Wilhelm Jensen
Hunnenblut
Wilhelm Jensen

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Nun war's um fünf Menschengeschlechter später, ein wenig über die Mitte des elften Jahrhunderts hinaus, und die Jungen wußten von der Hunnenzeit nur noch aus Ammenmären und greisenhaft geschwätzigen Fabelberichten der Uralten, die ihre Großväter davon reden gehört. Im Chiemgau hatte sich vieles zu reichhaltigerer Lebensführung verwandelt, besonders aber das Tal der Alz sich zum Hauptsitz der Vornehmen des Gaus gestaltet. Dort war die Dickichtwildnis von Tagahardingen – dem »Wald an der Taga« – vielfach gelichtet, zu Wiesen und Äckern gerodet worden, und von den steilen Felsufern des Flusses sah, fast eine Gasse bildend, eine lange Reihe großer und kleinerer, oft nah benachbarter Burgen herab. Drei hervorragende Herren hauptsächlich hatten hier schon von alters ihre festen Sitze begründet, Engildio, Thiemo und Megilo, deren Nachkommen im Gange der Zeit ihre Herrschaft mehr und mehr erweiterten. Ihre Burgen hießen jetzt Engildiosberg, Timuntingen und Meglingen, und von diesen war wieder der Inhaber der letzteren an Macht, Reichtum und Ansehen weit über die anderen emporgewachsen. Er nannte sich Pfalzgraf Kuono de Megelingin und Frontenhusen; auch am äußersten Südwestrande des Chiemgaus über dem Inn besaß er auf der Berghöhe eine Burg gleichen Namens Megling und weite Liegenschaft im Tal umher. Doch hauste er zumeist in seinem vornehmen Schloß über der Alz, in der Mitte zwischen den unfernen, im Verlauf des letzten Jahrhunderts entstandenen Ortschaften Trosperg und Altmarkt, bei denen Zollbrücken der von Salzburg nach Regensburg ziehenden Straße, noch der alten aus römischer Zeit, über den Fluß führten. Beide Orte hatten ihren Ursprung aus Anstellungen unter dem Schutz von Burgen genommen; über dem ersteren lag die Trozzeburg des uralten Geschlechtes der Trozza, über Altenmarkt, dem » forum vetus« an der Alz, die langgestreckte Baumburg, nahen, doch ziemlich verarmten Anverwandten des Pfalzgrafen Kuono gehörig.

Dieser war ein stolzer, hochstrebender Herr, emsig bemüht, die Herrschaft, die einstmals seinem Sohn Kuonrat anheimfallen sollte, zu vergrößern, doch mehr noch bedacht, durch seine einzige Tochter Adelhard den Glanz seines Hauses über allen im Chiemgau zu erhöhen. Was an Überlieferung der Zeit von ihr spricht, stellt einmütig sie als das Holdseligste an Jungfrauenschönheit dar, das je gesehen worden, und begründet die Absicht und Zuversicht ihres Vaters, durch sie einen Sohn des bayrischen Herzogs als Eidam zu gewinnen, seinen Enkel mit einer Krone auf dem Haupt zu sehen. Doch noch zählte Adelhard von Megling erst sechzehn Jahre, und er verschob es, sie an den herzoglichen Hof nach Landshut zu führen. Auch nahm die Ordnung mancher mit Verdruß und Zwistigkeit verknüpften Angelegenheiten ihn für den Sommer in Anspruch. Auf der nachbarlichen Burg Baumburg über Altenmarkt sah es mißvergnüglich und wenig Vertrauen weckend aus. Dort war ein Vetter Kuonos, der fromme Graf Sighart, gestorben, der Kapellen gestiftet und viel von seinem Besitztum an die Kirche vermacht, und hatte sieben, ihm an Sinnesart nicht ähnlich geartete Söhne hinterlassen. Sie nagten nicht gerade am Hungertuch, doch besaßen sie weniger, als ihr Gelüst begehrte, und suchten dies Mißverhältnis zwischen Habe und Wunsch, wenn sich eine Gelegenheit bot, auszugleichen. Das geschah allerdings zunächst auf Kosten der Bauern, Hirten und Fischer des Umkreises, aber diese waren Hörige oder Schutzverwandte der Burgherren an der Alz, so daß es dadurch zwischen den letzteren und den gewalttätigen Brüdern zu mancher Mißhelligkeit kam, die der Pfalzgraf Kuono für die Söhne seines Vetters oft nur mit Mühe beilegen konnte. Und obendrein fehlte es ihm nicht an Verdachtsgründen, daß sie sich klug verdeckter Weise ab und zu auch an seinem eigenen Besitztum, Gut und Leuten vergriffen. Besonders einer aus der Siebenzahl, der jüngste, ein verwegener Gesell, wie der Chiemgau zurzeit wohl kaum noch einmal seinesgleichen besaß.

