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Im Zeichen des Hammers

Gleich dem düsteren Blutmeer, in dem die Sonne um Mittwinterzeit versinkt, gleich den langen, schwarzen Nächten des Nordens war Hvidbjörns Schmerz.

Menschenalter vergingen, eh sein Gemüt wieder heller ward; und in all der Zeit, solang das Dunkel über seiner Seele lag, fuhr er durchs Land als ein furchtbarer Rächer. Die ganze Steppe war voll Mord und Brand; weit und breit donnerte Hvidbjörn umher auf seinem Wagen, der zum sicheren Todesboten geworden war, begleitet von seinen blitzraschen Söhnen zu Pferd. Und wohin er kam, wanden erschlagene Grävlinger sich auf seiner Spur. Er schwang den großen Steinhammer, der ihm dereinst friedlich zum Schiffbau gedient hatte; er ließ ihn nicht in der Wunde stecken, er riß ihn wieder empor und schwang ihn frei in der Hand, während er weiterjagte, weiter! Auf und nieder fuhr er, und die Grävlinger sanken um hinter den wirbelnden Rädern. Meilenweit im Umkreis machte Hvidbjörn das Land zur Einöde, räucherte die Grävlinger aus dem Gestrüpp aus, erlegte sie herdenweise. Alles, was Wald oder Schlupfwinkel hieß, ward in Asche gelegt, ausgebrannt, und schwarz lag die Steppe, soweit das Auge sah. Wie die Geißel des Winters lag es über der ganzen Erde; kein Sproß ward geschont; wie Blätter in schneidendem Frostwind fegten die Grävlinger von den Bäumen.

Aber Rache und Mord vermochten auf die Länge den Schaden nicht zu sühnen. Es sättigte Hvidbjörns Augen nicht, wenn er sah, wie das Todesschauern über das Antlitz der Elenden lief, die er gerichtet hatte und die doch nicht wußten, was ihr Verbrechen war. Er begriff, daß die Grävlinger in einer tiefen Unwissenheit gehandelt hatten. Sie hatten einfach dem Gesetz ihrer Natur gehorcht, und der Hauptfehler lag an ihm – an ihm, der sich nicht dagegen gesichert hatte. Es war ihm ergangen wie einem, der im Wald den Wolf aus einer Falle befreit und ihn im nächsten Augenblicke an der Kehle fühlt. Waldgeschöpfe waren es, die nicht denken konnten, die kein Erinnern kannten. Ohne jede Vernunft war die Untat begangen worden – aus einem Bedürfnis des Augenblicks heraus. Und jetzt schon hatten sie die Schuld vergessen und das Ganze erschien ihnen nur so, als ob er angefangen und von Ewigkeit her als ein Massenmörder unter ihnen gewütet hätte. Kein anderes Empfinden als ein stummer Haß; sie wußten nicht einmal was es hieß: sterben, obgleich sie feig genug waren. Er blickte in Augen, die nichts widerspiegelten als den blanken Haß, wenn er ihnen das Urteil sprach, nichts als die gedankenlose, zeitlose Schuldlosigkeit der Tiere, bis er mit dem Hammer ihnen ihr Hirn auf die Erde spritzte. Schließlich konnte er gar nicht mehr zuschlagen. Sie waren die vielen. Sie waren ja wohl im Recht.

Und noch etwas kam, das stärker war als Hvidbjörn. Fern im Osten stieß er endlich auf den Trupp, der seine beiden erwachsenen Töchter mit sich fortgeführt hatte. Schon sah er den Himmel rot, Rache und Würgen lagen in der Luft. Da mußte Hvidbjörn erleben, daß seine und Vaars weißarmige Kinder, sein eigen Fleisch und Blut, vor ihm niederfielen und für die Räuber flehten, die sie vergewaltigt und fortgeschleppt hatten. Da weinte Hvidbjörn und machte Frieden.

