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Moa

Und nun der Alltag. Es ward Winter, und Dreng und Moa wanderten ihm aus freien Stücken entgegen, zogen gen Norden, bis zum Rand des Gletschers, wo er für gewöhnlich hauste und sich daheim fühlte. Hier lebten sie, erst ständig auf der Wanderschaft, dann fest angesiedelt, und wurden mit den Jahren eine Familie.

Die Kälte war nichts Neues für Moa. Sie war gewöhnt, sich allen Jahreszeiten anzupassen. Dreng gewann nach und nach einen Einblick in all die kleinen Kunstgriffe, deren sie sich zu ihrer Notwehr bediente. Sie waren so anspruchslos und so naheliegend, daß niemand, der daran gewöhnt war, im Wald zu leben, darauf verfallen wäre. Moa hatte sie einfach angewendet. Die Kleider, die sie trug, als Dreng sie traf, hatte sie selbst erfunden; und Dreng merkte, zu seinem eigenen Nutz und Frommen, daß zwei Menschen, die fern voneinander lebten und nicht die geringste Ahnung hatten voneinander, auf ein und dasselbe verfallen konnten. Das war die Ursache, weshalb er, mit gebrochenem Selbstbewußtsein und voll Dankbarkeit Moa aufnahm in seine Einsamkeit; und so ward daraus die erste kleine Gemeinde auf Erden. Im Urwald näherten Mann und Weib sich einander wie die Wölfe, und kein Weib ward Mutter, ohne Male von den Zähnen eines Manns im Nacken. Dreng und Moa waren das erste Menschenpaar, das Blick in Blick getaucht zusammenlebte.

Im übrigen waren Moas Kleider, was den Stoff anbelangt, etwas verschieden von denen Drengs; es waren keine Felle, sondern eine Art geflochtener und verfilzter Fries aus Mammutwolle, die sie von den Dornbüschen gesammelt und zu einem groben, sehr dicken und warmen Garn gedreht hatte. An den Füßen trug sie geflochtene Bastschuhe, und ein kunstvoll gearbeiteter Weidenkorb, worin sie alle ihre kleinen Besitztümer, die seltsamsten Kostbarkeiten in Form von allen möglichen Dingen, wie sie auch gewisse Vögel sammelten, aufbewahrte, kam nie von ihrer Seite. Hierin verwahrte sie Körner, Zähne, kleine Steine, die ihr ihrer Farbe oder Rundheit wegen gefielen, Federn, welke Blumen, Binsenseide, alle Arten von glänzenden Gegenständen und alles, was sich weich anfühlte; außerdem natürlich auch noch ihre Nahrung, die von merkwürdiger Beschaffenheit war. Wenn der Korb zu voll wurde, legte Moa da und dort unter Steinen oder in Höhlen Vorratskammern an. Nie warf sie etwas weg, aber sie vergaß leicht, was sie versteckt hatte. Sie war so gut.

Dreng vermochte nie so recht zu ergründen, wie Moa in die Wildnis gekommen war und wie sie es angefangen hatte, die Kälte zu überstehen. Sie war sehr wortkarg. Nicht aus Geheimniskrämerei oder weil ihr der gute Wille gefehlt hätte; aber augenscheinlich existierte für sie überhaupt keine zusammenhängende Vergangenheit. Sie war das verkörperte Leben, aber bloß im Augenblick selbst; alles, woran sie sich erinnerte, ging über sie hin wie der Schatten eines Erlebnisses; aber es war nicht an sich. Wenn Dreng fragte, wie sie von ihrem Stamm abgekommen wäre, konnte sie äußerst ausdrucksvoll ihr wildes Haar schütteln, versuchte wohl auch, eine lange Geschichte zu erzählen, die ihr plötzlich, ihrem Mienenspiel nach zu urteilen, ganz gegenwärtig war, aber es kam nichts weiter zutag als ein großes Sehnen, ein überströmender Reichtum in den Augen und ein paar Worte oder richtiger Sanglaute; und damit glaubte sie eine ganze Welt erschöpft zu haben. Dreng mußte sie ja doch verstehen. Wer sie war, das sah er ja; warm, immer so dicht wie möglich bei Dreng; und alles, was sie konnte … war das nicht Erzählung genug?

