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Gletscherwärts

Tage und Wochen, Dreng wußte nicht, wie viele, sahen ihn wandern und klettern, ständig nach Norden, näher und näher dem Herzen des Winters zu. Viel machte er durch; die Kälte ward so schneidend, daß er zuletzt in einem Zustand des Halbschlafs dahinstolperte, fast ohne Bewußtsein der Mühsal. Aber immer ging er der Kälte nach; er wollte sehen, wer da wohnte, hoch oben auf den Zinnen!

Er verlor das Gefühl für die Zeit, wanderte wie in der Ewigkeit, fühlte bloß, daß er existierte, weil er jeden Tag kämpfen mußte, um sich aufrecht zu erhalten. Das endlose Wandern im immer strenger werdenden Winter lehrte ihn das Wesen von Schnee und Eis verstehen. Große Geheimnisse waren es nicht. Immer und immer heulte der Nordwind: Hilf dir selbst!

In den Nächten kam tödlicher Frost. Das Wasser stand bis zum Grund gefroren in den Felsschluchten; der Reif auf den Steinen riß ihm die Haut ab. Dreng hätte nie sich am Leben erhalten können, wenn nicht die Not ihn zum Unmöglichen gezwungen und ihn gelehrt hätte, sich seinen Gesetzen zu fügen.

In einer Frostnacht, als er fühlte, er würde, nackt, erschöpft, wie er da unter einem vereisten Felsen lag, den Morgen nicht mehr erleben, erhob er sich und taumelte, halb bewußtlos, zu einem Bären hinein, dessen warmes Lager er in der Nähe gewittert hatte. Er weinte fast, als er in die warme Höhle kam; ein Dunst von Raubtiergestank lag darüber und erinnerte ihn an seine Mutter und die verlorene Heimat im Urwald, wo das Aas im Sonnenschein vor den Höhlen verweste. Aber er schluckte die Tränen hinunter; er hatte ein Gefühl, als wäre er heimgekehrt, sank neben den Bären hin und schlief augenblicklich ein. Der Bär aber richtete sich im Dunkel auf und begann an ihm herumzuschnuppern; Dreng wachte auf, und es kam zu einem Ringkampf in der Höhle, bei dem Dreng unterlegen wäre, wenn er nicht ein Steinbeil gehabt hätte. Er erschlug den Bären und schlürfte sein Blut, dann machte er in den Leichnam ein Loch und kroch in das tote Tier hinein. Er schlief, bis der Bär kalt war, ging aber nicht fort, bis es ihm gelungen war, ihm das Fell abzuziehen. In der nächsten Nacht schlief er unter einem Felsblock, den Pelz um sich gewickelt, den er von da an auf seiner Wanderung mit sich schleppte. Jetzt konnte er die Nächte halbwegs aushalten und es währte nicht lange, so hatte er auch gelernt, sich tagsüber in das Bärenfell zu hüllen. Er steckte die Füße in die Bärentatzen und fand sich nun ziemlich gut mit dem kalten, steinigen Boden ab. Aber in dem Kampf mit dem Bären hatte Dreng sein eines Auge verloren.

Nahrung nahm er, wo er sie fand; und er fand nichts als das Lebendige, was ihm gerade in die Hände fiel. Pflanzen oder Früchte waren ja nicht mehr da. Im Wandern bückte er sich und sammelte Lemminge oder Feldmäuse, wälzte die Steine zur Seite, unter denen sie sich versteckten, und schob sie in den Mund, so wie sie waren, warm und lebendig. So eine Maus, die den Bauch voller würziger Dinge und die kleinen Knöchelchen voll süßen Marks hatte, war ein guter Bissen für einen Wandersmann. Aber sonst, wenn er Hunger hatte, tötete und verspeiste er alle Tiere, die er erwischen konnte, vom Hasen und Wildschwein bis zu dem großen Elch. Er führte sein Steinbeil mit einer Kraft und Behendigkeit, der kein Tier gewachsen war. Der gewaltige Auerochs stürzte wie vom Blitz getroffen, wenn Dreng ihm entgegentrat und ihm die Schärfe seiner Axt in die Stirn trieb. Dreng verbesserte sein Handwerkszeug, hieb sich ein Messer zum Zerlegen des Wildes, band es an einen Stock, damit es weiter hineinreichte, und fing an, die Waffe nach dem Wild zu werfen, wenn er es auf andere Weise nicht erreichen konnte. Aber es gab wenig Tiere mehr in den Bergen, und er mußte oft tagelang lauern und sie verfolgen, ehe das rettende Wild getötet war und rauchend unter seinem Knie lag. Etwas anderes Warmes als das frische Blut hatte er nicht, und er mußte das Fleisch roh verzehren, weil er kein Feuer besaß.