Er ließ ab von der Wiedervergeltung und zog heimwärts, saß monatelang tatenlos herum, stumm klagend wie der Laubwald im Herbst. Sein Haar ward weiß. Aber Überlegung und Baulust kehrten zurück. Und nach und nach hatte er sich durchgerungen und sein und der Grävlinger Schicksal bestimmt.

Vaar und die zwei Kinder lagen in dem Haus, das Hvidbjörn erbaut hatte. Er häufte Erde auf sie und errichtete einen großen Hügel darüber. Er selber schlug sein Lager am Strand, in einem Wald mit großen Bäumen, mehr südwärts zu, auf; und hier baute er ein neues Schiff. Es ward von so gewaltiger Breite und Länge, daß die neugierigen Grävlinger, die sich nach und nach dem Wohnplatz scheu wieder näherten, sich viel Kopfzerbrechens darüber machten, wie Hvidbjörn es anfangen wollte, ein so großes Schiff auf dem Wasser fortzubewegen. Im Steven setzte Hvidbjörn einen Drachenkopf auf, der auf die See hinauszüngelte und ein stummes, unheimliches Lachen zu lachen schien.

Aber als das Schiff fertig war, mit Ruderbänken für noch zwanzig Mann mehr als Hvidbjörn und seine Söhne, ging er eines Tages an Land und holte sich zwanzig Grävlinger, junge, kräftige Männer, und führte sie gefesselt auf das Schiff. An jedem Sitz war ein kupferner Bügel, den er am Fuß jedes Gefangenen befestigte. Sie machten sich auf den Tod gefaßt. Aber Hvidbjörn gab ihnen zu essen und sorgte so gut für sie, daß sie die Augen niederschlugen. Dann befahl er ihnen, die Ruder zu nehmen und zu rudern. Und jetzt fingen sie an zu verstehen, wie Hvidbjörn sein Schiff vorwärts zu bewegen gedachte.

Nach und nach, als das Heimweh kam, und sie Vergleiche anstellten zwischen dem Hundeleben auf der Steppe und ihrem jetzigen, recht sorgenlosen Dasein, unter Seufzen nach dem Früher und der Verringerung ihrer Arbeitskraft, munterte Hvidbjörn sie auf, indem er von ihrer Körperkraft sprach und ihnen ein baldiges Abendessen in Aussicht stellte. Sie waren ungeheuer stolz auf ihre starken Arme, die sie vom Rudern bekamen, und zeigten, wenn Hvidbjörn sie lobte, alle ihre Zähne in einem gerührten Grinsen. Das Nachtessen war auch eine ganz besonders gute Mahlzeit; um die konnte man schon jeden Tag noch ein Stündchen seine Kraft einsetzen.

Die Grävlinger wurden gute Ruderknechte. Es ging ihnen nichts ab. Hvidbjörn nahm eine Anzahl ihrer Weiber an Bord, um sie recht heimisch zu machen und, wenn es notwendig wäre, unterwegs mehr Mannschaft zuzulegen.

Außerdem schaffte Hvidbjörn alles, was zu seinem Leben gehörte, an Bord des geräumigen Schiffes – Wagen, Pferde, Rinder, Heu und Getreide und alles, was er an Fellen und Werkzeugen, an Kupfer und Waffen besaß. Auf einem Herd hinten im Schiff brannte das Feuer, das Hvidbjörn nach Belieben auslöschen oder wieder anzünden konnte. Die Ordnung auf dem Schiff war so, daß Hvidbjörn hinten am großen Steuer stand, während die Gefangenen ruderten; im Vorderraum hausten seine Söhne, und schauten, immer die Waffen in der Hand, nach Land aus. So zogen sie hinaus aufs Meer.

Und dieses Schiff mit allem, was darin war, mit allem, was es selbst war, trieb nun in Wind und Wogen, in seiner ihm innewohnenden eigenen Kraft dahin wie eine kleine lebendige Insel, ein Urbild des Aufblühens der Kräfte im Widerstand; und die Furchen, die es zog, die sich vom Gletscher aus über Europa und später über alle Meere ausbreiteten, erweiterten sich schließlich zu etwas, was mit der Zeit die Sozial-Ordnung des weißen Mannes ward.