Aus allem, was Dreng so nach und nach schloß, war Moa aus irgendeinem Grund, der mit ihrem eigensten Wesen gar nichts zu schaffen hatte, eine Ausgestoßene geworden, genau wie er selbst, und hatte sich in die Wildnis geflüchtet; es mußte in ganz jungen Jahren geschehen sein; denn sie war jetzt erst knapp ausgewachsen und hatte doch offenbar schon manchen Winter in der Einsamkeit verbracht. Vielleicht hatte in ihr etwas vom selben Geist gesteckt, wie in Dreng, hatte auch sie in Widerspruch gebracht mit allen andern des Stamms und ihr die Kraft gegeben, einsam und ohne Feuer zu leben. Der Nordwind hatte ihr das Haar aus der Stirn gestrichen und sie hatte gelernt sich selbst zu helfen.

Eigentümlich war es zu beobachten, wie sie in der Schule des Winters sich die gleiche Widerstandskraft angeeignet hatte, wie Dreng, und doch auf eine andere Art. Er entdeckte das nach und nach, je länger sie miteinander lebten und jemehr er mit Moas Gewohnheiten bekannt wurde. Mit Jagd hatte sie sich nicht abgegeben; alle Tiere jagten ihr nur Schrecken ein, namentlich die allerkleinsten, wie zum Beispiel Mäuse, vor denen sie oft schreiend auf Felsblöcke flüchten konnte. Dagegen verzehrte sie voller Gemütsruhe Ameisen, Schnecken und alles, was da kroch, auch Fliegen und sonstiges Ungeziefer, jedoch mit strenger Übergehung der Spinnen. Sie schien zwischen den Tieren nach ganz eigenen, unergründlichen Gesetzen zu unterscheiden.

Im allgemeinen lebte sie fast ausschließlich von Pflanzenkost und hatte sich darin, mit oder ohne Geschmack, eine ganze Anzahl neuer Speisen geschaffen. Da sie keine Früchte mehr hatte, wie daheim im Urwald, hatte sie sich mit Gras und Wurzeln und Kräutern gesättigt, die sie in den Sümpfen und felsigen Gegenden fand, in denen sie hauste; und daß sie klug genug gewesen war, das Nahrhafte herauszufinden, bewies sie durch ihre Existenz, lebensvoll und kerngesund, wie sie war. Im Sommer ging das ja an, und bis weit hinaus ins Spätjahr war in den Morästen alles voll von Beeren, die sich auch Dreng zunutze gemacht hatte. Aber wie war sie durch den Winter gekommen, als es in der Wildnis weder Wurmgezücht noch Wurzeln gab? Sie hatte nicht den bewußten Sinn des Vorrätesammelns für die kalte Jahreszeit, wie Dreng; und trotzdem hatte sie sich durchgebracht.

Es war ganz einfach ihr allgemeiner Sammlerdrang, der sich so weit erstreckt hatte, daß sie selbst durch lange Zeiten hindurch, in denen keine Nahrung erreichbar war, sich mit den aufgestapelten Schätzen in ihrem Korb oder ihren sonstigen Verstecken durchhelfen konnte. Alles Mögliche sammelte sie, und von allem so viel wie möglich, und dieser blinde Trieb hatte sich vereinigt mit dem Selbsterhaltungstrieb: sie hatte immer irgendwelche Vorräte. Und so kam sie durch den Winter.

Moa verstand sich darauf, allerhand eßbare Wurzeln zu trocknen; oder auch waren sie ganz von selbst trocken geworden in ihrem Versteck; und von solchen Waren häufte sie große Massen auf. Am meisten liebte sie den Samen verschiedener Grasarten, den sie abschälte und mit besonderer Sorgfalt in großen Mengen aufhob. Vermutlich fing es damit an, daß sie diese Körner liebte, weil sie so klein waren und in ihren Augen kleinen Kinderchen glichen, winzig kleinen wilden Lämmerchen, die sie päppeln mußte, die ihr gehörten; und sie hatte darin kein Maß gekannt, sondern hatte sich eine endlose Anzahl davon beigelegt, bloß um sie zu haben; eine ganze Welt von kleinen, herzigen Kinderchen. Später hatte sie dann, wenn die Not es gebot, die Körner verspeist. Eine Handvoll genügte, um Moa für den ganzen Tag zu sättigen.

Insbesondere sammelte sie die Körner eines großen Grasgewächses mit langen, borstigen Ähren, – der wilden Gerste. Dreng kannte es wohl; er hatte manchmal ein einzelnes Korn versucht, wenn es ihm zufällig im Haar hängen geblieben war, und es hatte recht gut geschmeckt. Moa aber sammelte sie alljährlich massenweise, und sie wurden bald zu einem festen Beitrag zu ihrer und Drengs täglicher Nahrung.

