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Achtes Kapitel

Die Entstehung der großen Privatvermögen

In den vorhergehenden Kapiteln haben wir die Entwicklung der englischen und der deutschen Arbeit und ihre Ergebnisse skizzirt. Aus dieser Skizze hat sich ein Gesetz ergeben: dem ärmern Volke, also der Masse des Volkes, geht es wohl, so lange reichlich freier Grund und Boden vorhanden ist, oder anders ausgedrückt, so lange es dem Boden an Händen fehlt; kehrt sich das Verhältnis um, fehlt es den Händen an Boden, gleichviel ob infolge wirklicher Übervölkerung oder weil dem Volke durch Gewaltthat, die sich meist in Gesetze verkleidet, sein Land gesperrt wird, so ist das Volk elend. Außerdem haben wir eine für die Beurteilung der heutigen Lage wichtige Thatsache gefunden. Im Mittelalter entsprangen die Leiden der nordeuropäischen Völker der unvollkommen beherrschten Natur in einem kalten Klima. Sofern diese Völker solche Bequemlichkeiten entbehrten, die dem Menschen nicht an sich, sondern nur durch Gewohnheit oder Verwöhnung Bedürfnis sind, wurde solche Entbehrung gar nicht als Leiden empfunden. Was aber so empfunden wurde, z. B. die Winterkälte, für deren Abwehr man trotz großen Holzreichtums sehr unvollkommen gerüstet war, daraus entsprang kein sozialer Gegensatz, weil die Reichen diese Unbequemlichkeiten so gut zu tragen hatten wie die Armen, und weil die Zahl der Bequemlichkeiten und Genüsse, die die einen vor den andern voraus hatten, äußerst gering war. Die Lage des heutigen Armen ist weit schlimmer als die des mittelalterlichen, seine Wohnung ist oft schlechter, als die schmutzige Hütte eines leibeignen Knechtes war, oder er irrt obdachlos und ohne die Aussicht, am Abend im Kloster ein freundliches Obdach In den Asylen wimmelt das Strohlager gewöhnlich von Ungeziefer, Für die Wanderburschen ist das um so schlimmer, als sie keinen Ort haben, wo sie sich reinigen können. Die fahrenden Schüler des 15. und 16. Jahrhunderts setzten sich, im Sommer wenigstens, der Reihe nach an den ersten besten Fluß, zogen sich aus, wuschen ihre »Hemdlin,« und hatten dann wieder auf einige Zeit Ruh. zu finden, auf der Landstraße oder zwischen städtischen Palästen umher und muß dabei einen Luxus, eine Bequemlichkeit und einen Lebensgenuß der Reichen sehen, die das äußere Glück aller frühern Geschlechter überbieten und von dem eines spätern kaum werden überboten werden. Wird doch zu Gunsten des Reichen die Natur so vollkommen gebändigt und ausgenutzt, daß für ihn der Winter, der grimmigste Feind der Armen, die genußreichste aller Jahreszeiten ist, die saison κατ εξοκην. Große Volksnöte endlich, wie Seuchen und Teuerungen, erschienen im allgemeinen so deutlich als Wirkungen der Natur oder, wie man es damals auffaßte, als Strafen Gottes, daß die Einrichtungen von Staat und Gesellschaft nicht dafür verantwortlich gemacht wurden, nur allenfalls gegen die Juden schöpfte das Volk Verdacht; auch gingen mit ihnen selbst ihre Leiden rasch vorüber, während nicht selten gute Wirkungen, wie Steigerung des Arbeitslohns, zurückblieben. Daher gerieten die Massen niemals dauernd in eine gefährliche Stimmung wie heute, wo die schwächern Seelen unter den Armen schlapp und stumpf werden und ohne Gegenwehr in den Sumpf versinken, die kräftigern ohne Ausnahme von grimmigem Haß gegen die bestehende Ordnung und gegen die Reichen erfüllt sind; sondern wie bei Kindern, die zwar weinen, wenn sie Schläge bekommen, aber gleich darauf wieder lachen, war auch bei ihnen mit dem Ende der Plage sofort die fröhliche, lebenslustige und thatkräftige Stimmung wieder da.

