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Das Einhorn

Es war ein Mann, der hieß Hvidbjörn und der nicht aus dem Geschlecht der Garmsöhne stammte. Früh schon hörte er von Unrecht und Übergriffen jener. Hvidbjörns Vater pflegte daheim in der Höhle zu sitzen, den Rücken in die dunkelste Ecke gedrückt, und die Lippen zu bewegen mit allen Anzeichen von Verwünschungen, die in ihm kochten. Das war immer, wenn die Garminger ihm eine Kränkung angetan hatten, die ihm wie glühender Stein auf dem Herzen lag. Aber kein Laut kam hervor; er schluckte seinen Ingrimm hinunter. Hvidbjörns Vater war ein großer Jäger, der Ildgrim, dem gegenwärtigen Ältesten des Garmgeschlechts, alljährlich einen ganzen Haufen von Mammutzähnen und anderer Jagdbeute als Abgabe entrichtete.

Hvidbjörns Vater war sehr stark, und Ildgrim war ein Knirps, der seine fetten Glieder niemals weiter schleppte, als von den Vorratskammern zur Schlafstätte. Und Hvidbjörn wunderte sich als Kind oft darüber, wenn er die beiden nebeneinander sah und hörte, wie Ildgrim, der dem Vater knapp bis zur Brust reichte, diesem Befehle erteilte. Wenn Hvidbjörn mit den andern Kindern scharenweise über die Insel auszog, und der gesunde Knabenappetit sie recht dreist machte, redeten sie immer davon, wie sie groß werden und Ildgrim auffressen würden, und das helle Wasser lief ihnen im Mund zusammen, wenn davon die Rede war, während zugleich ein Gruseln sie überkam; denn Ildgrim hatte ja doch den heiligen Stein, der die Menschen tötete und ganz von selbst wieder in seine Hände zurückkehrte.

Später, als Hvidbjörn groß und ein Jäger ward, lernte er die Ehrfurcht vor Allvater und wurde am Grab geweiht, den Hauptanteil seiner Beute den Garmingern zu opfern. Bei dieser Gelegenheit ließ Ildgrim sich ihm wie vorher schon so vielen andern gegenüber vernehmen, daß seine Opferwilligkeit ihm zugute kommen würde, wenn Allvater nun bald käme und sein ganzes Volk heimführen würde in das reiche Land, von dem er ja wüßte. Jawohl, Hvidbjörn wußte wohl Bescheid in dem herrlichen Sommerland, das einst verloren gegangen war und das, wie Ildgrim sagte, dereinst wiederkehren würde. Aber er machte sich just nicht besonders viele Gedanken darüber. Ihm war der Gletscher lange gut genug. Was die Opfer betraf, so hielt Hvidbjörn sich dadurch schadlos, daß er das Zehnfache erlegte. Er ward ein gewaltiger Jäger und der fröhlichste Mann auf der ganzen Insel, immer voller Sang, keines Menschen Feind, nicht einmal Ildgrims.

Aber Hvidbjörn verliebte sich in ein Mädchen, und da hatte der Friede ein Ende. Es war der Brauch, daß, wenn junge Leute zueinander und einen Herd gründen wollten, sie an Allvaters Grabhügel gesegnet wurden und ihr Feuer vom heiligen Holzstoß empfingen. Alles andere Feuer war als unzüchtig verpönt. Kein anständiger Mensch versuchte diesen Brauch zu umgehen, und es gab bloß anständige Menschen auf der Berginsel. Aber diese Einsegnung kostete viel und verpflichtete auf ewig, und außerdem stand es noch immer beim Oberpriester Ildgrim, ob er die Verbindung überhaupt genehmigte. In Hvidbjörns Fall verbot er sie. Ildgrim hatte Hvidbjörns Familie nie wohl gewollt, und das Mädchen begehrte er heimlich selber. Vaar hieß sie, und war wunderschön.

Nun darf man von Ildgrim nicht glauben, daß er ganz einfach das Verbot aussprach und damit die Sache erledigte. Wer das denkt, der kannte den Priester Ildgrim nicht. Hvidbjörn ward die Ablehnung seines Antrages in der vorsichtigen Form mitgeteilt, daß an dem Tag, an dem er das Horn des Einhorns auf Allvaters Grab niederlegen würde, Vaar die Seine wäre. Nur daß das unmöglich war.

Hvidbjörn lächelte. Er zog auf den Gletscher hinaus und blieb ein Jahr lang fort, und als er zurückkehrte, hatte er das Untier erlegt. Es war die größte Tat, die je ein Mann auf dem Gletscher ausgerichtet hatte. Niemand hätte das für möglich gehalten. Bloß Dreng, dem Alten, traute man die Kraft und Stärke zu, die solche Tat erforderte. Und Hvidbjörn erhielt den Namen »Einhorntöter« und ward gefeiert in Sage und Sang.