Die Jahre gingen, und Moas Gewohnheiten bildeten sich stärker aus, während sie vor dem Gletscher zurückwichen und längere oder kürzere Zeit einmal da, einmal dort hausten. Dreng ließ sie ruhig bei ihrem Treiben, widmete sich seiner Jagd und verbesserte seine Gerätschaften; ab und zu bemerkte er, daß Moa mit allerhand neuen Dingen herumhantierte, Dingen, die sozusagen ganz von selber kamen. Sie sammelte, wo sie auch waren, fleißig Mammutwolle und sonstige Tierhaare, und wand später, daheim in der Steinhütte, Garn daraus, das sie zu Kleidungsstücken flocht. Zum Sommer verfertigte sie sich leichte Röcke aus Binsen und gedrehten Grasfasern und versuchte immer wieder und so lange, bis sie schließlich bei einer Pflanze blieb, die sich ganz besonders dazu eignete, einem kleinen Gewächs mit blauen Blüten, dem Flachs. Und dies und Moas unermüdliche Finger hatten seither immerzu miteinander zu schaffen. Für ihr Getreide flocht Moa Weidenkörbe und machte sie dicht mit Lehm, damit nichts herausfallen konnte; auf diese Art sollte sich späterhin ihr Geschlecht nach und nach zur Töpferei weitertasten. Aber weder dies noch alles mögliche andere wollte so recht gedeihen, eh Dreng wieder zu Feuer kam.

Es waren schon ein paar Kinder da. Das erste gebar Moa eines Tags, als Dreng fort war; nächstesmal entfernte sie sich von der Hütte und verkroch sich hinter einen großen Steinblock, wo Dreng sie ein bißchen wimmern hörte, bis sie etwa eine Stunde nachher mit einem neuen Kinde zurückkam. Es waren kleine, blinde Geschöpfe mit bräunlichem Flaum über den ganzen Körper, die im Anfang fast immer schliefen in dem geflochtenen Sack auf Moas Rücken. Aber sie wuchsen heran wie der Wind; der Älteste stampfte schon mit dickem Bäuchlein vor der Tür umher und untersuchte alles, was nur irgendwie lose umher lag in der Welt. Der Vater machte ihm ein Steinbeil, nicht größer als ein Daumennagel, womit der kleine Mann böse Verheerungen anrichtete unter den jungen Hunden, die die Wohnstätte umlagerten. Und wieder sah Dreng flaumige Kinder Federn in die Luft blasen und spielen, es seien Vögel, wie einst, in dem verlorenen Wald. Aber jetzt war es ganz anders.

Das Haus mußte geräumig und fest gebaut werden, damit die Familie Platz darin fand. Wenn Dreng auf die Jagd ging, wälzte er einen großen Stein vor den Eingang; und darunter saß Moa mit den Kindern, in aller Sicherheit hinter ihrer Flechtarbeit. Tags über schob sie einen kleineren Stein in der Hütte beiseite, damit ein bißchen Licht zu ihr eindrang; sonst war es immer ziemlich dunkel, besonders im Winter. Während der kalten Zeit wohnten sie immer an einem Ort, und manchmal wurde der zu einem ganz weitläufigen Wohnplatz; Dreng mußte verschiedene gesonderte Räume errichten für alle ihre Vorräte an Wurzeln und Getreide und gedörrtem Fleisch. Er wählte immer mit Bedacht einen Ort, der schon an sich Schutz gewährte, am liebsten eine natürliche Höhle, oder auch nur einen natürlichen Felsvorsprung, den er zubaute oder, wenn sich gar nichts anderes fand, eine Vertiefung in der Erde.

Der Gletscher zwang sie zu ununterbrochenem Wandern, manchmal geradezu buchstäblich gesprochen; der Eisrand drang bis zur Wohnstätte vor, drang und schritt sogar über sie hinweg. Sie waren auf diese Weise so weit nach Süden gedrängt worden, daß sie nun der Lage nach so ungefähr in der Gegend hausten, in der Dreng geboren war und seine Kindheit verlebt hatte. Er erkannte das aus mancherlei Merkmalen; es war auch in der Nähe des ausgebrannten Kraters. Aber wo früher Urwald gestanden hatte, breitete sich nun ein fester Eisschild aus, meilenweit und höher als die höchsten Bäume des Walds. Seltsam verändert war alles. Und Dreng, der die Veränderung miterlebt hatte, kannte sich zeitenweise selber kaum wieder.

Inzwischen ward das Wandern immer schwieriger. Moa gebar immer mehr Kinder, und schleppte auch herzlich gern eins auf dem Rücken und eins auf dem Arm und eins an der Hand und ein paar hinter sich, an einer Rockfalte hängend, mit; aber sie hatten nachgerade soviele unentbehrliche Dinge bei sich, daß es fast nicht mehr möglich war. Moa schleppte weit mehr als ihr eigenes Gewicht, immer still, immer liebevoll. Wandern mußten sie, der Gletscher sagte: »Ich will«; aber bleiben konnte es so nicht.