Die Frage nun, ob das moderne Elend mit dem modernen Reichtum nicht allein im Kontrast, sondern auch im ursächlichen Zusammenhange steht, ob unsre Armen eben darum so arm sind, weil unsre Reichen so reich sind, ist eigentlich in jenen Kapiteln schon mittelbar beantwortet worden, sie muß aber doch noch besonders beleuchtet werden, weil auch in diesem Punkte die Versäumnis klarer Unterscheidung den Streit darüber unfruchtbar und endlos gemacht hat. An sich ist der Satz, daß der Reichtum der einen die Armut der andern sei, falsch. Denn da die Produktivität der Arbeit durch Arbeitsteilung erhöht wird, Differenzirung der sozialen Lage und der Vermögen aber eine unabwendbare Folge der Arbeitsteilung ist, so läßt es sich recht gut denken und kommt in Wirklichkeit oft genug vor, daß solche Differenzirung alle ohne Ausnahme bis zum ärmsten hinab bereichert. Obwohl der niederschlesische Bauernknecht nicht den zehnten Teil so reich ist wie sein Bauer und nicht den hundertsten Teil so reich wie der gnädige Herr im Dorfe, so ist er doch viel reicher und lebt nicht allein menschlicher, sondern auch sinnlich angenehmer, als der Häuptling einer Indianerhorde, deren Mitglieder sämtlich gleich arm sind. Aber die Anhäufung großer Privatreichtümer ist unter gewöhnlichen Umständen ohne einen Stand von Notleidenden nicht möglich, und sollen sie entstehen, so muß vorher ein Teil des Volks elend gemacht werden, Der Beweis dieser Behauptung bildet eigentlich den Kern des »Kapitals« von Marx. Dieser scharfsinnige Grübler hat den Gegnern des Sozialismus den großen Gefallen erwiesen, dem Elende der Philosophie, das er an Proudhon verspottet, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends« von Karl Marx. Deutsch von E. Bernstein und K. Kautsky. Mit Vorwort und Noten von Friedrich Engels. Zweite Auflage. Stuttgart, J. H. W. Dietz, 1892. – Die erste Auflage ist 1847 erschienen. Das Buch enthält nicht, was der Titel vermuten läßt, sondern nur die Kritik einiger Sätze des genannten Werkes von Proudhon. Angehängt sind eine Kritik des von John Bray, Proudhon und Rodbertus empfohlnen Arbeitsgeldes, das Marx für utopisch erklärt, und eine im Jahre 1849 zu Brüssel gehaltne Rede über den Freihandel, worin die englische Antikornzollliga erbärmlich schlecht wegkommt. selbst zu verfallen. Vielleicht darf er mit seinem Meister Hegel sagen: Nur einer hat mich verstanden, und dieser eine hat mich mißverstanden. Die beiden Hauptwahrheiten, die er entwickelt, sind eigentlich Gemeinplätze. Die eine sagt, daß der Arbeiter nicht den vollen Wert seiner Arbeitsleistung empfängt, sondern dem Brotherrn einen Teil abtreten muß. Das ist selbstverständlich. Kein Mensch würde ein solcher Narr sein, ein Rittergut zu bewirtschaften, wenn er den Leuten, die die Arbeit leisten, dem Inspektor, den Knechten, Mägden und Tagelöhnern, den gesamten Ertrag überlassen müßte; für einen Rittergutsbesitzer, der selbst nichts leistet, auch nicht in der Leitung und Beaufsichtigung, und solche giebts ja, würde nicht einmal ein Bissen Brot abfallen. Die praktisch wichtige Frage ist also nicht, ob der Arbeiter einen Abzug erleide, sondern ob dieser Abzug ungebührlich groß sei. Die zweite Wahrheit ist bei Lichte besehen keine andre, als die von Angebot und Nachfrage, oder genauer, daß das Gesetz von Angebot und Nachfrage auch für die beiden Waren: Arbeit und Boden gilt. Da außer diesen beiden Gesetzen noch andre Umstände in unbestimmbarer Menge und in beständigem Wechsel einerseits auf den Arbeitslohn, andrerseits auf den Preis des fertigen Produkts und den Profit des Fabrikanten einwirken, so ist der von Marx unternommne Versuch, das Verhältnis dieser drei Größen in einer allgemein giltigen mathematischen Formel auszudrücken, von vornherein aussichtslos und gewinnt auch dadurch nicht an Aussicht auf Erfolg, daß die Sache an einem andern Zipfel angegriffen wird. Marx stellt nämlich in den Mittelpunkt seiner Untersuchung die Begriffe des Werts und des Mehrwerts, d. h. des Wertteils, den der Arbeiter dem Fabrikat zum Vorteil des Fabrikanten zusetzt, indem er z. B. nicht bloß die sechs Stunden, in denen er seinen Lohn verdient, sondern zwölf oder mehr Stunden arbeitet. Wir bestreiten durchaus nicht, daß Marx durch seine theoretischen Untersuchungen die ökonomische Wissenschaft gefördert und u. a. auch Adam Smith in mehreren Punkten berichtigt habe. Aber Smith hat außer der größern Vollständigkeit vor Marx voraus, daß man ihn leicht versteht, und daß daher jeder unbefangne Leser auch die Schnitzer, die er macht, leicht bemerkt. Daher kann das Werk Smiths heute noch als Grundlage fürs volkswirtschaftliche Studium empfohlen werden, während das »Kapital« dazu schlechterdings nicht geeignet ist. Aus Smiths Werke kann auch der heutige Staatsmann das hauptsächlichste von dem, was uns in volkswirtschaftlicher Beziehung not thut, erfahren; dagegen müßten wir die zur Beseitigung wirtschaftlicher Notstände erforderlichen Maßregeln bis zum jüngsten Tage verschieben, wenn wir damit warten wollten, bis die Gelehrten Marxens Lehre vom Mehrwert ins Reine gebracht haben werden.

