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Der Ächter

Dreng fand an diesem Tag seinen großen Feind nicht. Er war noch nicht hoch genug. Nachdem er eine Weile vom Gipfel des Berges aus Umschau gehalten hatte, merkte er, daß er bloß hier herauf gekommen war, um einen Ausblick auf fernere Berge zu gewinnen.

Weit im Norden erhob sich das eine Gebirg hinter dem andern, ganze Heerscharen von Bergen, die sich von allen vier Enden des Himmels herabsenkten und zusammenschlossen, den Gipfel der Welt zu tragen; und über ihnen ragte in den Himmel hinein eine Region schwindelnder, weißer Zinnen, daß man nicht wußte, waren das Wolken, was man da sah, oder eine neue, unfaßbare Welt? Kamen Frost und Nordwind von dort? Ah, dann war es ein langes Verfolgen, dann war es schwer, zu dem Gewaltigen zu gelangen, der die Kälte hinab in die Täler sandte! Hoch war sein Sitz; und wer weiß, ob er nicht zu mächtig war für einen Menschen?

Dreng begann zu zweifeln. Lange stand er in allerhand Erwägungen versunken. Er wußte nicht, wie lang. Die Mittagssonne verstreute den letzten Rest Nebel im Tal und enthüllte es in seiner ganzen Ausdehnung. Wie tief es war, wie schwindelnd tief auf allen Seiten! Dreng bemerkte plötzlich einen Punkt hoch oben im Blau, ungeheuer hoch, ein schwarzes Flöckchen, das in weitem Kreis da oben schwebte, sich hob und senkte. Es war ein Geier. Er ward rasch größer, und als er grade über dem Abgrund stand, legte er die Schwingen dicht an den Rumpf und ließ sich wie ein Stein durch die Luft fallen, ward kleiner und kleiner, bis er schließlich wieder wie eine Flocke tief unten verschwand, wo die Sonne blendend in das nasse Tal schien. Oben sauste es leise, wie von einem schwachen Windhauch; aber von drunten kam kein Laut.

Vom Berggipfel aus erschienen die Verheerungen des Regens drunten in den Tälern bloß wie Löcher und Risse im Waldteppich. Es sah aus, als ob sich ein Finger damit amüsiert hätte, das Erdreich drunten zu beschreiben. Die Sonne lachte über der Sintflut. Die Wolken tauchten auf und verschwanden. Wer war Dreng? Ob einer von den Gewaltigen, die hier oben, hoch über den andern, thronten, auch nur ahnte, daß er existierte? Ob überhaupt wirklich einer da war, der es auf ihn und seinen Stamm abgesehen hatte?

Wolken zogen über den Himmel, groß, wie ganze Landschaften, zogen von Berg zu Berg, veränderten unterwegs ihre Gestalt; und tief unten auf der Erde wanderten ihre Schatten und wechselten mit ihnen. Eine einzige weiße Wolke, am Himmel nicht größer als eine Hand, verdunkelte drunten das ganze Tal. Die Erde verdüsterte sich oder lächelte unter dem Gang der schimmernden Wolken durch die Welt.

Ob die Wolken die Menschen kannten? Sie wanderten über die Berge auf schwindelnden Pfaden und spielten mit der Sonne. Aber die Menschen waren ihnen zu klein. Sie glänzten in erhabener Unbewußtheit, sie kannten nicht Dreng mit dem Rächerbeil, Dreng den Großen, der ausgezogen war, das Weltall auszurotten.

Dreng schämte sich vor dem lächelnden Antlitz des Himmels; wie ein Wurm kroch er unter einen Stein und ließ sich nicht mehr blicken.

Als er später, sehr ernüchtert, wieder hervorkam, hatte der Himmel sich vor der Sonne verschlossen. Die fernen Zinnen waren unsichtbar; die Wolken waren grau und hingen tief, setzten sich an der Spitze des nächsten Berges fest und rollten an seinen Flanken nieder. Das Tal unter Dreng lag in dickem Nebel begraben. Er machte sich an den Abstieg und war noch nicht weit gekommen, als schon der Nebel, der sich als ein strömender Regen entpuppte, über ihm zusammenschlug.