Dreng hatte auch so viele Verbesserungen eingeführt, daß es recht schwer war, aufzubrechen, wenn sie sich einmal an irgendeinem Ort niedergelassen hatten. Er hatte angefangen, Tiere zu halten an seinem Wohnsitz. Es kam ja oft genug vor, daß er auf der Jagd Gelegenheit hatte, das eine oder andere Tier lebendig zu fangen, ein wildes Pferdefüllen oder eine Renntierkuh; die brachte er jetzt heim und ließ sie, an Fellriemen angebunden, in der Nähe seines Wohnplatzes weiden. Für den Fall, daß es an Wild fehlte, konnte man sich an diese gefangenen Tiere halten. Im Lauf der Zeit griff das um sich, so daß er nach und nach mehrere wilde Pferde und Rinder, Renntiere und Ziegen hatte, die sich in der Gefangenschaft vermehrten und bald zu ganzen Herden wurden. Manchmal brachen nachts die Wölfe ein; Dreng errichtete Umzäumungen aus Zweigen und Flechtwerk. Im Spätjahr schlachtete er die meisten und dörrte das Fleisch zum Wintervorrat; einige aber, die ganz zahm geworden waren und fast zur Familie gehörten, ließ er auch den Winter über leben. Moa und die Kinder fütterten sie mit Gras, das sie den Sommer über gesammelt und getrocknet hatten. Die halbgezähmten Pferde und Renntiere ließen sich leicht auf der Wanderschaft mitführen und gaben sich sogar dazu her, daß Moa manches von ihrer Bürde auf ihren Rücken ablud und sie so verwertete. Die Kinder waren gar bald vertraut mit den kleinen, klugen Pferden, die nun schon gar nicht mehr wild waren, und verfielen bald darauf, sich rittlings auf sie zu setzen, wenn sie unterwegs waren.

So formte sich nach und nach der Aufzug; an der Spitze Dreng mit dem Steinbeil, immer auf alles gefaßt, immer kampfbereit. Er hatte nur ein Auge; aber dieses Auge sah alles, umfaßte alles, was sich auf Meilen im Umkreise regte. Er packt die großen Steine, die ihm im Weg liegen, mit den Händen, wälzt sie um und stößt sie dann mit den Füßen beiseite, während er unaufhaltsam, den Blick auf den Horizont geheftet, weiterschreitet; hinter ihm kommen Moa mit den Traglasten, die Kinder und die Haustiere in fröhlicher Kameradschaft, die Kleineren auf den Größeren reitend. Unter dem Himmelsrand liegt das grüne Flimmern des Gletschers, der heimlich herüberdroht und sie zum Wandern zwingt. So zieht der Steinaltermensch daher mit den Seinen.

Nach und nach aber hatte das Wandern ein Ende. In einem Jahr ließen sie sich auf einer Berghöhe nieder und konnten sich nicht entschließen, wieder von dort aufzubrechen; und hier wurden sie vom Gletscher eingeschlossen.

Der Berg hatte ein paar Meilen im Umkreis und war auf dem Gipfel flach, jedoch so hoch, daß das Eis nicht über ihn wegstieg, obschon es sich rund umher ausbreitete. Auf dieser Insel, die bald nach allen Seiten hin meilenweit in Eis lag, blieben sie ansässig, während der Gletscher immerzu wuchs und weiterschritt.

Die Familie wuchs, Knaben und Mädchen waren da, weit über das Zählvermögen der Eltern und den Begriff »viele« hinaus. Aber – mit oder ohne Nummer – jedes machte sich zur Genüge bemerkbar und aß für einen vollen Menschen. Moa, die zuvor ihren Sammeleifer an den augenblicklichsten Dingen ausgeübt hatte, hatte jetzt ihre wahre Aufgabe erfaßt und schien eine ganze Bevölkerung in die Welt setzen zu wollen. Alljährlich, wenn der Sommer wiederkehrte und die Berginsel im Schmuck von Blumen und Laubbäumen stand, reckte sich aus dem Rückensack Moas ein neuer, flaumiger Kopf.

Die ältesten liefen wild umher. Dreng hatte schon beinah erwachsene Söhne, die anfingen mit den Augen längs des grünen Flimmers zwischen Gletscher und Himmelsrand umherzusuchen und aufmerksam zu wittern, wie werdende große Jäger.


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