Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Stimme des Bluts

Der große Wanderfrühling kam. Das Schiff lag fertig, den Drachenrachen aufgerissen, hungrig dem Meer zugewandt.

Hvidbjörn hatte ein Freudenfeuer abgebrannt für dies Jahr und hoffte, es im nächsten Frühling in neuen Reichen anzünden zu können. Aber Vaar legte ihr Korn diesmal mit einem Seufzer in die Erde. Sie wußte, sie würde es nicht mehr ernten. Trotzdem säte sie es. Die Erde, die als erste gegeben hatte, sollte auch als letzte empfangen. Die Grävlinger waren zugleich mit den Zugvögeln angekommen und reichlich mit Pferdefleisch und Frühlingsfeuern bewirtet worden. Hvidbjörn brachte Sonne, Mond, dem Meer und der Erde, allen Naturmächten Opfer aus Anlaß der bevorstehenden Reise. Es waren große Feste, bei denen die Grävlinger die herzzerreißendsten Konzerte zum besten gaben. Wild wie Stürme aus allen vier Enden der Welt tönte die Harfe, die Trommel schlug wie ein grenzenlos trauriges Herz und die beinerne Flöte wimmerte. Das verlorene Land war nah. Zwischen den einzelnen Nummern hatten die Grävlinger, die in der Heimat geblieben waren, den andern, die von der Reise zurückkehrten, gar viel mitzuteilen; sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten unaufhörlich miteinander. Hvidbjörn war trunken von Musik und sah nichts.

Da er bei seinen Gästen eine gewisse Schwermut zu bemerken glaubte, unternahm er Fahrten mit seinem neuen, wunderbaren Wagen; vielleicht würde es sie erheitern, wenn sie ihn die Pferde lenken sahen und über die Steppe donnern hörten. Hvidbjörns funkelnde Augen, die sonst alles sahen, bemerkten nicht, daß die Grävlinger den Hals einzogen vor geheimer Wut. Er hörte nicht, wie sie hinter zusammengebissenen Lippen mit den Zähnen knirschten, stumm vor Grimm über seine Gewandtheit.

Es war den Grävlingern in der Seele zuwider, daß sie Zeugen dieser Narrenfahrt sein sollten. Es war ja fast lebensgefährlich, nur allein die Räder umherwirbeln zu sehen, so unsinnig, daß sie fast nicht mehr zu erkennen waren, und sie auf eine Weise lärmen zu hören, die mehr als herausfordernd war dem Donner gegenüber und höchst ärgerlich für alle, die es mitanhören mußten. Also konnte man nicht länger mehr auf seinen zwei Beinen laufen?

Und was würde das Nächste sein? Was glaubte denn dieser Fremdling, dessen Kopf eine Krankheit entfärbt hatte – was glaubte er denn, daß er so frech, ohne sich zu ducken, die Welt mit solchen albernen Erfindungen zu blenden versuchte? Waren die alten Sitten und Bräuche nicht gut genug für ihn? Mußte er mit aller Gewalt anders sein als andere? Daß er nichts voraus hatte vor gewöhnlichen Menschenkindern, hatte er doch selber gezeigt, indem er sich unter sie gemischt hatte als ihresgleichen.

Aber natürlich. Sie ließen sich eben ausbeuten! All das Kupfer, das er zu seinem Schiff verwendet und womit er jetzt die Räder seines verfluchten Wagens beschlagen hatte, hatten sie ursprünglich in der Nase stecken oder um den Hals hängen gehabt; von ihrem Schweiß war es grün geworden, und ihnen gehörte es eigentlich. Und was er nun da wieder gesagt hatte! Hvidbjörn hatte etwas gesagt, das mehr als alles andere den Grävlingern die Galle ins Blut getrieben und ihre Augen gelb gefärbt hatte. Es war bloß eine leichte Bemerkung, die Hvidbjörn sorglos fallen ließ und wieder vergaß; aber sie hatte auf die Eingeborenen gewirkt wie ein blutiger Hohn, eine unverzeihliche Seelenroheit. Er hatte, bei einem Anlaß, als mehrere Grävlinger es hörten, ja sogar ausdrücklich für ihre Ohren bestimmt, – ausgesprochen, es wäre doch ein Glück, daß er gleich von Anfang an darauf gekommen sei, das Schiff mit der Spitze nach vorn vorwärtszutreiben; sonst wären ja wohl die Menschen bis zum letzten Tag mit der Breitseite vorausgesegelt. Ja. So hatte er gesprochen. Und das war herzlos. Die Grävlinger redeten überhaupt von nichts anderem bei Hvidbjörns Festen, und während sie sich mit ganzer Seele ihrer Musik hinzugeben schienen, suchten sie Hvidbjörn recht sicher zu machen.

