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Jägerjahre

Dreng war jetzt voll ausgewachsen, abgehärtet durch mehrere Winter, und führte schon eine Art regelmäßig-gesicherten Daseins, obgleich er noch immer ständig auf der Wanderschaft war. Der sinnlose Kampf gegen die Kälte hatte einer mehr berechneten Lebensweise Platz gemacht, je klüger er durch den Wechsel der Jahreszeiten geworden war und je mehr er gelernt hatte, sich auf den Winter vorzubereiten.

Er dörrte in der guten Jahreszeit Fleisch und bewahrte es auf bis zur Zeit der Kälte. Es gab ja auch im Winter Wild genug, aber Dreng stand sich am besten, wenn er sich ein tiefes, solides, steinernes Haus einrichtete und da die ganze kalte Zeit über wohnen blieb; und dies wiederum brachte es mit sich, daß er anfing, Vorräte zu sammeln. Ganz fest ansässig war er nicht; er wählte jedes Frühjahr einen neuen Platz in der Nähe frischer Jagdgebiete; aber da blieb er dann auch die ganzen langen Wintermonate durch. Er gab sich recht viel Mühe mit seinem Haus, seitdem er es so lange benützen wollte, und arbeitete nach einem ganz bestimmten Plan. Wenn er irgendwo eine natürliche Höhle fand, so nahm er von dieser Besitz, nachdem er den Bären erlegt hatte, der in der Regel dort hauste; fand er keine, so baute er sich einen Steinhaufen, indem er sehr große Steine so gegeneinander wälzte, daß sie eine Kammer bildeten, und die Wände mittelst kleinerer Steine dicht machte. Diese kleine Steinhütte vertiefte er nach unten, unter der Erde, und fütterte sie mit Moos und Fellen aus; und hier bot er die langen, dunkeln Winternächte durch der Kälte Trotz. Immer jagte er; aber im Winter streifte er nie weiter, als daß er zur Nacht wieder in seiner Hütte zurück sein konnte.

Obgleich er weder Feuer noch Licht hatte, beschäftigte er sich doch mit allem Möglichen in seiner Höhle, wenn er nicht schlafen konnte und ein genügender Vorrat von gedörrtem Fleisch vorhanden war. Er präparierte seine Häute, saß endlose Stunden und kaute die rauhen, steifen Felle, Zoll für Zoll, bis sie geschmeidig wurden und weich. Diese Behandlung hatte ihn die harte Not gelehrt – wie überhaupt alles was er konnte; er hatte in der Hungerperiode sein Leben fristen müssen durch das Abnagen von Fleischresten, die an seinem Fell saßen, und dabei hatte er entdeckt, daß die Felle sich besser hielten und angenehmer zum Tragen wurden, wenn er sie von einem Ende zum andern durchkaute. Bei dieser Gelegenheit war er auch darauf gekommen, das Fleisch durch Dörren aufzubewahren.

Wenn er nicht Felle kaute, saß er wie ein Blinder im Pechfinstern und tastete sich geduldig mit den Fingern weiter, bohrte mit einem knöchernen Pfriemen Löcher in die Felle und fügte sie zusammen mit langen Riemen, die er aus Renntierfellen geschnitten hatte. Er verstand es, sich auf eine ganze bestimmte Art mit den Fellen zu bekleiden, so, daß sie so warm wie möglich gaben; aber es kostete viel Kopfzerbrechen und Arbeit. Er drehte aus Därmen Schnüre und Leinen, die er zu verschiedenen Dingen gebrauchen konnte; und all das ließ sich recht gut im Dunkeln verrichten.