Als Dreng sich der Talsohle wieder näherte, ging es schon stark gegen Abend. Eine plötzliche Angst überfiel ihn beim Gedanken an die Genossen, und er eilte vorwärts, daß der kalte Regen ihm von den Schulterblättern dampfte. Als er den Felsen erblickte, wo er am Morgen die andern verlassen hatte, war er sehr erstaunt, keinen Rauch zu sehen, und blieb stehen. Ein schrecklicher Gedanke bemächtigte sich seiner. Er schnappte nach Luft und stürmte mit Riesenschritten hin unter den Felsen. Sie waren fort! Das Feuer war erloschen.

Ja, es war öde und kalt unter dem Felsenvorsprung. Die Brüder hatten die Stätte verlassen. In einem einzigen Blick sah Dreng, daß der Holzstoß unberührt war, so wie er ihn am Morgen verlassen hatte; aber erloschen. Sie mußten lang geschlafen haben, und das Feuer war ausgegangen. Das Holz war feucht und hatte sich nicht so rasch entzündet, wie er ausgerechnet hatte, und vielleicht hatte der Wind sich gedreht und den Regen unter den Felsen hereingepeitscht. Jedenfalls – das Feuer war erloschen. Und die Ärmsten waren am Morgen aufgewacht und hatten den Holzstoß kalt gefunden und hatten gesehen, daß er fort war! Und sie waren aufgebrochen und hatten sich auf den Heimweg gemacht, natürlich in der tiefsten Verzweiflung! Das Feuer war erloschen! Und da stand nun Dreng, ganz allein. Sie waren alle fort, und er war allein in dem wilden, überschwemmten Wald!

Hastig bückte er sich und fand auch wirklich ihre Spur in dem aufgeweichten Boden. Er kannte sie, jede einzelne, schnüffelte mit der Nase auf der Erde und weinte vor Kummer über das, was geschehen war, und vor Entsetzen darüber, daß sie ihn verlassen hatten! Die Spur war leicht zu verfolgen, und er setzte sofort hinter den Kameraden her, lief in langen Sprüngen durch den Wald. Dunkelheit sank. Er wandte den Kopf von einer Seite zur andern, weinte und fletschte die Zähne, während er, von Schrecken gepackt, dahinstürmte. Wenn er sie nicht einholte! Wenn sie tot waren! Er kam an Stellen vorüber, wo er sah, sie waren unschlüssig gewesen, hatten sich zu einem Haufen gesammelt, bis sie einen Umweg um das Überschwemmungsgebiet fanden. Er stieß auf ein paar armselige Proviantbündel, die sie weggeworfen hatten, um leichter weiterzukommen, und er blieb einen Augenblick lang stehen, um ob ihrer Not und dem Unglück, das geschehen war, laut aufzuweinen. Aber das Dunkel und die schauerliche Einsamkeit des Waldes jagten ihn weiter. Er sah an den frischen Spuren, daß sie nun nicht mehr weit sein konnten, und der kalte Schweiß auf seinem Körper wandelte sich in stechende Hitze. Er lachte und weinte in einem Atem, während er weiter rannte.

Und endlich holte er sie ein, in einer Höhle, wo sie Rast gemacht hatten und im Dunkel aneinandergedrängt saßen und jammerten. Schon von ferne hörte er sie. Ihre Notrufe waren in eintönige Klagen übergegangen, die sie so lang im Chor wiederholten, daß sie wie eine Art müden, jämmerlichen Singsangs klangen, dessen Text dahin lautete, daß das Feuer erloschen sei und daß sie weit, weit nach Hause hätten. Dreng blieb stehen und rief; sang ihnen zu aus ganzem Herzen: da war er! Er nahte sich ihnen mit seinem letzten Atem, halbtot vor Anstrengung, schluchzend vor Freude.

Aber als er ihnen nah genug war, erhoben sie sich und wandten sich gegen ihn mit wütendem Geschrei. Sie kamen aus der Höhle hervor und empfingen ihn in geschlossener Gruppe, mit zornigen Scheltworten und Drohungen. Er sah ihre Augen, deren Weiß durch die Dämmerung blinkte, er sah die Steine in ihren behaarten Händen; Keulen schwenkten sie gegen ihn, wie gegen ein wildes Tier! So hatte Dreng den Haufen sich erheben und angehen sehen gegen einen Wolf oder einen Tiger, der dem Lager zu nah kam; aber damals war er freilich einer vom Haufen, war einer der ersten gewesen, die da tobten und drohten. Jetzt stand er außerhalb.