Er hieß Markwart, einer anderen Mutter als die übrigen entstammend, von der ihm allein ein Erblaß zugefallen war. Dafür hatte er dem Südende des Chiemsees gegenüber, wo der Hauptzufluß desselben, eine wilde Ach, aus den Bergen hervorbrach, sich einen Besitz erworben und auf nicht hohem, doch steilem Felskegel sich einen kleinen Burgstall erbaut, den er Markwartstein benannt. Dort hauste er in sonst noch unbewohnter Talwildnis mit wenigen Burgmannen zwischen hohen, beinahe senkrecht an beiden Seiten neben ihm aufsteigenden Bergkuppen. Oft freilich ritt er allein für Tage davon ins ebene Chiemgauland hinaus, an der Traun hinab. Wer ihm begegnete, mutmaßte, er sei auf dem Weg nach Baumburg zum Besuch seiner Brüder, doch aus den Reden dieser ergab sich zur selben Zeit, daß sie ihn lange nicht gesehen. Einmal gewahrte ein Ackersmann ihn in der Gegend von Hohenberg auf offenem Hügelfeld, unberitten dahinschreitend, seine Eisenrüstung blitzte in der Sonne. Doch wie der Bauer nach kurzem wieder vom Pflug aufschaute, war ringsum nichts mehr von dem glimmernden Panzer zu erblicken, als sei er in die Erde hineinversunken.

Markwart glich seinen Brüdern weder äußerlich, noch im Wesen; auch darin hatte er ein Erbteil von seiner Mutter empfangen. Sie waren haarblond wie herbstwelkes Gras, ungeschlachten Gliederbaus und wenig aufgeweckten Sinns, ihr Genüge an reichlicher Mahlzeit, Trunk und Schlaf findend. Ihm dagegen fiel, zum Trotz seiner blauen Augensterne, tiefdunkelbraunes, glänzendes Haar auf die Schultern, sein Wuchs verband Kraft mit Geschmeidigkeit und schlanker Anmut, und sein Geist und Gemüt waren lebhaft, leicht beweglich, wie das Flimmern und Rieseln winddurchspielter Espenblätter. So folgte er der Regung, die über ihn kam, Scherzlust und auffahrende Heftigkeit lagen in ihm nebeneinander, es ließ sich nicht vorhersagen, welche ihm von den Lippen springen werde. Er konnte ebenso abstoßen, als gewinnend und fast unwiderstehlich für sich einnehmen, wenn er wollte; doch auch von seinem Willen hing dies nicht jederzeit ab, denn seine Natur versagte diesem manchmal den Gehorsam. Sie war selbstherrlich und ungestüm prickelnden Bluts; ein Funke seiner Augen verriet's dann und wann, aufgärend Heißes der Jugend wallte in ihm. Denn in dieser stand er, kaum noch in der Mitte seines dritten Jahrzehnts. Zu dem ihm nah versippten Pfalzgrafen unterhielt er kein Verhältnis, kam, seitdem er sich den Markwartstein gebaut, nie mehr nach Burg Megling. Er bedurfte keines Beistandes, hatte für ihre Insassen kein verwandtschaftliches Stammesgefühl, sondern nur vollste Gleichgültigkeit, die ihnen fern blieb und nichts von ihnen begehrte.