Aber in Livland zurück blieb Hvidbjörns ältester Sohn Varg. Er hatte eine der Töchter der Grävlinger zu sich genommen, ein braunes, sprühendes Steppenmädchen, und wollte im Lande bleiben und mit ihr sein Schicksal teilen. Von ihnen und von Hvidbjörns beiden weißen Töchtern, die eingeborene Männer nahmen, stammte ein großes Volk ab, das zu Wagen und zu Pferd über den Osten und Süden zog.

Hvidbjörn segelte so lang unter dem Nordstern auf dem Meer, bis das Heimweh ihn packte nach Upland, wo er, in der Sehnsucht nach der Ferne, den besten Teil seines Lebens gelebt hatte. Er mußte die Stätte wiedersehen, wo Vaars erste goldene Äcker im Sommerwind gewogt hatten gleich ihrem üppigen Haar. Und er fand den Weg, indem er dem feuerspeienden Berg nachsteuerte, dessen Rauch ihm des Tages winkte, während die Glut des Gipfels am Himmel ihn des Nachts leitete.

In Upland blieb Hvidbjörn. Die Schmelzwasser des Gletschers hatten sich längst verlaufen, und das Land stand in lichtem Grün und jungem Wald, die überall die nassen Schuttbänke und Bergfurchen bekleideten. Die tiefen Kessel, die der Gletscher an vielen Stellen im Felsgrund zurückgelassen hatte, standen randvoll von klarem Wasser, so daß man den glattgeschliffenen Fels, der da unten den Grund gemahlen hatte, still in der Tiefe ruhen und sich mit Moos bedecken sah. Kleine Wassermolche mit gesprenkeltem Bauch lebten hier, als hätte es nie eine andere Welt gegeben. Aber selbst an heißen Sommertagen traf manchmal ein grabeskalter Hauch das Gesicht, ein Hauch von jahrhundertaltem Eis, das noch, geschützt durch eine Lage Schutt, in einer oder der andern Schlucht im Norden lag.

Der Wald war voll von Getier, das mit Ewigkeitsblick von heimlichen Pfaden zwischen den Bäumen herausspähte, als wäre es immer dagewesen. Die Tannen schwitzten in der Mittagshitze Harz aus und dufteten von der Zeit, da sie noch Tropenbäume waren. Espen, Birken und Vogelbeerbäume flüsterten mit bedeutungsvoll winkendem Laub einander vom verlorenen Land zu. Hier gerade unter uns, sagten sie und schüttelten allwissend die Häupter. Aber im Gesträuch duftete, mit feinerer Süße, als Wälder sie je gekannt hatten, mit der heimlichen und reichen Innerlichkeit des nordischen Sommers, die Himbeere.

Bienen summten emsig und sammelten Honig aus Blüten, die nur den Sommer lang lebten, die sich aber erhöhte Seele tranken aus dem Moder, den der Gletscher aus dem urkräftigen Innern der Berge gemahlen und mit dem sich alle feuchten Launen des Himmels, Frost, Regen und Sonnenbrand zu einem Brei vereinigt hatten. Moos und Flechten, von den Winden des Himmels hergetragen, bekleideten den nackten, rissigen Felsen, Zugvögel flogen mit Samen übers Land oder kamen wie eine Federwolke im starken Septemberwind übers Meer gesegelt und das Land stand in neuen, grünen Gewändern.

In jeder Spalte des harten Gebirgs stand ein Gras oder eine winzige, würzig duftende Blume. Und in jedem Blumenkelch wälzten summende Bienen ihren kleinen, haarigen Koboldkörper; und wenn sie weitergeflogen waren, nickte die Blume ein- oder zweimal, brachte ihr Unterröckchen in Ordnung und blinzelte weiter zur Sonne empor.