Ein paar Tage nach dem Opferfeuer machte Hvidbjörn eine Ausfahrt in die Steppe nach Wild. Es fehlte noch allerhand Vorrat fürs Schiff und die Grävlinger hatten berichtet, an der oder jener Stelle des Landes zeigte sich eine große Herde Büffel. Sie hatten gesagt, es wäre sicherer, wenn recht viele auszögen auf die Jagd. Und Hvidbjörn nahm seine vier ältesten Söhne mit. Sie waren zu Pferd; er selbst im Wagen.

Am selben Tag, nachdem Hvidbjörn ein paar Stunden lang fort war, kamen heimlich, von verschiedenen Seiten, die Grävlinger nach seiner Wohnstätte gekrochen, umringten sie und legten sich in den Hinterhalt, während drei oder vier von ihnen sich offenkundig nach Hvidbjörns Haus begaben.

Dort waren Vaar und ihre drei Töchter – die jüngste noch ein kleines Kind – und außerdem noch ein halbwüchsiger Knabe, Orm. An ihn wandten sich die Grävlinger; und eine Zeitlang ward von gleichgültigen Dingen geredet. Orm kannte sie alle wohl. Sie kamen häufig in die Wohnung und erbaten sich irgend etwas von Hvidbjörn. Heute wollten sie bloß einen Lehmtopf; und während Orm ihnen den Rücken wandte, um einen herbeizuholen, warfen sie ihm Riemen um Arme und Beine und zerrten ihn zu Boden. Orm wehrte sich verzweifelt und es gelang ihm fast, sich frei zu machen; aber weitere Grävlinger kamen ihren Kameraden zu Hilfe, und Orm ward überwältigt.

Mitten im Tumult erschien Vaar mit ihrer kleinen Tochter. Die beiden erwachsenen Mädchen blieben unten im Steinhaus. Kein Wort ward gewechselt zwischen Vaar und den Grävlingern. Aber als sie sich umschaute und Orm gefesselt an der Erde liegen sah, nahm sie ihr kleines Töchterchen auf den Arm, ergriff ein dickes Stück Holz und begann den Kampf um ihr und der Kinder Leben. Sie kämpfte, solang sie noch Atem hatte, wütend, wie eine Löwin, bis sie nicht mehr konnte.

Der ganze Lagerplatz war voll von Grävlingern; ganze Heere wimmelten aus Erde und Gebüsch hervor; so viele waren ihrer, daß sie wie eine Sturmflut aus- und einwogten; fast zu viele, um überhaupt etwas auszurichten. Aber nach und nach kam es doch. Einige machten sich hinter das Schiff. Andere zerspalteten Hvidbjörns Schlitten und töteten die Haustiere. Die beiden ältesten Töchter wurden schreiend von der Höhle heraufgeholt; aber ihr Geschrei erstickte bald unter den Fellen, die man ihnen über den Kopf warf, und erstarb, eh man sie fortführte. Ein ganzer Trupp ergriff jetzt Orm und führte ihn zu einem Baum, um ihn zu martern. Sie blickten auf ihn mit Augen, die vor Raublust hervorquollen. Ihre Haare sträubten sich, wie das Fell der Tiere in der Nacht. Zuckungen verzerrten ihre Gliedmaßen, sie schnoben, sie zitterten. Ihre Kinnbacken waren steif vor Krampf und kaltem Gelächter; und Orms Stimme klang sehr verlassen, wie sie durch diese Menschen drang. Er redete viel; es war als müsse er den ganzen Wortvorrat eines ganzen Lebens auf einmal aufbrauchen; und seine Stimme klang gebrochen, wie die Halberwachsener, noch während sie ihn mißhandelten.

Da er sich des Zitterns nicht erwehren konnte, wie er so nackt vor seinen Henkern stand, machte er sie darauf aufmerksam, daß seine Gliedmaßen ihre Schwäche nur unwillig bekannten. Es peinigte ihn, daß sie sich so dicht um ihn drängten, und er rümpfte die Nase über den Geruch all der Körper, die da gegen ihn andrangen. Sie wollten es erzwingen, daß er jammern sollte, und legten ihm Feuerbrände unter die Sohlen; sie brachen ihm die Fingergelenke mit Stöcken; er reckte sich lang aus; aber er blieb stumm. Er war von der Art, die sich nicht beugt im Unglück. Später machte er irgendeine Äußerung über das Wetter. Da begannen sie, den Knaben im Ernst zu peinigen. So daß sie ihn weinen sahen.