Die Winter wurden immer länger. Der Gletscher streckte sich weit übers Land. Man konnte nicht sehen, wie er sich reckte, aber mit jedem Monat und jedem Jahr war er weiter vorgeschritten. Der äußerste Rand stand jetzt schon ganz tief im Flachland, wo das grüne geborstene Eis mit den Überresten des ausgestorbenen Waldes zusammenstieß. Wo früher Bambus und Mimosen gestanden hatten, lag jetzt ein Schild von Eis über den Hängen; wo im heißen Sumpf die Baumfarrn gewachsen waren, wölbten sich jetzt am Gletscherrand Tore, aus denen mit weißem, undurchsichtigem Wasser schmutzige Fluten quollen. Und immerzu wuchs der Gletscher, gefror wieder an seiner eigenen Kälte, wuchs weiter, schritt fort, eroberte eine Landschaft um die andere.

Dreng war wohl vertraut mit seinem Wesen und wußte, daß er kam. Er rechnete und beobachtete und sah ziemlich genau die Zeit voraus, in der das ganze Jahr nichts anderes mehr sein würde als Winter, und der Gletscher das ganze Land unterjocht haben würde. Instinktiv sammelte er Kräfte zum Widerstand, speicherte Erfahrungen auf, wappnete sich gegen das Kommende. Jeder Winter ward für ihn zu einer harten Schule, in der er lernte, sich vorzubereiten; selten mehr unternahm er etwas, ohne daß ein Sinn darin lag, der über den Augenblick hinausging, auch wenn er selber sich nicht immer der Absicht bewußt war. Der Gletscher war der Herr seines Lebens.

Die ersten Sommer seiner Einsamkeit waren manchmal noch ziemlich heiß, wenn auch sehr regnerisch. Die reinen Sintflutjahre. Wochenlang strömte der laue Regen und verwandelte das Land in neblige Sümpfe. Dann wieder stand der Gletscher da, reingebadet, klar, mit einem abgründigen Schimmer von Grün tief unten und hoch oben, wand sich dahin in meilenweiten Ausbuchtungen, zerrissen, übersät von den niedergestürzten Felsblöcken der Bergspitzen, auf denen ewiger Schnee lag, bis hinab ins regenumnebelte Land.

Dreng ward in diesen kurzen Sintflutsommern ein halber Wassermensch; er lernte auf Baumstämmen schwimmen, die er mit einem Ast weiterstakte; die angeschwollenen Flüsse und Seen vermochten ihn nicht mehr aufzuhalten. Wenn das Wasser zu tief ward, grub und bohrte er mit dem breiten Ende seiner Stange so lang und so tief, daß er trotz allem vorwärts kam. Der Hund begleitete ihn, bald am andern Ende des Baumstamms sitzend, bald daneben herschwimmend. Naß waren sie immer, durch und durch naß, die zwei, naß und durchgefroren bis auf die Knochen; aber es bekam ihnen merkwürdig gut.

Während der kurzen Sommerzeiten verfiel Dreng wieder in die Sorglosigkeit des Waldmenschen, warf seine Felle ab und streifte umher, ohne etwas anderes als seine Steinwaffen. Mit allen Poren sog er die Wärme ein, lag tagelang und briet in der Sonne, wenn sie endlich einmal durch die Wolkenklumpen brach. Aber die Wildheit, der Grimm vom Winter her steckte noch in ihm; und wartete bloß auf die Kälte. Das Erinnerungsvermögen war erwacht in ihm. Nie kam es so weit, daß er nicht mehr das grüne Flimmern des Gletschers gegen den Himmel gesehen hätte.

Im Sommer war Drengs Leben ein unablässiges Schweifen. Meilenweit zog er in die Runde auf der Jagd nach allerlei Wild. Er baute sich kleine Reisighütten für die Nacht, wo sie ihn grade überfiel, und zog am nächsten Morgen weiter. Auf seinen Streifzügen kam er auch hinab in die südlicheren Gegenden, von denen er stammte, und fand den Wald nun fast ganz zu einem wirren, unkenntlichen Sumpf verfault. Die Stämme der großen Bäume waren kaum mehr zu unterscheiden und bildeten einen fast undurchdringlichen Untergrund von gefallenem Holz, das Gesträuch und Unkraut vollständig zu überwuchern begannen.