Hvidbjörn braute sich aus dem Honig einen Trank, der ihm berauschend zu Kopf stieg, als belausche er ein Liebesumarmen zwischen der Sonne und den nackt-duftenden Wurzeln südlicher Hänge.

Wenn er, trunken von Met, warm bis ins Mark, auf den Steinfliesen lag, die die Sonne glühendheiß gebrannt hatte, und emporblickte nach dem Bienenschwarm, der gleich einer großen schwebenden Kugel vor der Sonne hing, sich ausdehnend und wieder zusammenziehend, und wie ein feuriges Lied in den Himmel summte, da kehrte das verlorene Land und noch eine ganze Welt dazu ihm wieder. Endlich war Hvidbjörn da, von wo er gekommen war.

Er ließ die Jahre verrinnen. Er sah die Uplandswälder an, ob sie Holz geben würden zum Schiffbau. Die Bäume waren noch jung, noch nicht zu brauchen. Aber Wald genug würde hier sein für seine Nachkommen zu Flößen und ganzen Heerscharen von Schiffen. Und die jungen, glattrindigen Bäume wiegten sich schon, als wüßten sie, daß sie dereinst Kiele werden würden, die das äußerste Meer befuhren.

Hvidbjörn selbst war froh des Stillsitzens. Er ließ sein Schiff ans Land ziehen, wälzte es um, daß der Kiel in die Luft ragte und baute es zu einer Halle aus. Und das war das erste gotische Bauwerk. Späterhin, wenn Hvidbjörns Nachkommen ein neues Land fanden und seßhaft wurden, machten sie ihre Schiffe zu Hallen und setzten unter ihren Wölbungen ihre Fahrten fort, in einem anderen, geistigen Sinn.

Hvidbjörn zog hinauf nach der Insel, die vom Gletscher eingeschlossen gewesen war, und fand sein Volk wieder. Viele der Drengsöhne waren im Taubruch umgekommen; aber die übrigen lebten noch in ganz derselben Verfassung wie zu der Zeit, als Hvidbjörn ausgestoßen ward. Jetzt kam er zurück, zu Wagen, mit Hammer und Feuer und Schiffen hinter sich an der Küste; und seine Genossen, die sich seiner noch erinnerten, reute die alte Geschichte.

Hvidbjörn setzte die Garminger ab. Er gebot dem Gletschervolk, sich auszubreiten. Sie hausten auf einer Insel, die längst keine Insel mehr war; auf allen Seiten stand die Welt offen. Aber sie hatten keinen Mann, der ihnen zeigte, daß die Grenze in ihnen selber lag. Hvidbjörn zeigte es ihnen.

Und damit sie nicht länger fortfahren sollten, sich um Allvaters Grab zu drängen, gab Hvidbjörn ihnen ein neues Zeichen – das feuergebärende Rad. Das Heiligtum selbst errichtete er in Upland, mit dem offenen Meer als Grenze nach der einen Seite hin. Er führte große Opfer für die wiederkehrende Frühlingssonne ein, in deren Feuer er dem Gletschervolk den alten Einäugigen zu verehren gebot.

Die Jungen sollten, so wünschte er, reisen, wie er selbst es dereinst getan hatte. Aber er selber blieb jetzt daheim und gründete ein Reich, dessen Geist sich den Jungen einprägen sollte, damit sie sich erinnerten, woher sie stammten, und so die Schiffe der weißen Männer immer weiter in die Fremde führten.

Und das Gletschervolk sammelte sich im Zeichen des Feuerrads und des Hammers um Hvidbjörn. Einige von ihnen zogen nach ihrer Befreiung über die Berge und gründeten Norwegen; andere ließen sich bei Hvidbjörn an der Küste nieder und lernten Ackerbau. Späterhin fanden die jungen Leute den Weg nach England, Dänemark und Deutschland und zum Mittelmeer, machten die Wasser rings um Europa schiffbar, breiteten sich aus – und hielten zusammen.