Weit draußen in der Steppe sah Hvidbjörn den Rauch und wußte auch sogleich, daß er nur von seinem eigenen Lagerplatz kommen konnte. Er wunderte sich, unterbrach seine Jagd und wandte um. Der Rauch ward dichter – Flammen schossen empor – Und jetzt eilte Hvidbjörn und trieb die Pferde an, so sehr er nur konnte. Er gelangte auf eine Anhöhe, von der aus er die Küste überblickte. Und nun sah er, daß das Schiff in Flammen stand.

Auf seinem Heimweg lag ein dichtes Birkengehölz. Und daraus brach plötzlich ein zahlloser Schwarm von Grävlingern und stürzte sich, aus vollem Hals schreiend, auf Hvidbjörn und seine Söhne. Aber noch eh sie ihm auf die Länge einer Peitsche nahgekommen waren, hatte der Anblick des Riesen mit dem Steinhammer, der in donnernder Fahrt auf dem Wagen einherkam, sie entmutigt, und der ganze Schwarm machte Kehrt wie ein Trupp Strandläufer und flüchtete ins Gehölz zurück. Ihr kleiner Kriegsplan war im Beginn gescheitert. Hvidbjörn aber sah nichts mehr vom Weg auf seiner letzten wilden Fahrt hinab zum Lagerplatz.

Auch hier waren keine Grävlinger mehr zu erblicken. Aber Spuren wiesen darauf hin, daß sie erst ganz vor kurzem die Flucht ergriffen hatten. Hvidbjörn warf bloß einen einzigen raschen Blick auf sein Schiff; es stand in lichten Flammen und war verloren. Das Drachenhaupt starrte verkohlt auf die See hinaus. Aber vor seinem Hause erblickte Hvidbjörn Dinge, die schlimmer waren. Hier hatten die Feinde wohl eine Stunde lang in aller Ruhe gehaust. Der ganze Platz war voller Blut.

Vaar, Vaar war tot. Im Arm hielt sie den unkenntlichen Leichnam ihres kleinen Mädchens. Die zwei großen Töchter waren fort. Und sterbend, an einen Baum gebunden, fand Hvidbjörn seinen Sohn Orm. Er hatte das blasse Antlitz auf die Schulter geneigt, richtete sich aber auf, als der Vater kam, und lächelte ihn an. Eine schwache Spur von Tränen zeigte sich auf den sommersprossigen Knabenwangen, dicht unter den Augen, die halbgeschlossen und gebrochen waren; sehen konnte er nicht mehr; aber die blassen Lippen regten sich noch, wie um etwas zu sagen.

Sie hatten ihm den Rücken gespalten und ihm bei lebendigem Leib die Lunge herausgerissen.

Noch einmal bewegten sich seine Lippen, und Hvidbjörn beugte sich nieder und hörte seinen Sohn flüstern, daß ihm wohl sei.

Und damit sank das Haupt des Knaben nieder und er war tot. In den lichten Nächten des Nordens steht die Birke, und ihr üppiges Laub hängt über den zierlichen Stamm, der gleich weißen, schwarzgefleckten Gliedern schimmert. Der ganze zarte Baum bebt wie ein Weib, dem das lange Haar übers Gesicht fällt; und der Himmel des Nordens, der, die schlummernde Sonne im Arm, errötend lächelt, weiß nicht, – hat die Birke ihr Antlitz verborgen, weil sie vor Glück erbebt, oder weil sie weint.

Ach – die Birke steht mit ihrem lichten, frischgrünen Haar in tiefer Trauer; denn sie träumt, daß ihre Krone blutiges Haar ist und jedes Blatt eine blutende Wunde, bis der Schneesturm sie wieder einhüllt. Der zitternde Baum in der wundervollen Nacht des Nordens ist Vaar, die milde Vaar.

Aber der große, weiße Stern, der rastlos am Himmel wandert, während alle andern Sterne ihre Stätte gefunden haben und ruhen und flimmern, der Stern, der nicht funkelt, sondern ruhig und hart wie eines Knaben Tränen glänzt, das ist Orm, der zu früh Geschiedene. Ach, wie er leuchtet in seiner Blässe, während er stumm seine Bahn zieht, die zu Ende war, noch eh er lebte! wie er ewig die Erde umwandert mit seinem feinen und trotzigen Herzen!

Und bald als Morgen- und wieder als Abendstern erglänzt das kleine Mädchen, das getötet ward an seiner Mutter Brust – weiß und verschleiert wie eine Kindesseele, die einsam, stumm mit sich selber spielend, auf unendlichen Wegen geht.


 << zurück weiter >>