Der Urwald erholte sich nicht mehr. Jedes Jahr trieben einige von den zerstörten Bäumen Wurzelschossen, die in die Luft hinauszuwachsen versuchten, und im Moder über den begrabenen Palmen grünten; neue Sprossen; aber Bäume wurden es nie. Der folgende Winter schon erstickte sie wieder. Keins der Urwaldgewächse kam mehr zu vollem Gedeihen; aber sie erhielten sich trotzdem am Leben durch kleine, verkrüppelte Ableger, von denen einige sich als lebenskräftig erwiesen und den Urwald späterhin weiterpflanzten, wenn auch in einem sehr veränderten, winzigen Maßstab. Andere Pflanzen dagegen, die früher nichts bedeutet hatten im Urwald, erhoben sich jetzt plötzlich und fingen an, mit vereinten Kräften auf die Bildung eines neuen Waldes hinzuarbeiten; die Nadelhölzer, die die Kälte vertrugen. Tannen und Fichten breiteten sich rasch auf den Gebieten des Urwalds aus, und sogar der Wachholderstrauch, der in dem warmen Wald als zypressenähnlicher Riesenbaum geprangt hatte, überwinterte mit ein paar kleinen, langsam wachsenden Wurzelschossen, die nach und nach den Pyramiden und Kuppeln des Mutterbaums ähnlich wurden, wenn auch im kleinen. Andere Gewächse entwickelten sich unter den neuen Verhältnissen aus Kräutern und Sträuchern zu großen Bäumen, indem sie die Fähigkeit zeigten, im Winter das Laub abzuwerfen und im Frühjahr neu auszuschlagen. Da waren die Birke und die Eiche, die früher bloß Sträucher im Urwaldunterholz gewesen waren, da waren die Espe und die Weide und noch viele andere, die jetzt zur Herrschaft gelangten und anfingen, Wälder zu bilden und im Sommer, wenn die Nächte hell waren, ihr vergängliches Laub spielen zu lassen.

Alles richtete sich nach der neuen Ordnung mit den wechselnden Jahreszeiten, da es nun einmal nicht anders war. Viele der ausgewanderten Tiere kamen in der warmen Zeit nach dem Norden zurück und kamen immer wieder, wenn sie auch nach und nach, mit dem Fortschreiten des Gletschers, wichen.

Fast alle Vögel zogen nordwärts, wenn die Sonne in blendenden Strahlen über den überschwemmten Landen stand, deren Linien sie nun einmal kannten. Der Überfluß an Wasser schreckte sie nicht, wenn bloß die Sonne Gras und Röhricht und hinlängliches Wurmgewimmel darin hervorlockte. Einzelne gab es auch, die von Anfang an und für immer im Süden blieben; der Flamingo und der Pelikan und verschiedene ähnlich empfindliche Vögel etwas zweifelhaften Aussehens, aber von besonders feinen Nerven zwischen den Schwimmhäuten; diese scheiden hiermit aus unserer Erzählung aus. Der ganze Rest jedoch, Gänse, Enten und Schwäne, Kiebitze, Lerchen und Schnepfen, grüßten Dreng, als sie in Schwärmen dicht wie Wolken von Süden einhergebraust kamen und mit freudigen Erinnerungsklängen sich in die meilenbreiten Seen stürzten, um welche die alten Wälder mit erblichenen Ästen und Wurzeln emporragten, soweit das Auge trug. Da quakten die Frösche, bis die Störche kamen und sie am Hals packten, da wimmelten Würmer mit ihrer jungen Brut in durchsonnten Wassern und lockten die Enten an; große Hechte zogen blitzende Furchen durch den Wasserspiegel, verfolgt vom Otter, und zwischen aufeinandergestapelten Hölzern bauten ganze Völker von Bibern ihre Ansiedelungen.