Er selbst ritzte auf das Blatt seines Speers eine Abbildung der ganzen Jagd zum ewigen Gedächtnis. Als erstes sah man einen langen Strich mit vier Strichen darunter und einem schrägen Strich oben nach vorn; das war das Einhorn. Dahinter sah man einen Strich mit einem zweiten Strich querüber; das war Hvidbjörn mit seiner Harpune, das übrige – der Kampf und das Ende des Einhorns – verstand sich von selbst.

Das Tier war eigentlich ein Nashorn. Nicht das gewöhnliche, wollhaarige und bösartige Rhinozeros, das der Spur des Mammuts auf den Berginseln folgte und oft von dem Gletschervolk erlegt wurde. Wohl war dies gefährlich und grimmig und ein unguter Feind; aber gegen das Einhorn war es nichts.

Dies, das ganz einzig war in seiner Art, hatte bloß ein Horn und war fast dreimal so groß wie ein gewöhnliches Nashorn. Es hatte einen längeren Rumpf als das Mammut, war aber nicht so hoch. Das Furchtbare aber war, daß es lief und sprang wie ein Hirsch, trotz seines ungeheuren Gewichts, und daß es angriff, ohne daß man ihm erst auf den Leib rückte. In seinen Gesichtskreis zu geraten bedeutete sicheren Tod.

Sobald es den Jäger nur witterte, kam es auch schon einhergestürmt, unter ohrenbetäubendem schmetterndem Gewieher, das mannshohe Horn, das mitten auf der Stirn zwischen den Augen saß, vorgereckt, um den Unglücklichen, der sich ihm auf Meilen zu nähern wagte, aufzuspießen. Es wirkte an sich schon geradezu lähmend, ein so übernatürlich großes Tier so leichtfüßig rennen und sich wenden zu sehen wie einen Hund, es war das schwerste und flinkste Tier der Welt. Wenn es in blitzschnellem Galopp einhergesaust kam, hinterließ es Löcher im Boden, in denen ein Mann aufrecht hätte stehen können, und ehe man sichs versah, warf es sich zur Seite – man entwischte ihm nie …

Das Allerunheimlichste war, daß es fast nicht zu sehen war auf dem Gletscher oder den weidenbewachsenen Klippen, wo es sich aufhielt. Wie ein länglicher Felsblock konnte es auf dem Eis oder einem Stück Zwergwald liegen, bis es auf einmal sich erhob und im nächsten Augenblick auch schon da war. Die Jäger kannten schon alle ihr Schicksal, wenn in der Ferne auf dem Gletscher irgend etwas, was sie für einen toten Gegenstand angesehen hatten, plötzlich lebendig ward. Das Einhorn erblicken und noch in derselben Minute gespießt oder zu unkenntlichen Fetzen zertrampelt werden, war ein und dasselbe. Bloß ganz Vereinzelte waren ihm entgangen, und von denen stammte, was man von dem grauenhaften Tier wußte. Das Gletschervolk glaubte, es gäbe nur ein einziges Exemplar dieses Tieres, ein weibliches Einhorn, das existierte, seit die Tiere aus dem verlorenen Lande ausgetrieben worden waren. Da hatte das Einhorn, so hieß es, keinen Genossen mehr gefunden, sondern hatte allein leben müssen und war auf dem Gletscher eine alte Jungfer geworden. Und darum war es so lang und sehnig und zäh und so giftig erbost gegen alle Welt. Die wenigen, die eine Begegnung mit dem Tier überlebt hatten, erzählten, es hätte ganz kleine, rote Augen, als hätte es eine Ewigkeit lang geweint, und wenn man es beim Neumond in meilenweiter Ferne auf dem Gletscher stöhnen hörte, so hieß es, das sei das Einhorn, das, den Schweif dem Nordwind zugekehrt, da draußen klage, als ob das Herz ihm brechen wolle um den Genossen, den es nie besessen.

Darum, weil es nie Junge gehabt hatte, besaß es auch diese entsetzliche Jugendlichkeit der Bewegungen; es galoppierte noch immer wie ein Kalb und war doch so alt, daß ihm der Flint am Bug wuchs. Leute, die aus eigener Anschauung erzählten und noch heute bei der Erinnerung erschauerten, sagten aus, es sei im Gesicht und überall, soweit man vor dem weißen Fell sehen könnte, so runzelig, daß man sich geradezu daran schneiden könnte; die Falten waren versteinert vor Alter. Und das Horn wäre so lang geworden, viel länger als bei einem Männchen, weil es so einsam dies hohe Alter erreicht hätte.