So erschien's wenigstens, doch der Pfalzgraf Kuono hielt diesen Schein für etwas trughaft. Mehrfach war in jüngster Zeit von vermummten Gesellen ein kecker nächtlicher Überfall ihm angehöriger gut verwahrter und tapfer verteidigter Landgehöfte ausgeführt worden, und er hatte Gründe zur Mutmaßung, sein Vetter Markwart sei dabei beteiligt gewesen. Nicht in Gemeinsamkeit mit seinen Brüdern, sondern mit anderen; auch nicht von Raubsucht getrieben, doch aus Übermut, der eine Dämpfung für das unruhige Blut suchte. Und als zufällig dem Herrn von Megling zu Gehör kam, wie der Markwartsteiner dem ackernden Bauern am hellen Sonnentag aus dem Gesicht verschwunden, als ob die Erde ihn verschlungen habe, da hatte sich ihm ein Anhalt und Verdacht aufgetan, dem er in der Stille nachging. Dann blieb's ihm bald sonder Zweifel, wenn der junge Burgherr aus dem Gebirge herabreite, als trachte er nach Baumburg, doch ohne daß man dort von ihm höre und sehe, so verschwinde er wirklich bald hier, bald dort in den Boden hinein, in einen unterirdischen Gang, der ihn an ein Ziel führe, das er nicht offen vor Augen aufsuche. Das konnte aber nur die Burg von Stein über der Traun sein, deren Inhaber seit alters manche solcher Fuchsstollen hierin und dorthin in die Weite getrieben hatten. Gegenwärtig hauste dort in dem labyrinthischen Knäuel von Felslöchern und ummauerten Kammern eine Witib oder vielmehr das gewesene Kebsweib des letzten Burgbesitzers, namens Williburg. Sie hatte zwei Söhne, die sich Cadaloh und Zwentebolch de Lapide nannten, Zwillinge, erst achtzehnjährig, doch trotz ihrer Jugend schon weitum im Chiemgau und drüber hinaus als verwegenste Räuber gefürchtet. Ihr unangreifbarer Bau, den noch im sechzehnten Jahrhundert Kaiser Maximilian vergeblich belagern sollte, sicherte sie vor jeder Wiedergefährdung, so boten sie hohnlachend der Vergeltung Trotz. Der Pfalzgraf hieß ihren Felssitz das Bärenloch und die Bewohner die alte Petzin mit ihren Jungen. Er hatte die erstere nie gesehen, denn sie kam, mindestens bei Tageszeit, nicht aus ihrem Schlupfwinkel hervor, aber der Ruf ging, sie habe in Wirklichkeit etwas von einer Bärin, und das Volk sagte ihr, sich bekreuzend, Zauberkünste nach. Niemand vom Adel an der Alz und Traun hielt mit denen vom Stein Verkehr; es hätte übles Licht auf ihn geworfen. Um so mehr fiel es dem Burgherrn von Megling zuwider, daß sein junger Vetter sich in eine Genossenschaft mit ihnen eingelassen, denn ob er denselben seit Jahren auch kaum mehr sah, hatte er doch von jeher an seinem Äußeren und seiner Art Wohlgefallen gefunden. Doch nach dem, was er ausgekundet, konnte er nicht mehr zweifeln, der Markwartsteiner kehre fast allwöchentlich durch die unterirdischen Gänge heimlich in dem Bärenloch ein, und beim Nachtdunkel in Gemeinsamkeit mit den wilden Zwillingen hervorzubrechen und den Drang seines überheißen Jugendblutes durch einen Auszug zu nächtlichem Kampf und Gefahr zu dämpfen.



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