Dennoch hat sich Marx auch um die Praxis verdient gemacht, und zwar indem er seine Theorie durch eine sehr reichliche Beispielsammlung illustrirt. Wir haben einiges davon zur Veranschaulichung des Prozesses der Kapitalansammlung benutzt, und für unsre gegenwärtige Untersuchung finden wir eine ganz vortreffliche Grundlage in dem, was er am Schlusse des ersten Buches aus dem 1833 erschienenen Werke England and America von Wakefield anführt. Roscher nennt diesen Nationalökonomen »den geistvollen Theoretiker der Kolonisationsfrage.« Dagegen sagt Marx: »Die wenigen Lichtblicke Wakefields über (?) das Wesen der Kolonien selbst sind vollständig antizipirt durch Mirabeau père, die Physiokraten, und noch viel früher durch englische Ökonomen.« Aber er schreibt ihm ein andres Verdienst zu, und das ist in der That bedeutend: nämlich als Vertreter des Kapitalismus dessen Wesen erkannt und – ausgeplaudert zu haben. In den Kolonien hat Wakefield die Entdeckung gemacht, daß Geld und Maschinen an sich für den Eigentümer noch kein Kapital sind, sondern erst durch Arbeiter solches werden. Herr Peel, so erzählt er, nahm Produktionsmittel im Werte von 50000 Pfund aus England mit an den Swan River in Neuholland; er war allerdings auch noch so vorsichtig, außerdem 3000 Menschen der arbeitenden Klasse, Männer, Weiber und Kinder, mitzunehmen. Aber als die Karawane am Bestimmungsort angelangt war, liefen ihm die Leute sämtlich fort; nicht einmal einen Burschen, der ihm sein Bett gemacht und aus dem Flusse Wasser geholt hätte, vermochte er zu halten; damit war sein ganzes Kapital entwertet – kein Kapital mehr. Ähnlich, meint Wakefield, sind die Verhältnisse in den Kolonien überall. Das vorhandne Kapital ist als Eigentum vieler kleinen Besitzer zersplittert, und wer durch Sammlung kleiner Kapitalien Großkapital anhäufen, reich werden will, der kann die für diesen Prozeß notwendigen Arbeiter nicht bekommen oder wenigstens nicht festhalten. Denn weil es an Arbeitern fehlt, steht der Arbeitslohn natürlich hoch; so spart der Mann rasch eine kleine Summe, und kaum hat er sie, so läuft er davon, um von dem spottbilligen Lande ein Stück zu kaufen. So kommt es, klagt Wakefield, daß das amerikanische Volk größtenteils aus wohlhabenden, unternehmenden, gebildeten Bauern besteht, die außer der Landwirtschaft auch noch eine Menge Nebengewerbe betreiben, um sich mit dem Nötigen möglichst selbst zu versorgen und von der Industrie unabhängig zu bleiben, während das englische Volk größtenteils aus Arbeitern besteht und der Arbeiter a miserable wretch ist. »In welchem Lande – ruft Wakefield entrüstet aus – außer in Nordamerika und einigen neuen Kolonien übersteigen wohl die Löhne der ländlichen Arbeiter wesentlich das Existenzminimum? Werden doch in England die Ackerpferde, die ja wertvolle Besitzstücke sind, viel besser genährt als die Bebauer des Landes!« Um dieser traurigen Verfassung der Kolonien, wo Kapital nichts nützt und niemand rasch reich werden kann, gründlich abzuhelfen, macht er folgenden Vorschlag. Die Regierung soll das noch nicht okkupirte Land mit Beschlag belegen und einen künstlichen, von Angebot und Nachfrage unabhängigen Preis dafür machen, der die Arbeiter zwingt, längere Zeit zu arbeiten, ehe sie die zum Ankauf von Land erforderliche Summe zusammensparen. Mit den Verkaufsgeldern soll ein Fonds gegründet werden, aus dem die Kosten für Übersiedlung besitzloser Arbeiter aus England zu bestreiten wären. So soll durch Landverteuerung und gleichzeitige Vermehrung der Hände der Kapitalist in den Stand gesetzt werden, sein totes Kapital lebendig zu machen. Mit andern Worten: es soll Volkselend erzeugt werden, damit Privatreichtümer entstehen können, deren Gesamtheit dann mit dem schönen Worte »Nationalreichtum« bezeichnet zu werden pflegt. Da hätten wir also den von einem Vertreter des Kapitalismus geführten klaren und unwiderleglichen Beweis dafür, daß der Nationalreichtum im modernen Sinne gleichbedeutend ist mit Volkselend, ohne dieses gar nicht entstehen kann! Marx bemerkt hierzu noch, daß die englische Regierung den schlauen Rat eine Zeitlang befolgt habe, ohne andern Erfolg jedoch, als daß dadurch die englische Auswandrung von den englischen Kolonien in die Vereinigten Staaten abgelenkt worden sei. In diesen haben dann, wie bekannt, die Schutzzollpolitik, die Landverschenkungen an die Eisenbahngesellschaften und der fortwährende Zufluß besitzloser Auswandrer zusammengewirkt, das kapitalistische Ideal einigermaßen zu verwirklichen. Doch ist immerhin des fruchtbaren und auch an Mineralschätzen reichen Bodens noch so viel vorhanden, daß Kolossalreichtümer aufgehäuft werden konnten, ohne die Arbeiter bis zum englischen Elend herabzudrücken. Dazu kommt, daß trotz aller Erbärmlichkeit der politischen Verhältnisse die Demokratie doch noch kein leerer Schein und die Masse nicht ganz ohne Einfluß auf die Gesetzgebung ist. Demnach ist in den letzten Jahren die Einwandrung europäischer »Paupers« wesentlich erschwert worden, und man geht sogar, um den stetigen Fall der Arbeitslöhne zu hemmen, mit dem Plane um, die Einwandrung Mittelloser vorläufig auf fünf Jahre oder auch nur, unter dem Vorwande der Weltausstellung, auf ein Jahr ganz zu verbieten. Man denke! In einem Reiche, wo sieben Einwohner auf den Quadratkilometer kommen! während zu derselben Zeit bei uns, die wir einundneunzig Einwohner auf den Quadratkilometer haben, die mecklenburgischen und pommerschen Junker die Auswandrung erschweren oder womöglich verhindern möchten!