Er hielt den Verhältnissen stand, weil er nun einmal leben mußte: er erduldete jeden Tag, weil es nun einmal nicht anders war; aber die Landflüchtigkeit drückte seinem ganzen Wesen ihren Stempel auf, während sie ihn gleichzeitig reifte, so daß er sein Dasein als nichts anderes mehr empfand, als ein bitteres Sehnen nach einem besseren, das irgendwo anders lag. Und das hielt ihn aufrecht.

Unter rastlosen Streifzügen rückte er immer weiter gen Norden vor. Er war jetzt hoch oben im skandinavischen Hochgebirge, wo der Schnee schon alt auf den Bergzinnen lag und anfing zu vereisen und über die jähen Hänge nach den Tälern hinabzurücken.

Das erste Mal, als Dreng den Gletscher sah, lag dieser viele Meilen fern und starrte blind in die Luft mit seinem seltsam grünlichen Schimmern, das sich abgrundtief mit dem Blau des Himmels mischte und das ihm dereinst in die Seele wachsen sollte. Er machte einen krummen Buckel, wie immer, wenn neue Ungewißheiten auftauchten, und ging weiter. Bergkämme und Weiten lagen dazwischen. Er lief und stieg, kroch auf Händen und Füßen wie eine Milbe über die schroffen Felshänge, wanderte, vergaß sich selber und ward sich ein andermal, irgendwo anders auf der Wanderung, seiner selbst wieder bewußt. Und die Zeit verrann.

Mancher Tag war schon vergangen, seit Dreng den Gletscher kannte und ihn betreten hatte, wie jeden andern Weg, der begangen und alt geworden war.

Auch hier oben auf den unfruchtbaren Eisfeldern ließ sichs leben. Dreng streifte umher zwischen den grünen Eiskämmen und Klüften, hörte es tief unter sich in den hallenden Löchern im Gletscherinnern seufzen; er fürchtete nichts, denn er hatte sich in zwei schwere Bärenpelze gehüllt, den einen mit den Haaren nach innen, und die Beine hatte er in Elchhäute gewickelt, die er mit Riemen zusammenhielt. Nachts schlief er prächtig in irgendeiner Höhle zwischen den Felsblöcken, die auf dem Eis lagen. Und wenn Frost und Schnee gar zu toll wurden, so hatte die Erfahrung ihn schon als besten Unterschlupf den Schnee kennen gelehrt; er grub sich ein und machte sichs behaglich in seinen Fellen, bis er, ausgeschlafen und ausgehungert, wieder hervorkroch und mit hinter sich her flatternden Fellen in die Schneefelder hinaus auf die Jagd eilte.

Dreng entwuchs seinem Ziel. Ursprünglich war er nordwärts gezogen, um sich mit der Kälte zu messen und Rache zu nehmen an ihrer Bosheit. Aber nach und nach trat der tägliche Kampf ums Dasein an Stelle des Zwecks. Er fand keinen anderen Herrscher im Hochgebirge als den Schneesturm und den Gletscher, die ihn zwangen, alle seine Kräfte bloß an die Wahrung des nackten Lebens zu setzen. Die Bergzinnen bargen kein anderes Geheimnis als Schnee und Eis. Der Trotz, mit dem er ausgezogen war, wandelte sich in einen unbeugsamen Willen und eine unerschütterliche Ausdauer in dem ungleichen Kampf gegen die Witterung. Je schlimmer der Widerstand, desto schärfer ging er drauf los.

