Wilhelm Jensen
Hunnenblut
Wilhelm Jensen

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Die beiden ältesten Klöster des Chiemgaus hatten sich die von der Natur am besten gesicherten Stellen desselben, zwei Inseln inmitten des großen Chiemsees, ausgewählt. Dort begründete schon gegen den Schluß des achten Jahrhunderts Herzog Thassilo zwei Monasterien, auf der größeren Insel ein Mönchskloster des Benediktinerordens, auf der kleineren ein demselben Orden angehörendes Frauenkloster. Inseln und Klöster erhielten danach die Namen Herrenwörth und Nonnenwörth. Eine Seebreite trennte sie, die ein Boot in einer halben Stunde überruderte.

Herrenwörth war von beträchtlichem Umfange, langgedehnt, zum größten Teil von tiefem, undurchdringlichem Urwald bedeckt. Ziemlich in der Mitte staffelte es sich mit felsigem Untergrunde zu einer mäßigen Erhöhung an, auf der das betürmte mächtige Klostergebäude errichtet ward. Weithin blickte dies über den See in die Lande; die Verbindung mit dem Festlandsufer fand durch »Einbäume« statt, Boote der ältest-ursprünglichen Art aller Wasserfahrzeuge, aus einem mächtigen Baumstamm gehöhlt. Schwerfällig, doch sicher, von breiter Ruderschaufel zugleich bewegt und gesteuert, erreichten sie auch bei Wind und Wellengang ihr oft fernes Uferziel. Rasch stieg das Kloster zu hohem Ansehen; schon sein erster Abt Dobda, aus Irland herstammend, zeichnete sich durch Gelehrsamkeit und ungewöhnliche Kenntnis der griechischen Sprache aus. Er zog bildungsbeflissene Jünger herbei und sein Wohnsitz gestaltete sich zu einer vielbesuchten Gelehrtenschule. Regsame Geistestätigkeit belebte das Kloster, das durch Karl den Großen dem Erzbistum Metz, dann gegen den Schluß des neunten Jahrhunderts durch den König Arnulf dem Erzbistum Salzburg zugeteilt ward.

Mit der Breitseite Herrenwörth zugewendet, klein und schmal, kaum mehr als zehn Minuten im Umfang haltend, weiter östlich in den See gerückt lag die Insel Nonnenwörth. Die südliche Hälfte nahm das von grauem Gemäuer umschlossene Kloster ein, auf der nördlichen siedelte sich allmählich ein Fischerdörfchen an. Eine stille, heimlich-friedfertige Welt war's, wie die Sonne bei ihrer Tageswanderung kaum eine zweite gewahren mochte. Leise gluckten die glitzernden Wellen ringsum an den von silbergrauen Weiden umgürteten Strand; in der Mitte des kleinen Eilandes wuchsen frühzeitig angepflanzte Lindenbäume hochwipflig auf, die ganze Insel bot keine anderen Farben als Grau und Grün. Nach dreien Seiten gingen die Klostermauern bis dicht an den Uferrand, nur ein schmaler Fußweg umbog sie noch. Von ihm, wie aus den Fenstern drüber schwelgte der Blick in einer der herrlichsten Weitsichten aller deutschen Gaue.

Im Halbbogen, wohl an zwanzig Meilen lang, stiegen südwärts die mächtigen, hundertfach gegipfelten Vorkuppen der Alpen empor; die zunächst den See umgebenden schienen senkrecht in diesen herabzufallen, da und dort von gewaltigen Felskronen und Zinnen überwölbt, die oft in der Abendsonne, wie im Brand auflodernd, erglühten. Nach den anderen Richtungen dehnte der See sich mit schimmernder Weite flachen oder nur leis gehügelten Ufern zu. Doch mehr und mehr begannen im Fortgang der Jahre auch an ihnen helle Punkte aufzuleuchten und herüberzunicken, Häuseransiedelungen an Stellen, wo einst schon die Römer sich zum Fischfang niedergelassen. Sie vergrößerten sich zu Weilern und Dörfern mit Namen – Breitbrunn, Gestad, Seebruck, Chieming, Grabenstätt, Uebersee, Bernau, Prien – Kirchtürme hoben sich aus ihnen auf, und in der Morgenfrühe, der sonnigen Mittagsstille und der Abenddämmerung kam, über die weite Wasserfläche fernher grüßend, das verzitternde Geläut ihrer Glocken zur Fraueninsel herüber. Auch hier lagen die Einbäume in kleinen Hafenbuchten am Strand, doch von den Nonnen kaum anders benutzt, als um zu einer nahen dritten Insel des Sees, der Künzelsau, hinüberzufahren. Eine winzige, leis aufgehöht baumlos im Wasser schwimmende Erdscholle, diente diese, später auch Krautinsel genannt, dem Kloster zum Anbau seines Gemüses.