Um vollkommen klare Einsicht zu erlangen, müssen wir uns den Prozeß, der uns beschäftigt, im einzelnen vergegenwärtigen. Denken wir uns einen von lauter Kleinbauern bewohnten Gau, deren jeder zwanzig Morgen besitzt, dazu Anteil an der Gemeindetrift und am Gemeindewald hat; in der Mitte des Gaues eine Stadt, die das Landvolk mit gewerblichen und Handelsartikeln versorgt. Die zwanzig Morgen reichen hin, einerseits die Arbeitskraft der Bauernfamilie vollständig zu beschäftigen, andrerseits sie und eine städtische Familie mit Nahrung und Kleiderstoffen zu versorgen. Die Bauernfamilie genießt demnach aus der eignen Wirtschaft reichliche, gesunde und hinlänglich mannichfaltige Nahrung, denn außer dem Nötigsten fehlen weder Hühner, Tauben und Eier, noch Kraut und Rüben, ferner aus dem Gemeindebesitz das Material für Wohnung und Stauung, endlich aus dem Erlös ihres halben Arbeitsprodukts mannichfache Würze der Kost, Kleidung und Hausrat (wovon übrigens einiges aus eignen Rohstoffen daheim angefertigt wird) und das Geld für Steuern und außergewöhnliche Fälle; eine Kleinigkeit wird erspart werden können. Sämtliche Familien erfreuen sich also der Freiheit, Selbständigkeit und genügenden Behagens.

Denken wir uns nun die Besitzverhältnisse im Gau – vielleicht infolge verschiedner Tüchtigkeit und Umsicht der Besitzer – in der Weise verschoben, daß immer auf einen Bauer von hundertundzehn Morgen sechs Häusler von je fünf Morgen kommen. Weder kann der Bauer seinen Acker mit seiner Familie allein bewirtschaften, noch reicht eine Ackerhäuslerstelle zur Ernährung der Familie und zur Verwendung ihrer Arbeitskraft aus. Die Häuslerfamilien werden demnach auf dem Bauergute tagelöhnern, und ihre Söhne und Töchter werden als Gesinde darauf dienen. Denken wir uns ihre Leistungen nach Ackerflächen eingeteilt, so wird vielleicht die Arbeitsleistung jeder einzelnen Familie so groß sein wie vorher. Nämlich jede Häuslerfamilie wird außer ihrem eignen Felde noch fünfzehn Morgen des Bauerackers bestellen und abernten, und der Bauer wird die übrigen zwanzig Morgen besorgen. Es ist aber klar, daß der Häusler nicht den ganzen Ertrag der fünfzehn Morgen in Geld oder in Früchten mit nach Hause nehmen darf, sodaß er soviel Einkommen hätte, als gehörten ihm noch alle zwanzig Morgen; da würde ihm der Bauer lieber die fünfzehn Morgen gleich schenken; sondern er muß dem Bauer einen Teil seines Arbeitsertrages abtreten. Von dem Mehr nun, das seinem eignen Arbeitsprodukt die Abzüge von den Arbeitserträgen der sechs Tagelöhnerfamilien hinzufügen, kann sich der Bauer sein Haus größer und schöner bauen, es schöner ausstatten, einen Kutschwagen, allen Familiengliedern bessere Kleider, seinen Weibsleuten einigen Schmuck anschaffen, ab und zu ein Glas Wein trinken und einen Sohn studiren lassen. Die sechs Tagelöhnerfamilien sind in zwei Stücken schlechter dran als früher; sie sind nicht mehr alle 365 Tage im Jahre freie Leute, und ihr Einkommen hat sich um einige Prozente vermindert. In der Kost braucht diese Verminderung noch nicht zum Ausdruck zu kommen, beim Bauer alten Schlages haben Tagelöhner und Gesinde reichlich und gut zu essen; aber im übrigen wird man sich einschränken müssen, und namentlich der Sparpfennig wird kleiner ausfallen. Vorausgesetzt nämlich, daß das Ehepaar tüchtig und ohne eigne Verschuldung (z. B. durch Erbteilung) um Dreiviertel des angestammten Besitzes gekommen ist. Dann wird es diese Versetzung in eine tiefere soziale Klasse auch schmerzlich empfinden. Für einen schlechten Wirt dagegen oder einen dummen Menschen ist die Verringerung des Besitzes sogar ein Vorteil; denn als selbständiger Wirt würde er in Schulden geraten und seine Familie ins Elend stürzen, während er unter der Leitung des Bauern vielleicht ganz gut arbeitet und seine Familie versorgt ist.