Das war eine Gier, ein Gebrüte und Gebäre ohne Ende; und Dreng schwelgte in Eiern und Geflügel und verträumte lange Wochen auf Eilanden, wo Bienen in hohlen, abgestorbenen Bäumen bauten. Auch viele der Landtiere machten den Versuch, in der warmen Zeit wieder nordwärts zu ziehen. Wenn Dreng hoch oben im nördlichen Hochland saß und Ausschau hielt, sah er oft weit in der Ferne, gegen den Südrand der Erde zu, der in Wolkenstrahlen von Sonne getaucht lag, eine altvertraute Erscheinung, die sich dort vom Himmel abhob, den Löwen mit seinem schweren Vorderkörper, ein fast unsichtbares Pünktchen in der Ferne. Oder er erblickte die feinen Linien einer oder der anderen frierenden Antilope, die vielleicht Hunderte von Meilen von den neuen Weideplätzen im Süden heraufgewandert war, bloß um einen Blick zu erhaschen auf die Heimat im Norden, die sie verlassen hatte. Es waren nur ganz vereinzelte Streifzügler und Empörer, und auch diese wandten stets um, nachdem sie von einer Anhöhe herab die zerstörten Wälder erblickt hatten. Ihr Schicksal verwies sie immer weiter und weiter gen Süden, und bald würde ihre Stätte hier sie nicht mehr kennen. Einige Landtiere kamen den Sommer über zu Besuch und zogen, wenn es kalt wurde, wieder ab; aber es wurden ihrer immer weniger. Sie konnten nicht, wie die Vögel, sich ihren Weg durch die Lüfte suchen und sich an ein alljährlich wiederkehrendes Wandern gewöhnen. Auch die wilden Pferde und ein paar andere Leichtfüße nahmen diese Art Lebensweise an; aber im allgemeinen trennte der Gletscher gar bald die, die bleiben und die, die ziehen wollten. Die ersten beiden Sommer versuchte auch das Flußpferd, zurückzukehren. Plätschernd kam es durch die Moräste herauf, fühlte sich aber höchst pikiert über die vielen Baumstümpfe und Äste auf dem Grund und ließ sich im nächsten Jahr nicht mehr blicken, sondern wandte dem undankbaren Vaterland den Rücken. Und der war breit.

Gleich im ersten Sommer fand eine große Versammlung der schwanzlosen Affen statt, die ähnlich wie der Mensch auf der Erde lebten. Sie hatten natürlich den Winter vergessen und richteten sich unter gewaltiger Selbstüberhebung und Rechthaberei und einer Unterdrückung sämtlicher anderer Lebewesen in einem Berggehölz ein, wo es die warmen Monate über Nüsse und Beeren die Fülle zum Schwelgen gab. Als Dreng im nächsten Frühjahr in die Ebene kam, fand er die Gerippe der ganzen Gesellschaft auf einer Insel, bis zu der sie in ihrem Versuch, der Kälte zu entfliehen, gelangt waren. Ein Sturm hatte sie überrascht, und man konnte noch an den fleischlosen Knochengerüsten sehen, wie sie in einem Klumpen dagesessen hatten, dicht aneinandergedrückt und engverschlungen, und so schließlich erfroren waren. Sie hatten Dreng stets geärgert durch ihr fortwährendes Auflauern und Nachgeäffe, und er machte sich ein Vergnügen daraus, ein Spottlied zu singen auf die ganze Bande. Es waren die letzten Affen, die er in seinem Leben sah. Weiter südwärts starben sie augenscheinlich auch aus, obwohl sie selbstverständlich immer im Recht waren und immer großartig sie selber waren.

Klüger war das Mammut, das Dreng oft sah in seinen ersten langen Jägerjahren, in denen die Zeit ihm vorkam wie eine Ewigkeit und in denen er ein anderer und zum Mann ward. Er und das Mammut waren von Anfang an Genossen. Noch jagte Dreng das Riesentier nicht, dazu war er noch nicht reif. Darum konnten die beiden wohl nebeneinander bestehen, ohne sich gegenseitig ins Gehege zu kommen. Sie lebten auch von ganz verschiedener Nahrung.