In seinen letzten hohen Jahren beschäftigte sich Hvidbjörn viel mit der Beobachtung der Himmelskörper. Er ward kundiger der Tage des Jahres und der Sterne als irgendein anderer Mensch zuvor, und er vererbte sein Wissen auf seine Söhne. Ihr Geheimnis sollte es sein, und keines andern, daß sie stets mit Hilfe der Jahreszeiten die Stellung der Sonne voraussagen und dem Volk darnach Rats zu erteilen vermochten.

Im übrigen suchte Hvidbjörn keineswegs seine Macht durch geheime und dunkle Wissenschaften zu befestigen, solang er noch bei Kräften war. Die Kunst, Feuer zu machen, wie er sie eingeführt hatte, war offenkundig und jedermanns Eigentum; er wollte nicht, daß sie zur Abhängigkeit andrer mißbraucht werden sollte. Aber das Feuerrad in den Händen jedes einzelnen machte er zu einem Heiligtum, als Zeichen ewiger Dankbarkeit gegen Erde und Sonne und als Sinnbild der Fruchtbarkeit. Seinen eigenen Einfluß wahrte sich Hvidbjörn mit Hilfe des Hammers und seiner allmächtigen Hand.

In einer müßigen Stunde verfaßte Hvidbjörn seine Lebensbeschreibung und hieb sie für alle Ewigkeit in die Erde ein, in eine Platte des Urfelsens, die der Gletscher glatt geschliffen hatte: das erste Bild. Die Beschreibung umfaßte zwei Zeichen, deren eines ein Schiff und deren anderes ein Rad vorstellen sollte. Das war der Anfang von Kunst und Literatur.

Solang er den Gebrauch seiner Augen hatte, fuhr Hvidbjörn fort, in Holz und Metall zu arbeiten. Mit Liebe hing er an seinen Steinwerkzeugen, die ihm so trefflich gedient hatten; aber in müßigen Stunden beschäftigte er sich doch voller Neugier mit dem Kupfer und anderen neuen Dingen, die die Söhne von Osten heimbrachten, erprobte alles im Feuer und merkte sich die Natur des verschiedenen Materials. Einmal brachte Varg bei einem Besuch einen großen Klumpen eines neuen, auffallenden Materials aus dem Osten heim und legte ihn in die Hand des Alten; es war noch lang, eh die Verwendung des Kupfers allgemein wurde. Hvidbjörn hielt den Klumpen mit grade ausgestrecktem Arm vor sich hin und besah ihn sich genau, wog ihn und befühlte ihn mit seinen großen, narbigen Fingern. Es war ein Metall von kaltem, bläulichem Glanz, etwas wie Eis, sehr schwer. Dem Ritzen mit einem Stein widerstand es. Hvidbjörn führte es an die Lippen. Es schmeckte bitter und rauh, wie das Meer. Er roch daran; es roch wie Blut. Und Hvidbjörn verfiel in tiefes Sinnen. Das war das Eisen.

Von diesem Stück Eisen schmiedete sich Hvidbjörn einen Hammer und ward zum erstenmal seiner alten, erprobten Steinwaffe untreu. Er war noch immer so stark, daß er mit einem Schlag seines Eisenhammers ein Pferd auf der Stelle vor dem Opferstein, wo es stand, töten konnte, und zwar so, daß das Stirnbein keinen einzigen Splitter aufwies.

Aber als ihm die Weisheit des Alters kam, fühlte er, daß das Volk das Bedürfnis haben würde, sich vor seiner Macht zu beugen, auch wenn sie nicht mehr war; und diese Einsicht in das menschliche Herz, so wie es nun einmal war, gab seinen klugen Händen noch einmal Arbeit.