Es war beinah dunkel, und der kalte Regen peitschte hernieder auf das Häuflein, das immer erregter ward, und auf den einen, der im tiefsten Elend draußen stand.

Aber ich bins ja doch! rief er mit gebrochener Stimme und rückte seinen ganzen Körper noch ein bißchen näher ins Licht, damit sie ihn erkennen sollten. Freilich ja, eben, er war's!

Steine flogen ihm um die Ohren. Ein großer Stein traf ihn mitten auf die Brust, daß es hohl im Rücken widerhallte. Da verstummte er und wich zurück. So richtig weh tat es nicht; denn er hatte ja wirklich, wie sie auch sagten, das Feuer ausgehen lassen! Aber wer von ihnen mocht' es nur sein, der einen so großen Stein nach ihm warf? Er überlegte ein bißchen, wollte nicht so recht begreifen, daß sie ihn forthaben wollten. Aber wirklich, sie wollten es! Sie rafften immer mehr Steine auf und schleuderten sie nach ihm; und als er nicht wich, obwohl es schwierig war, sich so im Halbdunkel gegen so viele Steinwürfe zu wehren, begann der Haufe sich in Bewegung zu setzen, ihm entgegen, heulend vor Raserei. Einer der Vornehmsten ging an der Spitze und sammelte den ganzen Chor zu einem Fluch gegen den Feuerlöscher, den Verräter. Den Verräter! Und das war Gjuk, Drengs liebster Freund.

Was? dachte Dreng, und sein ganzer Körper erstarrte; was war das, was Gjuk sagte? Wie war es möglich, daß er sich an die Spitze des Haufens stellen, daß er der erste sein konnte, der ihm fluchte? War das wirklich Gjuk, der da kam, mit verzerrten Zügen? dessen Fleisch sich vor Grimm empörte? War das der weiche Gjuk, der da schäumend, mit aufgehobenen, zitternden Händen ihm näher und näher auf den Leib rückte, während die andern im Chor hinter ihm dreinkläfften?

Dreng wich nicht. Aber er fing an, schwer zu atmen, schnob ein paarmal gewaltsam und verlor seine Selbstbeherrschung. Immer noch hoffte er auf eine Versöhnung. Er wollte erklären, versuchte, etwas zu sagen, und da sie ihn bloß überschrien, überlegte er in seinem Sinn, ob sie denn eigentlich wirklich Recht hätten? War er ein Verräter? Hatte er nicht gerade ihre Rettung wollen, in einem weiteren Sinn, als sie's verstanden? Konnte denn nicht einmal Gjuk das verstehen? Ein Stein traf Dreng. Und jetzt ward er wütend. Das Blut schoß ihm in die Augen. Er erbebte, öffnete die Lippen und stieß einen leisen Laut aus. Dann bewegte er sich auf seltsam luftige Art, hob die Füße von der Erde und reckte sie, als hätten seine Glieder gar kein Gewicht mehr – als wär' er ein Stummer, wie der Haufe, der ihn bedrohte, wie die Tiere, die ihm fluchten, ohne ihn anhören zu wollen. Sie hatten Grenzen. Aber er hatte keine.

Und als Gjuk ihm näher kam, unter immer sinnloseren Verwünschungen, machte Dreng rasch einen Schritt ihm entgegen und spaltete sein Haupt, daß das Steinbeil bei den Backzähnen herausdrang. Dann atmete er, abgekühlt, tief auf und wich zur Seite vor dem Blutstrahl, der dem Freund aus dem Mund schoß. Keiner hätte es geglaubt! Dreng hatte das Unmögliche vollbracht.

Gjuk war sofort tot. Und während die andern, vor Schreck gelähmt, bei seiner Leiche standen, wandte Dreng sich um und ging zurück in den überschwemmten Wald.