Das Mammut glich in seiner Eigenschaft als Elefant sich selber gar nicht mehr. Es hatte sich der Kälte wegen einen langhaarigen Pelz zugelegt, so daß es aussah wie ein bemooster, beweglicher kleiner Berg, wenn es so zwischen den Felsblöcken einhertrampelte und den Reif von den Lärchen schüttelte, um die grünen Nadeln in seinen Rüssel zu stopfen. Im Winter war es eine Dreng wohlbekannte Erscheinung. Oft traf er das gewaltige Tier in irgendeinem verschneiten Nadelgehölz, wie es, mit aufgerolltem Rüssel, im Schutz eines Felsblocks stand und der Schnee ihm zwischen die breitausladenden Stoßzähne hineinfegte. Da stand es, unendlich geduldig, und wiegte sich, schwerfällig wie ein Berg, sachte im Schneesturm hin und her, während ihm zwischen den mächtigen Beinen die lange Wolle wuchs; und unter den buschigen Brauen, die voller Schnee hingen, blickte es aus kleinen, lebendigen, wissenden Augen, gleich der verkörperten Einsamkeit. In den scharfen stillen Frostnächten, wenn Dreng in seiner Feldsteinhöhle wach lag, hörte er das hohle Husten des Mammuts in den Eisklüften widerhallen und in tönendem Ewigkeitsschweigen verklingen. Dann zog der Alte auf die Wanderschaft, empor über die Gletscher, im Schein des Nordlichts, vorsichtig zwischen den Eisgrüften und Eisblöcken mit den Riesenfüßen vorwärtstastend. Lange Wege wanderte er so über den Gletscher, um die Felseninseln, meist steile Bergzinnen, zu finden, wo die Zwergföhre wuchs, die seine Nahrung war. Im Sommer dagegen trompetete das Mammut faul und schleckig in den jungen Birken herum und spielte mit seinem Futter, legte es sich auf den Rücken, drehte es mit dem feinnervigen Rüssel um und um, eh es ihm beliebte, es zu verschlingen. In dieser Zeit haarte es sich auch und ließ seine grobe Wolle in den Dornbüschen und im Gestrüpp hängen.

Das Mammut gehörte zu den hellen Nächten, in denen die Birkenstämme weithin dämmerten gleich weißen, schwarzgefärbten Leibern. Da sah man es stehen und stampfen und mit den Ohren wedeln gegen die Fliegen, fern, fern auf den Höhen, wo der Himmel noch um Mitternacht gelb schimmerte; und man hörte auf weite Abstände hin das tiefe, satte Knirschen der schwerfälligen Zähne, gleich dem Rattern der Steine tief unter dem Gletscher.

Je mehr aber die Sommer abnahmen, desto seltener kam das Mammut herab vom Gebirg. Es ging vielmehr, sobald das Frühjahr kam, mit Vorliebe nordwärts; so lieb war ihm seine kalte Umgebung geworden. Und Dreng ließ sich das wohl oder übel zur Warnung dienen für künftige Zeiten. Er wußte, das Mammut war klug.

Dreng dachte ernstlich nach. Seine Kindheit war dahin und hatte in ihm bloß ein Empfinden hinterlassen, als ob endlos lange Jahre verflossen wären. Die Zeit, die er einsam in der Wildnis verbracht hatte, war wie ein Ring von Jahrtausenden. Er entbehrte nichts, er beherrschte seine Welt ganz und gar und fand immer mehr Mittel, sich sein Leben zu erleichtern. Er fürchtete niemand, weder im Himmel noch auf Erden. Mit dem Beil und dem Speer, der aus seiner Hand flog, hatte er sich alle Tiere untertan gemacht, und vor den blinden Mächten, die sich ihm im Schneesturm, im Dunkel entgegenstellten, schwieg er; sie waren Symbole des harten Lebens, das er lebte. Unbesiegbarkeit und Trotz in eins geschmiedet, zu einem Gewächs geworden. Er hatte die Natur und sich seihst überwunden.