Ein solches Geschöpf zu besiegen, das noch die ganze Glut und Raschheit der Jugend besaß, das mit der Kinderlosigkeit die Erfahrenheit der Unsterblichen verband, und diesen Bund gehärtet hatte in Eis und Einsamkeit, das hielt das Gletschervolk, nicht ohne Grund, für geradezu unmöglich. Und nun hatte Hvidbjörn den Tagen des Einhorns ein Ziel gesetzt … Wie die Jagd eigentlich vor sich gegangen war, das wurde in seinen Einzelheiten nie so ganz klar. Hvidbjörn war allein gewesen und sprach sich später auf eine singende und verzückte, aber äußerst kurzgefaßte Art aus. Er hatte so lange sein Spiel getrieben mit dem alten Tier, bis es sich in einen Gletscherspalt zurückgezogen hatte, wo es festsaß. Und da hatte er es getötet. Das Horn war so lang wie Hvidbjörn, wenn es neben ihm auf der Erde stand, und Hvidbjörn war hochgewachsen. Es hatte so viele Ringe, daß sie sich überhaupt nicht zählen ließen; es war wie der Turm des Garm, der sich Schicht um Schicht fortpflanzt in alle Ewigkeit. Außer dem Horn brachte Hvidbjörn das Herz des Einhorns mit, das von Aussehen ganz jung und zart, aber so hart war, daß kein Steinbeil ihm etwas anzuhaben vermochte.

Ildgrim nahm im Namen Drengs, des Alten, das Horn des Einhorns in Verwahrung. Allem, was aus Anlaß von Hvidbjörns Großtat auf der Insel an Sang und Jubel erscholl, wandte er seinen fetten Rücken. Die Abmachung schien er überhaupt vollständig vergessen zu haben.

Aber als Hvidbjörn so nach und nach schüchtern andeutete, jetzt würde er, wie ihm versprochen war, Vaar ja wohl bekommen, hielt ihm Ildgrim eine etwas dunkle Rede: so hätte er es wirklich nicht gemeint; er hätte es selbstverständlich bloß als einen harmlosen Scherz betrachtet, als er Hvidbjörn aufgefordert hätte, das Einhorn zu erlegen. Jeder unparteiische Mensch würde ihm sicher darin beistimmen, daß der ganze Vorschlag doch nur als eine abschlägige Antwort feinerer Art aufzufassen gewesen sei. Da nun aber Hvidbjörn ihn in unsinniger Weise beim Wort genommen hätte, so sei er geneigt, seinen ganzen Vorschlag als den frommen Wunsch zu betrachten, Hvidbjörn für seine Unverschämtheit gebührend bestraft zu sehen. Wenn also Hvidbjörn mit heiler Haut zurückgekehrt wäre, so hätte er Ildgrim eine schwere Enttäuschung bereitet und es wäre eine besondere Gnade Allvaters, daß die Dinge eine solche Wendung genommen hätten. So lauteten Ildgrims Worte.

Die Unterredung fand auf dem Lagerplatz der Garminger statt, dem alten Heim Drengs, das heiliger Boden war, und die Ereignisse entwickelten sich sehr rasch. Als Hvidbjörn begriff, daß Vaar ihm trotz allem versagt blieb und daß er kein Feuer zum eigenen Herd bekommen würde, ward er einen Augenblick zornig und machte unwillkürlich eine heftig zustoßende Bewegung mit dem Kopf, auf dem er den Skalp eines Moschusstiers mitsamt den Hörnern trug; Ildgrim mißverstand das, zog den Bauch ein und blinzelte, wie vor einem kalten Luftzug, und Hvidbjörn lächelte. Sein Blut ward sofort ruhig.

Er fing an, Ildgrim recht gründlich zu betrachten, ließ seine Augen an ihm auf und ab wandern und lachte schließlich laut auf. Darauf schlug er den Knirps mit einem kleinen Zweig, dem allerkleinsten, den er überhaupt finden konnte. Aber Ildgrim winselte laut auf, wie in schwerster Kindsnot, und die Garminger stürmten von allen Seiten mit Riemen und Stöcken herbei, um Hvidbjörn zu binden und durchzuprügeln.

Da kam über Hvidbjörn der Geist Drengs, und ehe sichs einer versah, hatte er das Unmögliche vollbracht – hatte einen der Garminger, der Unverletzlichen, erschlagen. Und während die übrigen, stumm vor Entsetzen, zurückwichen, ergriff Hvidbjörn in seiner Raserei den Leichnam an einem Arm, trat mit den Füßen auf ihn und riß den Arm aus dem Rumpf, mit dem er hatte dreinhauen wollen. Da brüllte Hvidbjörn auf und schleuderte das abgerissene Glied Ildgrim vor die Füße. Dann war er abgekühlt und ging.

Am selben Tage entführte Hvidbjörn Vaar, und sie flüchteten auf den Gletscher.


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