Wie der Waldmensch in ihm untergegangen war, als er auf dem ausgebrannten Berg stand, so erstarb der letzte Rest der Tierseele, während ihm, Auge in Auge mit dem Winter, die Vorstellung von einem feindlichen Wesen, das »schuld« war, schwand. Und während er sich Tag für Tag und Nacht für Nacht im Standhalten übte, nicht dadurch, daß er einen Widerstand, der unbesiegbar war, besiegte, sondern dadurch, daß er beständig kämpfte, ward in seiner Seele der Grund zum ersten Heidentum gelegt, die Bewußtheit von der Unpersönlichkeit der Naturkräfte. Seine Triebe stählten sich unter der Notwendigkeit, sich umzuformen nach den Bedingungen, die er hatte beherrschen wollen. Im übrigen dachte er weiter nicht; er vegetierte in einer Art blinder Raserei, fraß alles Lebendige, das ihm nahe kam, auf, und entwickelte eine Energie, die für ein ganzes Volk ausgereicht hätte. Und der Nordwind heulte immer und immer: Hilf dir selbst!

Dreng blieb in den nördlichen Regionen. Ganz allein schlug er seinen Wohnsitz auf zwischen den kalten Bergen und fing an, sein Leben dort zu leben. Der Sturm und der jagende Schnee waren seine Weggesellen, die Weiten seine Heimat. Und immer strenger ward der Winter. In immer schwärzerer, tieferer Finsternis gähnten die Nächte; sie verschlangen fast den kurzen Tag. Wie ein Ausbruch wahnwitziger Lustigkeit flammte in den frostklaren Nächten das Nordlicht auf, das Gespenst des toten Feuers der Erde am Himmel. Dreng blickte empor zu dem geisterhaften Spiel; aber der Spuk machte ihn nicht reicher. Er schüttelte das Haupt. Und er beugte sich wieder über die Renntierfährte im knirschenden Schnee. Nur Nahrung für heut, nur Nahrung!

Dreng streifte umher nach Wild, hauste in Höhlen, unter Felsblöcken, und wenn er keinen passenden Unterschlupf fand, wälzte er mit seinen Bärenkräften große Steine zusammen und türmte sie aufeinander, bis sie eine Höhle bildeten, in der er für die Nacht in Sicherheit war. Diese Erfindung milderte seine Angst vor dem Leben und löste auch in anderer Hinsicht seine Kräfte aus. Es kam vor, daß er ganz besonderen Fleiß darauf verwandte, sich aus großen Steinen ein Haus oder vielmehr ein Grab zu bauen, wenn er grade an einem Ort war, wo es reichlich Wild gab in der Nähe. Da konnte er manchmal ganze zehn Nächte hintereinander bleiben und sich sogar noch ab und zu am Tage ein Stündchen Rast gönnen. Dann saß er vor seinem Steinhaufen und sog die bleiche Wintersonne ein, während um ihn her die Feuersteinsplitter klirrten und flogen, und er damit beschäftigt war, sich neue Geräte zu verfertigen. Ab und zu schweiften seine Augen von der Arbeit ab; und er konnte sich gelegentlich darüber wundern, daß die Sonne so kalt war und so tief am Himmel stand. Nirgends innerhalb seines Gesichtskreises regte sich auch nur das Geringste, das er nicht gesehen hätte.

Und neben ihm vor dem Steinhaufen, etwa drei Schritte entfernt, saß der Hund und spitzte die Ohren und beguckte sich naseweis die Dinge.

Dreng war nicht mehr ganz allein, war es ja eigentlich auch nie gewesen; die Tiere hatten ihm in der Wildnis immer Gesellschaft geleistet. Aber die meisten von ihnen hatten eine persönliche Scheu vor ihm. Im Anfange hatte der alte Affe sich in seiner Nähe gehalten; aber der blieb nicht lange am Leben, als die Kälte hart einsetzte. Er versuchte, sich von den Fleischresten zu ernähren, die Dreng liegen ließ; aber die Kost schien ihm nicht besonders zu behagen; er fiel ab. Ein einziges Mal sah Dreng ihn auch ein Bärenfell aufheben, das er weggeworfen hatte, und versuchen, sich darein einzuwickeln; eine Weile schleppte er es nach; aber es hinderte ihn an seinem Weiterkommen auf allen Vieren, und er ließ es wieder fallen. Eines Morgens fand Dreng ihn, starr, erfroren oben auf dem Steinhaufen, wo er die Nacht durch geschlafen hatte. Er riß ihm das Herz heraus; aber es war nicht zum Essen zu gebrauchen; es war gebrochen und ganz abgezehrt vor langem Kummer. Bald darauf hatte sich der Hund an ihn angeschlossen.