Aber sehr einsam fühlte er sich. Wozu war er stark geworden? War wirklich für seine Kräfte kein anderes Ziel, als bloß leben? Die Zeit ward ihm nicht lang. Entweder jagte er für den Augenblick, oder er versah sich für die Zukunft. Arbeiten konnte er auch im Dunkeln; wenn er Zeit und Muße hatte, hockte er tage- und nächtelang vor seiner Steinhütte, prägte sich den Lauf der Gestirne ein und den Gang der Sonne am Himmel; und bald wußte er auch schon ein bißchen Bescheid mit dem Lauf der Himmelskörper, in welchen Zwischenräumen sie wiederkehrten, wie lang es jedesmal währte. Immer flogen seine Blicke auf und ab, dahin, dorthin, immer griffen seine Hände nach Neuem. Alles, was er auch nur einmal gesehen oder berührt hatte, haftete für immer in seinem Gedächtnis und lebte darin weiter. Jedem Neuen war er zugänglich, immer voll Eifer, jede neue Entdeckung jagte ihm gewaltsam das Blut ins Gehirn. Und wenn irgend etwas Neues ihn beherrschte, lief er herum wie ein Tier, das im Fieber, von Brutlust heiß, sich sein Nest baut. Sein Hirn arbeitete, alles in seinen Händen ward fruchtbar. Aber froh war er nicht.

In einem Sommer nahm er sich vor, die Spur seines Stammes gen Süden zu verfolgen. Von einer verlassenen Wohnstätte zur andern führte sie – viele Wochen lang. Von der Stelle, wo sie gehaust hatten, als Dreng sie verließ, waren sie längst weitergezogen, und der Wald war ausgestorben. Dreng kam über Berge, in wildfremde Gegenden, wo er sich keineswegs sicher fühlte, bis er schließlich zwischen Bäumen den Rauch eines Lagers aufsteigen sah und wußte: das waren sie. Warm war es auch hier nicht, soweit der Ort auch gen Süden lag. Wie mochte es ihnen ergehen? Sehnsüchtig schaute er nach dem Rauch; aber zu gleicher Zeit weckte dieser auch in seiner Erinnerung das Bild des Stammes, der da ums Feuer oder rundum in den Hütten gelagert war und haderte, tagaus, tagein haderte, schalt und keifte, ohne daß je einer zuschlug! Wenn er damals, an dem Tag, als er den Rachepfahl sah, den sie wider ihn errichtet hatten, sich ihren Wohnstätten genähert hätte, so hätte er ihre unbezähmbaren, gehässigen Stimmen gegeneinander zetern hören. Und er wußte, das würde er auch jetzt erleben. Darum ging er – vorüber! Außerdem – kam er mit Feuer? Hatte er in seiner langen Verbannungszeit das wiedergefunden, was er, bei sich selbst, für die einzigste Bedingung hielt, unter der er wieder nach Hause zurückkehren konnte? Nein, er ging nicht weiter.

Aber in diesem Sommer blieb er in der Wildnis nordöstlich der Wälder, wo auch die verschiedenen andern wilden Stämme, außer dem seinigen, sich niedergelassen hatten, alle möglichst weit voneinander entfernt und alle, wie immer, in wechselseitiger bitterer Fehde.

Von seinem Späherplatz hoch auf den Höhen erblickte Dreng oft den Rauch der Wohnstätte anderer Stämme, fern im Süden. Aber der Gedanke, Berührung mit ihnen zu suchen, oder auch nur, sich aus ihren Lagern Feuer zu holen, kam ihm nicht ein einziges Mal. Eine Annäherung an diese Fremden war ja doch bloß auf eine Art denkbar.