Hvidbjörn hielt sich fast immer in der Halle auf, die ziemlich dämmrig war; hier war man gewöhnt, seine große Gestalt undeutlich zu erblicken und ihm die Ehrfurcht zu bezeugen, die ihm und seinem Hammer zukam. Hvidbjörn hieb jetzt in aller Stille ein Stück Baumstamm zu einem ihm selber annähernd ähnlichen Bild aus, gab ihm seinen Hammer in die Hand und stellte es im Dunkel, im Hintergrund der Halle, auf, an der Stelle, wo er selbst sich zu zeigen pflegte. Er hatte auch wirklich die Genugtuung, zu sehen, daß das Volk sich ebenso ehrfurchtsvoll vor dem Schein beugte, wie vor der Wirklichkeit. Da lachte der Alte in seinen weißen Bart, voller Stolz ob der Arbeit seiner Hände … und auch noch von einem andern, lustigen und grausamen Kennergedanken gekitzelt.

Und er ließ Ruhe über sich fallen.

Von dieser Zeit an, da er sich nicht mehr vor dem Heiligtum blicken ließ, gewöhnte man sich daran, ihn drin, im Dämmer, mit hochaufgehobenem Hammer zu erblicken; und sein ältester Sohn, der einzige, der eingeweiht war, sprengte bei den Opfern das Blut zu ihm hinein und brachte dem Volk den Gruß des alten Wagenlenkers und Seefahrers.

Hvidbjörn, der mehr als jeder andere Mensch gewesen war, ward von den Bewohnern des Nordens als Gott verehrt, und viele Beinamen wurden ihm zugelegt: der Donnerer, der Hammerschwinger, der Wahrsager. – Und man wies ihm einen Platz im Himmel an dicht neben dem alten Einäugigen. Aber ihr Blut floß lebendig in den Adern des Geschlechts. Von Dreng, der sich im Widerstand nicht beugen konnte, und von seinen Nachkommen durch Hvidbjörn, dem Vater des offenen Kampfs, stammen alle Könige und Bauern ab.

Das Volk im Norden ward groß in Ackerbau und Schiffahrt. Sie holten sich Sklaven aus dem Osten und hausten Jahrhunderte lang mit ihnen zusammen. Im Lauf der Zeiten kreuzten und mischten sie sich zu einem Volk; aber immer blieb eine Grenze, wenn sie auch aus derselben Wurzel stammten; die Grenze, die der Gletscher gezogen hatte, ein einschneidender Unterschied in den Stufen der Entwicklung. Die einen hatten nun einmal den Vorsprung; und es war ihr Schicksal, daß sie die Vergangenheit immer mit sich schleppen mußten; und die andern rangen ständig unter der Unmöglichkeit, sich zur Höhe der andern aufzuschwingen, was doch ihr ganzer Ehrgeiz war. Von Freien und von Gefangenen und von ihren vermischten Nachkommen, von ins Joch gespannten Arbeitern mit der Seele freier Männer und von gestrengen Herren mit Sklavengesinnung stammen die Bevölkerungen des Nordens und all der Länder ab, nach denen sie sich ausbreiteten, um für immer da zu hausen.

Aber als Hvidbjörn seinen Stellvertreter richtig eingesetzt hatte, verlangte ihn nach Einsamkeit. Und eines Nachts verließ er die Halle und begab sich heimlich auf ein Schiff, das er vom Land treiben ließ. Das Alter lastete auf ihm, und er freute sich darauf, seine Gebeine dem Meer zu übergeben – zur Ruhe. Draußen in raumer See saß er nun, ganz still, und sah auf seine Hände, während das Schiff sich in den Wellen wiegte. Für ihn war keine Zeit mehr.

Es dämmerte; seine Freundin, die Sonne, erhob sich und versank rot wieder im Meer.

Der Mond ging über den Himmel, mit Vaars milden, entseelten Zügen.

Am Morgenhimmel erschien das kleine tote Mädchen und blickte herab und leuchtete still, bis auch es verblaßte.

Da schloß er die Augen und sah nicht mehr.


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