Denken wir uns endlich eine dritte Stufe erreicht: einige Bauerngüter und einige Ackerhäuslerstellen sind zu einem Rittergute verschmolzen – daß auf diese Weise für gewöhnlich keine Rittergüter entstehen, wissen wir natürlich –, die frühern Besitzer sind besitzlose Tagelöhner geworden und finden ihren Lebensunterhalt beim Rittergutsbesitzer. Einige mögen ja auch dem Bauer frohnden, aber wir nehmen lieber den gnädigen Herrn vor. Denn der durchschnittliche Bauer denkt zu christlich, fühlt sich seinem Mitarbeiter zu menschlich nahe und hat sich noch zu wenig in die Rolle des kaufmännischen Unternehmers eingelebt, um seine Übermacht über den besitzlosen Arbeiter völlig auszunutzen. Der durchschnittliche Rittergutsbesitzer von heute thut das; er gewährt dem Arbeiter nicht einen Pfennig Lohn und nicht ein trocknes Stück Brot mehr, als er nach der Lage des Arbeitsmarktes gewähren muß. Es ist nun klar, daß der Besitzlose die angebotne Arbeit unter jeder Bedingung annehmen muß. Der Ackerhäusler hat sein Haus, seine Kartoffeln im Keller, seine Kuh und seine Speckseite in der Kammer; er kommt nicht gleich um, wenn er einmal ein paar Monate keine ihm zusagende Arbeit findet; der besitzlose Einlieger gerät gewöhnlich schon nach wenigen Wochen der Arbeitslosigkeit in die äußerste Not. Er kommt also durchschnittlich billiger zu stehen als der Ackerhäusler, oder was dasselbe ist, der Rittergutsbesitzer schlägt aus seinen Tagelöhnern mehr heraus als der Bauer aus den seinigen. Der hohe Ertrag also, den das Gut dem Rittergutsbesitzer abwirft, ihm selbst oder seiner anspruchsvollen Frau oder dem Herrn Sohne, der das Geld verkneipt, verspielt u. s. w., oder seinen Gläubigern, dieser hohe Ertrag also ist lediglich dem Umstande zu verdanken, daß es besitzlose, also elende Menschen im Lande giebt.

Trotzdem ist ein Rittergut, auf dem bloß Landwirtschaft betrieben wird, noch kein Platz, auf dem man schnell reich wird. Nach heutigem Maßstabe reich kann man überhaupt nicht drauf werden. Der Unterschied zwischen heute und dem Mittelalter besteht nur darin, daß die Besitzlosigkeit der ländlichen Arbeiter zusammen mit den höhern Lebensmittelpreisen, die wiederum die Not der industriellen Bevölkerung bedeuten, den potentiellen Reichtum des Landgutes aktuell gemacht haben. Der mittelalterliche Graf konnte zehn Quadratmeilen besitzen und doch bei bester Wirtschaft vielleicht nicht soviel Geld herausschlagen, als zum Bau eines schönen Schlosses oder auch nur zu einer Reise nach Italien erforderlich war; heute wirft manchmal schon eine Zehntelquadratmeile soviel ab. Man kann sich nicht mit Landwirtschaft ein Rittergut erarbeiten, sondern muß es schon haben, um das, was es abwirft, genießen zu können. Aber sobald der Gutsbesitzer zugleich Großindustrieller wird, kann er rasch reich werden.

Ein Beispiel aus der Wirklichkeit: Vor ungefähr fünfzig Jahren kaufte ein – sagen wir Geschäftsmann mit sehr mäßigen Mitteln ein kleines Dominium. Hier gründete er eine Spiritus- und Preßhefenfabrik. Da er die Konjunkturen auszunutzen verstand – namentlich die bedeutenden Exportprämien, also Unterstützungen aus dem Staatssäckel, spielten dabei eine bedeutende Rolle –, so sammelte er schnell ein bedeutendes Vermögen, das er teils in anderweitigen Industrien, teils in dazu gekauften Landgütern anlegte. Aus ihnen bildete später sein Sohn einen Fideikommiß und kaufte außerdem in einer andern Gegend noch eine Magnatenherrschaft, sodaß er seinen beiden Kindern zwei große Herrschaften hinterlassen konnte. Es ist klar, daß dieses große Vermögen nicht hätte begründet werden können, wenn es nicht besitzlose Arbeiter gegeben hätte, denn Leute, die Grund und Boden zu eigen haben, arbeiten nicht in einer Spiritusfabrik. Denken wir uns in der Nachbarschaft eines heutigen Rittergutes mit oder ohne Industrie durch ein Wunder etliche tausend Morgen Land frei werden, so geht es dem Besitzer wie Herrn Peel: alles läuft ihm fort und siedelt sich an; ihm bleibt weder ein Knecht, noch ein Tagelöhner, noch ein Brennereiarbeiter. So entstehen heute Magnatenherrschaften. In ältern Zeiten sind sie bekanntlich durch Eroberung, durch Konfiskationen, Bauernlegen u. s. w. entstanden. (Vereinzelte Fälle von Bauernlegen kommen noch heute vor. Die »Berliner Morgenzeitung« hat im Laufe des vorigen und des gegenwärtigen Jahres zwei aus Pommern mitgeteilt, mit Nennung der Namen und Anführung aller Einzelheiten, ohne widerlegt oder verklagt zu werden, den letzten in ihrer diesjährigen Nummer 5.)

Mit diesem Beispiele haben wir bereits in die zweite Klasse der großen Vermögen übergegriffen, die industriellen, bei denen wir uns nach dem, was wir über England gesagt haben, kurz fassen können. Alle Fabrikarbeit ist mehr oder weniger unangenehm, und fänden alle Menschen als Bauern oder Handwerker ihr Fortkommen, so hätte niemals eine Fabrik entstehen können. Nur die furchtbarste Not hat die englischen Handweber so weit bringen können, daß sie sich endlich zur Arbeit in den Spinn- und Webfabriken bequemt haben, und die sächsischen und schlesischen Handweber leisten der Nötigung zur Preisgebung ihrer Selbständigkeit bis auf den heutigen Tag heroischen Widerstand. Schon sehr heruntergekommen muß eine Bevölkerung sein, wenn eine Zuckerfabrik, eine Cellulosefabrik, eine Anilinfarbenfabrik, eine Galmei-, oder Arsenik-, oder Quecksilbergrube Arbeiter findet. Wo nicht schreckliche Not herrscht, kann niemand eine solche Industrie begründen, also auch nicht reich darin werden. Schon in ein Kohlen- oder Eisenbergwerk wird sich niemand ohne Not begraben. Im Mittelalter stand es anders um die Sache; da waren die Bergleute die Besitzer der Grube und durften durch ihre Arbeit wohlhabend oder gar reich zu werden hoffen; da verlockte also die Habsucht den Bauer, den Pflug und das himmlische Licht mit der Arbeit in schauerlicher Nacht zu vertauschen.