Und wirklich geschah es auch in diesem Sommer, daß Dreng auf den einen oder andern Menschen stieß, der neugierig oder dummdreist genug gewesen war, sich zu weit nordwärts, in die öden Gebiete des Frosts, zu wagen. Bei derartigen Gelegenheiten konnte er seine Sehnsucht nach Menschen befriedigen. Es konnte gut ausfallen, es konnte aber auch eine Enttäuschung sein, je nachdem es ein junger Mensch mit gutem Blut oder ein alter, zäher Urmensch war, der sich nicht beißen ließ. Einmal blieb Dreng von einer derartigen Begegnung eine gar nicht sehr angenehme Erinnerung in Form von Verdauungsbeschwerden zurück. Es war ein alter, winddürrer Waldmensch gewesen, den er an einem Bach beim Krebsfang überrascht und unbesehen, sozusagen an Ort und Stelle, verschlungen hatte. Uh je! Noch lang taten ihm nachher die Zähne weh! Viel fehlte nicht, und es hätte sich gradezu ein Vorurteil gegen das Verspeisen eigenen Fleisches und Bluts in ihm gebildet! Sein Verlangen nach Menschen nahm ganz gewaltig ab, nachdem er so ein Dutzend Stück ausprobiert hatte. Außerdem wagten sich schließlich überhaupt keine Menschen mehr auf die Nordseite der Wälder, weder in Herden noch einzeln. Unter den Stämmen fing an ein Gerücht umzugehen von einem schlimmen Zauberer droben in der Wildnis, halb Bär, halb Mensch, der alles, was sich jener Seite näherte, zerriß und auffraß. Also wanderte Dreng wieder nach Norden, seinen alten, kalten Regionen zu.

Aber nachdem er ein paar Wochen lang, wie früher, ausschließlich auf tierische Diät angewiesen gewesen war, fing er an, in seinen Träumen von einem recht jungen, blutvollen Menschen zu fabeln; nur ein einziges Mal wieder!

Und so kam es, daß er nur zögernd und auf vielen Umwegen und Abstechern in seine Einsamkeit zurückkehrte.

Und auf einem dieser Abstecher, den er in einer vor sich selbst halb versteckten Hoffnung unternahm, weil er ja doch sicher war, enttäuscht zu werden, begegnete ihm das Wunder seines Lebens. Es war ein Mensch, endlich wieder ein Geschöpf, das aufrecht ging! Dreng erblickte seine Beute eines Tages in einem öden Tal im vollen Lauf nach einer Höhle zu. Später, als er ihr den Weg abgeschnitten hatte, sah er sie das Tal hinabrennen, über einen Bach weg, und hinter einem Hügel verschwinden. Und die Jagd begann. Drei volle Tage und Nächte währte sie und endete erst weit, weit fort, in einer Gegend, die Dreng völlig unbekannt war, und die nicht zum wenigsten dazu beitrug, daß diese Jagd Drengs größtes Erlebnis ward! Das Wild, das rascher lief und ausdauernder als ein Renntier, führte Dreng weit hinaus, dahin, wo alles Land aufhörte und wo nichts war als Wasser, ein unermeßlicher See, so weit das Auge reichte. Es war das Meer.

Gleich als der Mensch die Flucht ergriff, fiel es Dreng auf, daß er weder nach den Wäldern zurück noch nach den Bergen hinaufstrebte, sondern über die niederen Steppen und Sümpfe hin abbog, die sich westwärts, gen Sonnenuntergang, erstreckten. Wohnten auch auf jener Seite Leute? Oder hatte der Mensch keinen Stamm, zu dem er flüchten konnte?

Was ihn noch mehr verwunderte, war, daß der Mensch augenscheinlich etwas anhatte; kein Fell, wie er selber, sondern etwas anderes, das im Winde wehte und flatterte, während er lief. Wenn es eine Art Kleidungsstück war, so war das wohl am Platz. Denn es war schon spät im Jahr, und Hagel und Stürme drohten. Aber Dreng wußte, sich selber ausgenommen, von keinem Menschen, der es verstand, Kleider umzulegen gegen die Kälte. Weiterhin bemerkte er, daß der Flüchtling weder Miene machte sich zu verteidigen, noch sich durch List zu retten suchte, sondern einfach immerzu rannte und rannte, und das für das einzige Rettungsmittel zu halten schien; etwa so, wie es die wilden Rinder machten. Also handelte es sich in diesem Fall einfach darum, das Wild in eine Sackgasse zu jagen oder es zu Tode zu hetzen.