Am Tag drauf saß er neben dem niedergebrannten Holzstoß. Er war noch ganz, wie er ihn verlassen hatte. Die kalte Asche bewahrte noch die Form des Holzes, war aber zu nichts zerschrumpft. Dreng stöberte die Asche auf in einem letzten Hoffen, in der Tiefe noch einen Funken zu entdecken; mit weitoffenem Rachen witterte er über dem Scheiterhaufen nach einem noch so schwachen Geruch von Glut, einem einzigsten kleinen Feuerstrählchen, das er hegen könnte und nähren. Aber kein Leben war mehr in dem eisigen Haufen von erstarrten Baumstümpfen und Asche, der schon Erde auf Erde geworden war. Das Feuer war und blieb erloschen.

Dreng hatte die Nacht in einem Baum verbracht, in einem halb bewußtlosen Zustand von Trotz und Kälte, nicht weit von der Höhle, wo die Kameraden genächtigt, sich gegenseitig umklammert und die ganze Nacht durch gejammert hatten. Wieder und wieder kehrte in ihren Klagen Gjuks Name zurück, und mit jedem Mal ward Drengs Schmerz neu und seine Seele härter geschmiedet. Es regnete in alles ertränkenden Strömen, wie in der Nacht vorher, und gegen Morgen begann es wieder zu hageln und zu gefrieren. Da hörte Dreng die Kameraden aus der Höhle aufbrechen und durch die Bäume gen Süden ziehen, bis ihr Klagesang sich fern, fern in den überschwemmten Wäldern verlor. Sie zogen heim, mit bittrer Kunde, obdachlos und ohne Feuer im winterlichen Wetter.

Aber sie waren doch immerhin auf dem Heimweg, brauchten bloß noch ein paar schutzlose Nächte auszuhalten, dann konnten sie, das wußte Dreng, wieder im Lager daheim sein bei Weibern und Kindern, in dem warmen Tal, wo das alte, heilige Feuer des Stammes brannte. Dort würde man sie mit Freuden aufnehmen und wärmen und alles würde bald vergessen sein, bloß nicht der Feuerauslöscher und Mörder Dreng. Um ihn würden sich Sagen weben, die gen Himmel schrien, und der Gedanke, daß er einsam einem jammervollen Tod in der Wildnis entgegenging, würde dem ganzen Stamm das Mahl würzen.

Dreng verließ das erstorbene Feuer unter dem Felsvorsprung. Er war nun heimatlos, irrte ein paar Tage im Wald umher, wußte nicht, wo er war, schlich in den kalten Morästen herum und achtete nicht darauf, ob es Nacht war oder Tag. Die Augen erloschen und sanken ihm ein. Ab und zu riß er vom Kadaver eines der ertrunkenen Tiere eine Handvoll Fleisch und verschlang es; Hunger litt er nicht. Aber die Kälte und die Einsamkeit im Wald drückten ihn zu Boden wie eine übermäßig schwere Last.

Dann, eines Tages, kommt es ihm vor, als sei es besser. Es ist warm, wo er geht. Ohne es zu wissen, hat er den Weg gen Süden eingeschlagen und ist in die Nähe des Tals gelangt, wo seine Brüder wohnen. Unter heftigem innerem Kampf nähert er sich dem Lager; er will nicht, aber er kann nicht widerstehen. Er geht ganz lautlos, vernimmt die eigenen Schritte nicht. Jetzt sieht er da und dort Spuren von ihnen; das Lager kann nicht mehr weit sein. Und da steht etwas mitten in der Lichtung, von wo aus der wohlbekannte Pfad zu den Hütten hinabführt. Er hebt die Augen auf und sieht was es ist: Es ist Gjuks zerspaltner Schädel, den sie an einer Stange aufgerichtet haben. Und daneben haben sie eine andere errichtet mit dem daranhängenden Kadaver eines Wolfs. Für ihn haben sie das errichtet, für den Fall, daß er sich in die Nähe wagen sollte. Hier ist das Grenzmal. Diesen Anblick haben sie für ihn bestimmt, falls er kommen und seine verfluchten Augen nach der Heimat wenden sollte.

Dreng richtete sich mühsam auf und ging.

Er wanderte zurück, nordwärts, hinauf in die kalten, ausgestorbenen Wälder; nackt, ganz allein.


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