Es fing damit an, daß die wilden Hunde sich an seine Fersen hefteten; denn sie wußten, ihnen fiel immer der größte Teil der Tiere zu, die Dreng tötete. Dreng verzehrte auch ab und zu einen von den Hunden, wenn nichts anderes da war. Aber einer war in der Herde, den er jedesmal schonte, weil er ihn von den andern herauskannte und sich nach und nach daran gewöhnte, ihn zu sehen. Der begann, ihm nachzulaufen, hielt sich nicht mehr zum Rudel, und Dreng ließ sich das Anhängsel gefallen. Er war äußerst bescheiden, näherte sich nie, ehe Dreng gegessen hatte, und entfernte sich gehorsamst, wenn Dreng nur ein Wort sagte. Es war ein ziemlich kleiner Hund mit spitzer Schnauze und schräg über den Rücken geringeltem Schwanz. Er gewöhnte sich das Heulen ab, weil Dreng sonst Steine nach ihm warf, und lernte bellen; ganz das Maul halten, wenn irgend etwas Wichtiges sich ereignete, das konnte das Vieh nicht. Dreng und der Hund bemerkten immer alles zu gleicher Zeit; ihre nie rastenden Augen sahen alles, was sich auf Meilen im Umkreise bewegte. Aber der Hund hatte die feinere Nase. Er zeigte sich ungemein eifrig auf der Jagd, wenn er Dreng tagelang auf seinen Wanderungen begleitete, während er das Renntier hetzte; und mehr als einmal geschah es, daß er Dreng Dienste leistete, die den Waffenstillstand zwischen ihnen befestigten.

Dreng liebte den Hund. Mitten in dem strengen Winter, in dem Tage und Nächte und Wochen vergingen wie ein einziger langer, mühseliger Augenblick, konnte es ihm ein Trost sein zu wissen, daß der Hund ihm treu blieb, des Nachts nicht von dem Steinhaufen wich; wenn am nächsten Tage die Jagd fehlschlug, so war der Hund ihm noch immer sicher; eine gute Mahlzeit gab er jederzeit noch ab. Der Hund schien Dreng zu verstehen, war sehr höflich, näherte sich aber nie weiter als auf Armeslänge. Dieses einigermaßen gespannte Verhältnis war trotz alledem von Dauer, und die beiden lernten alle möglichen Dinge voneinander im Laufe der Zeit. Es saß sich so gut beisammen an den kurzen Wintertagen, wenn Dreng Nahrung mehr als genug für sie beide beschafft hatte und der Steinhaufen gebaut war und die Sonne schwach von ihrem fernen Weg am Himmel schien.

Zwischen Drengs Händen klirrte und sprühte es von Feuerstein; stets hatte er ein Werkzeug in Arbeit, wenn es die Zeit erlaubte. Und plötzlich, wenn er so saß und dreinhieb, konnte er mit begehrlichen lüsternen Augen anfangen, in die kalte Luft hinaus zu wittern und mit der Nase den Feuerstein zu beschnüffeln. Die Erinnerung an Feuer stieg in ihm auf! Es war etwas im oder am Feuerstein, wenn er so unter dem Hieb zerbröckelte, was roch wie die Glut unter der Asche. Drengs Nasenlöcher weiteten sich und tranken den brenzlichen Brodem ein, der ihn zugleich an das Gras nach dem Regen erinnerte, wenn der Blitz die Luft gereinigt hatte, oder an den Morgennebel im Urwald, an den schweren Nachtschweiß der Pflanzen, der in der Sonne verdampfte. Tief sog er die Luft ein und seufzte, seufzte. Ja, er sehnte sich nach Feuer. Er konnte manchmal anfangen, den Stein zu bearbeiten, bloß um den nahen und doch so fernen Feuerdunst zu atmen, der aus den Scherben sprühte.

In Pausen, in denen Dreng des Lebens Unsicherheit nicht so unmittelbar empfand, nahm er sich ab und zu einmal die Zeit, seine eigene Person zu untersuchen, und fand dann, daß seine Haut voll saß von Schmutzrinden und Ungeziefer und dem geronnenen Blut all der Tiere, die er schlachtete. Er kratzte ein paar von den Krusten ab und verzehrte sie; und so kam die Reinlichkeit in die Welt.