Es erforderte Drengs volle Kraft, die Spur nicht zu verlieren; und in den ersten Stunden gewann der Mensch vor ihm einen Vorsprung. Aber nach einer Weile kam Dreng ihm näher, erst kaum merkbar, aber doch so weit, daß er die Jagd nicht aufgeben mochte. In der Nacht ruhte Dreng ein paar Stunden, aß und schlief; und am nächsten Tag mußte er bis über Mittag der Spur nachgehen, eh er sein Wild wieder erblickte.

In der nächsten Nacht hatte das arme, gejagte Menschenwesen sich einiger armseliger Kriegskniffe bedient, war durchs Wasser gewatet und wieder zurück, hatte sich in einer Felswüste versteckt. Aber Dreng spürte es auf und verfolgte es noch schärfer als zuvor. Viele, viele Meilen waren schon zurückgelegt, und sie waren in Gegenden angelangt, die Dreng völlig fremd waren.

Rudel von wilden Pferden sprangen da und dort auf und galoppierten wild im Kreis herum, blieben wieder stehen und schauten Dreng an, der in langem, flüchtigem Trab vorübereilte. Während der Verfolgung wetzte Dreng die Zähne, erbarmungslos. Im übrigen unterschied sich die Jagd in nichts von seinem täglichen Leben; bloß daß das Wild diesmal ein edleres und begehrteres war, als gewöhnlich.

Am letzten Tag ging der Mensch da vor ihm nur langsam weiter; er schien krank und gliederlahm zu sein. Sie waren an das große Wasser gelangt und bewegten sich am Ufer entlang, wo der Sand, fein gemischt mit runden Steinen und allerlei seltsamen Dingen, lag. Dreng lief, neugierige Blicke auf alles, was er am Strand sah, werfend und mit vollen Nüstern den starken Geruch einatmend; aber er nahm sich nicht die Muße stehen zu bleiben. Das alles hatte ja Zeit, bloß ein paar Augenblicke noch; der Mensch vor ihm lief, ohne voranzukommen, stolperte kraftlos weiter und sah recht krank aus von hinten. Ab und zu taumelte er nieder auf den Sand, erhob sich wieder und versuchte weiterzurennen; schließlich auf allen Vieren. Die Jagd war zu Ende.

Dreng näherte sich seiner Beute in großen, doppelt ausholenden Sätzen, aber ohne seinen Speer zu werfen oder sein Beil zu gebrauchen. Hier genügten die Zähne; und er leckte sich, hungrig und vor allem durstig wie er war, mit der Zungenspitze die Unterlippe.

Da sah er, daß es ein Weib war. Sie lag auf den Knien, das Gesicht im Sand, und erwartete ihr Schicksal. Keinen Laut gab sie von sich, als Dreng sie umdrehte und ihre Augen sich trafen. Jeder Gedanke an Mord erstarb in ihm. Selbstverständlich würde sie leben.

Aber in einem letzten rachgierigen Bewußtsein dessen, was sie ihn gekostet hatte an Verlangen und Mühsal, wies er die Zähne. Das Entsetzen, sich in seiner Gewalt zu wissen, wich sogleich aus ihrem Blick, sie fühlte, daß sie am Leben bleiben würde; und auch sie entblößte all ihre Zähne gegen ihn, wie um zu beißen; aber keins von ihnen biß. Und dies war das erste Lächeln.

Von da ab blieben sie zusammen. Sie waren zwei Menschen, allein auf dem Gletscher – das einzige Menschenpaar im Norden.

Die Sonne brach durch die Wolken und sah, daß außer ihnen niemand da war. So entstand die Monogamie.


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