Aber keine Regel ohne Ausnahmen! Es kommen Fälle vor, wo ein Mann, der Erfinder- und Unternehmergenie verbindet, durch Schaffung eines neuen oder Pflege eines jungen Industriezweiges Reichtümer erwirbt, ohne des Elends zu bedürfen oder Elend zu erzeugen, ja vielleicht Tausenden zu bessern Arbeitsbedingungen verhilft, als sie bisher genossen. Das kommt jedoch nur bei Industrien vor, die hochbezahlte Artikel von hohem Gebrauchswert herstellen und zugleich starke, gesunde und intelligente Arbeiter erfordern. Die bekanntesten Vertreter dieser Art von Reichtumsbildung sind Borsig, Krupp und Edison. Heute können es beim Lokomotivenbau weder Unternehmer noch Arbeiter mehr so weit bringen, wie es Borsig und seine Leute gebracht haben, denn vor vierzig Jahren kostete eine Lokomotive 20000 Thaler, heut nur noch die Hälfte. Die Erzeugnisse der Herren Krupp, Armstrong und Bange sind, nebenbei bemerkt, trotz ihrer stark fühlbaren Körperlichkeit mysteriöser Natur. Wenn nämlich den Beteuerungen aller europäischen Regierungen, daß die Kriegsrüstungen nur die Erhaltung des Friedens zum Zweck haben, zu glauben ist, dann besteht ihr Gebrauchswert darin, durch ihr schreckliches Aussehen und Gekrach ihrem wirklichen Gebrauch vorzubeugen. Übrigens erscheinen auch jene Industrien, in denen die Arbeit unangenehm und der Lohn niedrig ist, zuweilen als ein Glück für die Bevölkerung, wenn nämlich die Lage der Landarbeiter sehr elend oder vielleicht sogar überhaupt keine Arbeit zu haben ist; sie erretten dann viele vom Hungertode und erhöhen durch die Konkurrenz den ländlichen Arbeitslohn.

Im Großhandel sind zu verschiednen Zeiten auf sehr verschiedne Weise große Vermögen entstanden. Dem gemeinen, mit Mord und Brand verbundnen Raub ist erst in unsrer Zeit durch die völkerrechtliche Abschaffung der Kaperei ein Ende gemacht worden. Im Altertum und Mittelalter kamen Handelsgewinne von 10000 Prozenten vor, ohne daß irgend jemand das Recht gehabt hätte, sich über Ausbeutung zu beklagen. Wenn dem Kaufmann im Altertume Bernstein, im Mittelalter Gewürz mit dem Hundertfachen des Einkaufspreises bezahlt wurden, so handelte es sich um Waren, die niemand unbedingt brauchte, und die man ohne die Findigkeit, Ausdauer und Kühnheit einzelner Seefahrer nicht hätte bekommen können. Beim heutigen Importhandel, namentlich dem mit Rhederei verbundnen, steht die Sache so, daß ihn niemand betreiben kann, der nicht schon reich ist, und wenn ein solcher Kaufmann seinem Kapital mehr als die landesüblichen Zinsen abgewinnt, so hat er das durch die hervorragende geistige Thätigkeit, die zur Leitung eines solchen Geschäfts nötig ist, und durch die Wohlthat, die er seinem Volke erweist, reichlich verdient. Die Thätigkeit des Exporteurs ist in Ländern, die größtenteils Industrieerzeugnisse ausführen, aufs engste mit der des Fabrikanten verbunden; sind doch häufig beide ein und dieselbe Person. Hier nun beruht der Gewinn um so mehr auf dem Volkselend, je weniger es sich um Luxuswaren handelt, zu deren Anfertigung individuelle Kunstfertigkeit und Kunstgeschmack erforderlich sind, oder um die oben erwähnten Erzeugnisse der höhern Metalltechnik, sondern um Artikel des Massenverbrauchs, die bloß Räder und Hände erfordern. Wir haben bei andrer Gelegenheit bereits den Umstand hervorgehoben, daß die »Blüte« der englischen Baumwollenindustrie, die einen so bedeutenden Teil des englischen Reichtums geschaffen hat, nicht allein das Elend des englischen, sondern noch das mehrerer andern Völker zur Voraussetzung hatte. Zuerst mußten durch billige Fabrikhände die englischen Handweber ausgehungert und zum Eintritt in die Fabrik gezwungen, gleichzeitig die Irländer und die Bewohner der Kolonien durch Gewaltmaßregeln an der Konkurrenz gehindert, dann alle Länder mit billigem Kattun überschwemmt und ihre Handweber ums Brot gebracht werden. Dr. Bowring, nicht etwa ein Sozialist, sondern ein Führer der Manchesterleute, den Marx (Elend der Philosophie, S. 180 ff.) zitirt, führte 1838 in einer Parlamentsrede Einzelheiten aus einem Bericht des Generalgouverneurs von Ostindien an. Eine sehr große Zahl von Webern des Distrikts von Dakka, heißt es darin, sei im Elend umgekommen. Wer ob seiner Schönheit und Festigkeit in der ganzen Welt berühmte Musselin von Dakka sei verschwunden; in der ganzen Geschichte der Industrie dürften kaum ähnliche Leiden zu finden sein, wie die der indischen Handweber. Wahrscheinlich ist es derselbe Bericht, worin der Satz vorkommt, den wir einer andern Schrift entnehmen: »Die Knochen der (verhungerten) Baumwollenweber bleichen in den Ebnen Indiens.« Im soliden Inlandshandel, der nach Adam Smith unendlich wichtiger und segensreicher ist als aller Auslandshandel, werden keine großen Reichtümer erworben. Vielleicht macht der Getreidehandel, der jedoch Inlands- und Auslandshandel zugleich ist, eine Ausnahme, seitdem er börsenmäßig betrieben wird, aber eben der Spielcharakter, der ihm dadurch aufgedrückt wird, scheint es mit sich zu bringen, daß die darin gewonnenen großen Summen schnell wieder zerrinnen.