Seine Behaarung ward nach und nach immer dünner, weil die Tierfelle, die seinen Körper umhüllten, ihm den eignen Pelz ersetzten. Aber dabei war er kerngesund, die freie Luft, die kein Faulenzen gestattete, bekam ihm trefflich. Er nahm zu an Kraft und Klugheit, und seine Klugheit vertiefte sich, während er mit einem wahren Bärenhunger sich sämtliches warmblütige Getier zu Gemüte führte, das es vorgezogen hatte, in den nördlichen Regionen zu bleiben und sich mit dem neuen Klima abzufinden.

Inzwischen verging der Winter. Dreng begriff es zuerst nicht. Die Nächte fingen an, wärmer zu werden, die Sonne stand höher, just zu einer Zeit, als er sich grade mit zusammengebissenen Zähnen auf noch mehr Kälte, auf ein noch härteres Leben gefaßt gemacht hatte; wie der Winter, solang er immer strenger wurde, ihn das gelehrt hatte. Und jetzt nahm er ab!

Nun erst, als es mit den zunehmenden Tagen ein bißchen heller ward, zeigten sich an Dreng die Merkmale dessen, was er während der langen, fürchterlichen Dunkelheit ausgestanden hatte. Solang sie währte, war er dahin gerast in einem ununterbrochenen Zustand mörderischer Verzweiflung, seiner selbst unbewußt, sein ganzes Sinnen einzig darauf gerichtet, sich zu wehren. Jetzt ließ der Widerstand nach und er machte sich Luft in gewissen unheimlichen Lauten, die sich ihm krampfhaft aus der Kehle rangen. Lachen war das! Es war das Lachen. Es war ihm schlimm ergangen. Aber er vergaß es bald und erholte sich wieder.

Es war Sommer, und Dreng glaubte nichts anderes, als daß die Kälte nun auf immer fort sei. Aber wieder kam der Winter, noch strenger, und diesmal litt Dreng die bitterste Not, die er überhaupt je auszustehen hatte; kaum daß er mit dem Leben davon kam. Der neue Sommer brachte ihn wieder auf die Beine; und jetzt wußte ers, verstand sich auf die Jahreszeiten und bereitete sich auf den Winter vor, eh dieser kam.

Jeder neue Winter war länger und kälter als der vorhergehende; und der Sommer nahm ab, war bald nur noch eine Regenpause zwischen ewigen Wintern. Der Gletscher wuchs und breitete sich aus.

Die Berggipfel lagen jetzt unter einer zusammenhängenden, meilenweiten Kuppel von Schnee, die durch ununterbrochenen Schneefall immer größer ward. Schnee drückte auf Schnee und ward zum mächtigen, flüssigen Eisteig, der von den Zinnen abwärts kroch und die Täler zu füllen begann. Die kurzen Sommer vermochten nicht, den Gletscher aufzutauen, sondern schmolzen ihn nur zusammen und tauten den Schnee der Oberfläche, der sofort wieder zu Eis gefror. Und so zog sich schließlich der Gletscher, nackt und glänzend, in blaugrüner Tiefe, von den Gipfeln bis weit hinab in die Täler. Und das Flimmern dieser grünen Unergründlichkeit ward Drengs Horizont, mehr und mehr, je weiter der Gletscher sich langsam und unmerklich von den Bergen über das ganze Land ausbreitete.

Sogar die Erde, die Erde verdrängte der Gletscher. Er zermalmte sie, zerdrückte sie unter seiner Bergeslast wandernden Eises. In schwarzen Nächten vernahm Dreng das unterirdische Donnern und Knirschen des Eises, das den Felsgrund aufriß, während es weiter und weiter schritt auf seinem unerbittlichen, kalten Weg. Und er fletschte die Zähne.

An stillen Frosttagen, wenn die Luft ihm in jede Pore stach, dampfte ihm der Atem in dichten weißen Strahlen aus der Nase, und das Blut prickelte ihm gleich einem Sternenregen unter der Haut. Und er empfand es als einen Sieg, bloß zu leben!


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