Nonnenwörth hatte schon von seiner Gründung an unter dem besonderen Schutz der deutschen Kaiser gestanden, und im neunten Jahrhundert setzte König Ludwig der Deutsche dort seine Tochter Irmgard als Äbtissin ein. Das Kloster hieß seitdem ein königliches, ward vielfach von Jungfrauen aus vornehmen Geschlechtern als Stätte ersehnter Weltabgeschiedenheit ausgewählt, und die Äbtissinnen, die nur dem Adel entstammen durften, trugen bei hohen Feieranlässen eine Königskrone auf dem Schleier.

So ragten die beiden Klöster länger als ein Jahrhundert in stillem Frieden aus dem See empor. Manches an Seelen- und Herzenskämpfen mochte verschwiegen in ihnen durchstritten und durchlitten werden, doch blutiger Streit und Waffengetöse der drüben oft wild umtobenden Zeit ließen sie unberührt, drangen nur als fremde Kunde zu ihnen hinüber. Sicherer als die stärksten Mauern schirmte der breite Wassergürtel sie vor einem räuberischen Überfall; es hätte für einen solchen hundertfacher Anzahl frecher, todestrotziger Gesellen bedurft, denn die Mönche auf Herrenwörth waren wehrkräftige Leute, die beeifert gewesen wären, nicht nur sich selbst zu verteidigen, sondern ebensowohl ihre Ordensschwestern zu beschützen, und zweifellos hätten tollkühne Angreifer keine Beute zurückgebracht, vielmehr bis zum letzten ihren Untergang im See gefunden. So bestand ein freundliches Nachbarverhältnis zwischen den beiden Klöstern, den Brüdern und Schwestern. Die geschäftige Nachrede der Welt dichtete nach ihrer Art ihnen engere Bezüge an, und früh fabelte die Sage von einem Gange, der unter dem Wasser hindurch von Herrenwörth nach Nonnenwörth hinüberführe. Doch wer den See, die Entfernung zwischen beiden einmal mit Augen gesehen, mußte die sinnlose Torheit solcher Vorstellung erkennen. Sie entsprang vermutlich einem wundersamen, ungefähr zwei Stunden nördlich vom See an der Traun, nah vor ihrer Einmündung in die Alz – oder Taga, wie diese noch mit ihrem keltischen Namen genannt wurde – belegenen Bau. Dort hatte zu grauen Vorzeiten das Wasser in einer senkrechten Felsuferwand über dem Fluß große Höhlungen ausgewaschen, die wahrscheinlich den ersten Bewohnern der Gegend schon als Zufluchtsstätten gedient und später von den Römern als Unterkammern eines Wartturms noch zweckdienlicher hergerichtet worden. Dann war aus seinen Trümmerresten – niemand wußte mehr wann – eine Burg aufgewachsen, in der seit Menschengedenken ein wildes, raubgieriges Geschlecht hauste, das sich für seine Beutezüge dachsstollengleich stundenweite unterirdische Gänge nach mehrfachen Richtungen durch die Erde gegraben. Ein mit Ringmauern, Gräben, Türmen und Zugbrücken umgürtetes und überwölbtes unangreifbares Felsloch war's, und die Insassen nannten sich danach de Lapide, vom Stein.



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