Was das reine Geldgeschäft anlangt, so sagt Wolf: S. 537. Es ist der Anfangssatz einer sehr guten Skizze: »Aus der Geschichte der Groß-, insbesondre der Kolossalvermögen.« Leider hat der Verfasser in seiner Übersicht der Endergebnisse gerade den wichtigsten Punkt: den ursächlichen Zusammenhang zwischen Kolossalreichtum und Volkselend übergangen, obwohl ihn schon gleich sein oben angeführter erster Satz gewissermaßen mit der Nase darauf gestoßen hatte. »Die am frühesten auftretende Form des Erwerbs von Großvermögen ist die durch Auswucherung von Stammesgenossen.« Mit Beziehung auf die großen Vermögen, die heute an der Börse gewonnen werden, gesteht er zu: »Auch die eigentliche Konjunktur, d. h. das divinatorische Erkennen einer herannahenden günstigen Preisstellung, ist die reguläre Quelle mindestens der Kolossalvermögen an der Börse nicht gewesen, sondern es war entweder eine Aktion, die den Thatbestand des Wuchers nach moderner Auffassung in sich trägt, oder die Berichtigung des Kurses mit den Mitteln, sie durchzusetzen.« Da nun aber der Wucher nichts andres ist, als die Ausnutzung der Not des Nächsten zu eignem Vorteil, so folgt aus dieser Charakteristik dieser Art von Vermögensbildung, daß sie die Not voraussetzt; hat der Spekulant für seine Zwecke die Notlage erst zu schaffen – um so schlimmer für diese Vermögen!

In die schwierige Frage, ob die Haute Finance, deren wahres Wesen in der deutschen Gründerei von 1871 bis 1873 und im französischen Panamaskandal auch dem Blindesten offenbar geworden sein muß, eine für Volk und Staat notwendige Funktion ausübe, um deren willen man sich die von ihr untrennbaren Auswüchse gefallen lassen müsse, gehen wir hier nicht ein. »Die städtische Grundrente, sagt Wolf, ist die in gewissem Sinne höchststehende Varietät des Konjekturaleinkommens, weil sie die Gefahr der Niete weit mehr ausschließt als jede andre Konjunktur.« Als Beispiele für die durch steigende städtische Grundrente erworbnen oder sozusagen von selbst gewordnen Kolossalvermögen führt er die Astors an und den Herzog von Westminster, von dem es heißt, »daß er demnächst auf ein Jahreseinkommen von 25 Millionen Franken werde rechnen können. Das ihm gehörige Land, im Herzen Londons, wird heute den Hauseigentümern zu horrenden, aber den Verhältnissen angemessenen Preisen vermietet.« Von allen Arten Wucher, das unterläßt Wolf zu sagen, ist dieser wohl der schlimmste. Viele tausend Familien zwingen, den dritten Teil ihres kärglichen, ungewissen und sauer, zum Teil durch körperlich und sittlich schmutzigen Erwerb verdienten Einkommens für eine Wohnung zu zahlen, die oft gar keine menschliche Wohnung mehr ist, was kann es niederträchtigeres geben? Aber, wird ein solcher Herr sagen, wer zwingt sie denn? Ich doch nicht! Sie gebens ja freiwillig, sie reißen sich drum. Ja freilich, nachdem man das Volk in eine Lage versetzt hat, wo es »freiwillig« die unglaublichsten Entbehrungen erdulden muß. Vortrefflich hat Luther den Wucherer charakterisirt, indem er ihn dem Cacus, diesem Bösewicht, vergleicht, der die geraubten Rinder rücklings in seine Höhle zieht; »also will der Wucherer auch die Welt äffen, als nütze er und gebe der Welt Ochsen, so er sie doch zu sich allein reißt und frißt.« Sollte diese Charakteristik nicht auf die ganze Haute Finance, auf die Vorschußvereine und viele andre »gemeinnützige und wohlthätige« Geldanstalten passen?

