppchen hüllt, und das Schnürchen, womit er das Paketchen bindet. Dazu kommt noch, daß, während ein Kunstwerk und ein Erzeugnis des Kunsthandwerks, aber auch noch ein Schlüssel, ein Stiefel ganz das Werk eines einzelnen bestimmt zu bezeichnenden Mannes sind, der nur die Zuthat und das Werkzeug von andern fertig geliefert erhalten hat, eine Elle Kattun gar kein individuelles Erzeugnis ist. Maschinengarn und Maschinengewebe werden von vielen Arbeitern gemeinsam oder vielmehr unter ihrer Aufsicht von den Maschinen in Masse hergestellt, und von keinem Gewinde Garn, von keiner Elle Kattun wissen die Arbeiter anzugeben, welcher von ihnen bei der Herstellung besonders beteiligt gewesen sei. Schon das Durchdenken der Aufgabe, den rechtmäßigen Anteil aller Beteiligten an jenen fünfzig Pfennigen zu berechnen, könnte einen verrückt machen; an ihre Lösung ist nicht zu denken.

Bei solchen Waren giebt es schlechterdings keinen andern Weg, auf dem die Ansprüche der Beteiligten an den Erlös verwirklicht werden könnten, als den jetzt üblichen, nämlich daß die Rohstoffe, Halbfabrikate und Ganzfabrikat auf den Markt geworfen werden, wo das Spiel von Angebot und Nachfrage ihren Preis regelt, daß der letzte Verkäufer aus seinem Erlös dem Verkäufer des letzten Produktionsabschnittes die Auslagen erstattet und den Geschäftsgewinn zuteilt, der des letzten Produktionsabschnitts dem des vorletzten den gleichen Dienst erweist, dieser dem vorhergehenden bis zurück zu den Urproduzenten, und daß die Unternehmer jedes Produktionsabschnittes ihren Arbeitern den Lohn zuteilen, wiederum nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Wie weit die Zuteilung der Gerechtigkeit entspricht, bleibt dem Zufall überlassen, nur so viel ist klar, daß jeder Unternehmer die Macht hat, ungerecht zu sein, sobald das Angebot an »Händen« seinen Bedarf übersteigt. Gerade diese Industrien nun, in denen nicht allein die Möglichkeit der gerechten Verteilung, sondern schon die Möglichkeit der Berechnung aufhört, sind die Brutstätten jener Übel, an die man bei der Redensart »soziale Frage« zunächst zu denken pflegt, und es ist kaum eine Übertreibung, wenn man sagt, daß die Sozialdemokratie eine Frucht der Textilindustrie sei.

Demnach hat die Frage, ob der Arbeiter seinen vollen Arbeitsertrag erhalte, oder ob ihm der Unternehmer einen Teil davon vorenthalte, so allgemein gestellt gar keinen Sinn. Denn es giebt Arbeiter, die ihren Arbeitsertrag mit keinem Unternehmer zu teilen und niemandem etwas davon abzugeben haben als dem Staate und der Gemeinde. Es giebt ferner Arbeiter, die mit Arbeitsgenossen, aber nicht mit Unternehmern teilen. Es giebt ferner Unternehmer und Arbeiter, die gegenseitig mit einander zufrieden sind, und zwischen denen gar kein Streit entsteht, weil die Abrechnung einfach und klar ist. Bei den Arbeitern endlich, wo die Frage wirklich entsteht, ist sie – unlösbar.

Diese Lage der Dinge bestimmt uns, eine Reihenfolge ganz andrer Fragen zu stellen. Wir fragen:

1. Macht es der Kulturfortschritt notwendig, daß die einfachen Verhältnisse, in denen ein jeder seinen Arbeitsertrag überschauen und sein Recht daran sichern kann, gänzlich verschwinden, und ein unlösbarer Wirrwarr an die Stelle tritt? Und nachdem wir gefunden haben, daß dies keineswegs nötig sei, fragen wir weiter:

2. Wie läßt sich verhüten, daß immer mehr Menschen in den Wirrwarr hineingezogen werden, und durch welche Mittel könnte wohl die Zahl derer, die sichern Grund und Boden unter den Füßen haben und sich eines festumschriebnen Kreises von Besitzrechten erfreuen, wieder vermehrt werden? So lange aber eine große Anzahl unsrer Mitbürger mit ihrer Existenz dem Zufall preisgegeben bleibt, fragen wir wie die Kathedersozialisten:

3. Was kann und soll der Staat thun, um die unter diesen Umstanden mögliche Ausbeutung der Schwachen durch die Starken zu verhindern? Der Staat hat schlechterdings nicht notwendig, mit seinen Maßregeln zu warten, bis die Gelehrten entschieden haben werden, wie weit das Recht auf den vollen Arbeitsertrag gehe, und ob es für die Weber und Strumpfwirker bereits verwirklicht sei oder nicht. Sondern wie sich der König von Preußen, ohne Rücksicht auf die Ansprüche der Junker, durch den Bauernschutz die erforderliche Menge »Kerls,« Pferde und Steuern gesichert hat, so kann und soll das Vaterland heute noch ohne Rücksicht auf das Geschrei und Toben der Großindustriellen durch wirksamen Arbeiterschutz dafür sorgen, daß ihm seine Söhne in den Fabriken nicht verkümmern.


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