In einzelnen Fällen setzen Natur und Glück einen Menschen in den Stand, rasch reich zu werden ohne die mindeste Schädigung andrer und auf eine Weise, die nicht Elend, sondern Reichtum voraussetzt. Wer ein großes Weingut im Rheingau ererbt hat, dem schüttet die Natur Reichtümer in den Schoß. Denn die echte Blume des Johannesberges läßt sich nicht künstlich erzeugen, und wenn es viele reiche Leute giebt, die sie genießen wollen, so treibt ihr konkurrirendes Angebot den Preis des nur in beschränkter Menge vorhandnen edlen Getränks in die Höhe. Jede große Sängerin ist nur in einem Exemplar vorhanden, weder teilbar noch künstlich zu vervielfältigen, und die reichen Leute verschiedner Städte, die sie hören wollen, überbieten einander natürlich; verkauft sie ihre Stimme den Meistbietenden, so begeht sie an keinem ein Unrecht, und von Not ist überhaupt keine Rede. Insofern allerdings stehen die hohen Einnahmen berühmter Künstler und Künstlerinnen mit der Not einigermaßen im Zusammenhange, als die großen Vermögen der Personen, die für Gemälde und Eintrittskarten Phantasiepreise bezahlen, zum Teil aus der Not des Volks geflossen sind. Übrigens gehören die ansehnlichen Vermögen, die einige berühmte Maler, Schriftsteller und Opernsängerinnen gesammelt haben, nach heutigem Maßstäbe noch nicht zu den großen.

Wir sehen, um den Zusammenhang zwischen Volkselend und Nationalreichtum zu erfassen, bedarf es weder der Hegelschen Philosophie noch der höhern Mathematik, sondern nur eines Blickes ins Leben. Will man die Rechenkunst zu Hilfe nehmen, so genügt es, sich das Volksvermögen, oder lieber noch das Volkseinkommen, unter die Volksgenossen auf verschiedne Weise verteilt zu denken. Stellt man sich zuerst vor, daß alle gleich viel haben, und läßt man dann größere Einkommen durch Abzüge an den Einkommen der übrigen entstehen, so ist es doch klar, daß, je mehr ich die Reichtümer einzelner will anschwellen lassen, die Zahl derer, denen abgezogen wird, und die Abzüge selbst desto größer machen muß. Daß die durch solche Verteilung verminderten Einkommen an sich zum Leben zu klein, ihre Inhaber also elend seien, ist nicht unbedingt notwendig. Der Nationalreichtum kann so groß sein, daß nur Einschränkung des freien Erwerbs, noch nicht positives Elend zur Bildung von Kolossaleinkommen erfordert wird. Das ist jedoch nur möglich, wo, wie in Nordamerika, die Natur den größern und die menschliche Arbeit den kleinern Teil des Einkommens liefert. Wo dagegen, wie in England und bei uns, die menschliche Arbeit allein den Reichtum liefern muß – durch Schaffung von Industrieartikeln für die Ausfuhr –, da können die Privatreichtümer nur aus dem Volkselend gezogen werden.

Man sieht also: die Landfrage bleibt die Kernfrage. Zwar kann ein Volk infolge seiner Untüchtigkeit auch bei reichlichem Landbesitz elend bleiben, wie wir am russischen sehen, aber fehlt es einem Volke an Land, so hilft ihm alle Tüchtigkeit nichts, es kann dem Elend nicht entrinnen, und mag es auch durch Knechtung und Aussaugung andrer Völker großen Nationalreichtum aufhäufen. Adam Smith, der alle Lebensverhältnisse, so weit sie zu seiner Zeit bestanden, mit gesundem Blick durchschaute, und was er erkannt hatte, mit unbestechlicher Wahrheitsliebe kund that, äußert sich darüber u. a. folgendermaßen: Zwar ist England reicher als Nordamerika, aber trotzdem befindet sich das Volk in Nordamerika wohler als in England, weil dort das Land billig und der Arbeitslohn hoch ist. Und die Sache von einer andern Seite fassend, sagt er: Nicht die reichsten Völker befinden sich am wohlsten, sondern die reicher werdenden, die fortschreitenden; ein fortschreitendes Volk lebt glücklich, ein stagnirendes fühlt sich gedrückt, eins, das wirtschaftlich zurückkommt, befindet sich elend. Wirkliche Fortschritte im Wohlstand kann aber ein Volk nur bei hinreichendem Boden machen. Rogers drückt die Sache so aus: Am glücklichsten lebt ein Volk, wenn der Boden keine Grundrente abwirft. Über das Sinken der Grundrente klagen, heißt über die Verminderung der Reibung im Räderwerk der Gesellschaft klagen. Gegen die Natur kämpfen, ist stets Wahnsinn, Landrente ist aber nur in dem Sinne Natur, wie Schmutz, Krankheit und Elend Natur sind. Die höchste Rente liefern die Unwissenheit und das Laster, und der (englische) Großgrundbesitzer, der diese Übel befördert und ausbeutet, ist der unverschämteste aller Heuchler. Dieselbe Auffassung finden wir bei dem Italiener Loria. »So lange sich freier Boden vorfindet, ist das Einkommen mit der Arbeit verbunden, und wird es unter die Arbeiter nach der Menge der von jedem verrichteten Arbeit geteilt; wenn der freie Boden aufhört, wird es von der Arbeit getrennt, der Arbeiter muß sich mit dem Lohne begnügen, und das Einkommen fällt dem Nichtarbeiter zu.« Die theoretische Nationalökonomie Italiens in neuester Zeit von Dr. Hermann von Schullern-Schrattenhofen (Leipzig, Duncker und Humblot, 1891) S. 140 Marx endlich, der trotz seines Hegeltums bei der Beurteilung praktischer Verhältnisse gewöhnlich den Nagel auf den Kopf trifft, meint: »Grundrente entsteht, wenn sich der kleine Souverän in einen gewöhnlichen Wucherer verwandelt« (Elend der Philosophie S. 146).


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