Wilhelm Jensen
Hunnenblut
Wilhelm Jensen

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Da kam's im Beginn des zehnten Jahrhunderts einmal, wie wenn nach schwülbrennendem Sommermittag am Himmelsrand eine schwarze Wolkenbank heraufrückt. Nur drohte es nicht gleich den meisten Unwettern aus Westen her, sondern von Osten, doch aus der Ferne schon warnendes Gefunkel und Gedröhn voraussendend, ehe der Sturm verheerend hereinbrach. Flüchtlinge irrten schreiend und jammernd vor ihm auf und rissen die Landbewohner des Chiemgaus in panischer Angst mit sich westwärts davon. So wälzte es sich gleich zusammengedrängt fliehenden Tierrudeln über den Inn.

Ähnlicher aber noch als eine Wetterwolke war das anstürmende Unheil einem sonnenverdunkelnden Schwarm von Heuschrecken. Wie ein solcher kam's daher, zu Hunderttausenden, mit gierigen Freßzangen Verwüstung hinter sich lassend, gleich jenen, nur jede in riesiger Gestalt, in Menschengröße. Eine ungeheure wilde Raubmasse aus dem Innern Asiens, die Hunnen oder Magyaren, Nachkommen der ersteren, schon vor vier Jahrhunderten in Deutschland eingebrochenen, waren es; wie sturmgepeitscht jagten sie unzählbar auf sattellosen Pferden heran. Ein warnendes Brausen lief vor ihnen auf, doch oft zu spät für die Bedrohten, die das Verderben schon gepackt hielt, ehe sie die Flucht zu ergreifen vermocht. Andere verschmähten solche; die Grafen und Herren auf ihren festen Sitzen glaubten Widerstand leisten zu können, und einigen gelang dies. Wo der Ansturm zu viel Zeit erforderte, das Felsnest zu wenig Beute verhieß, machte der drängende Schwarm nicht zu dauernder Belagerung halt, sondern trieb ablassend vorüber. Die meisten Burgen indes überwältigte, erstickte er gleichsam im ersten Anlauf. Der Tod riß in die unermeßliche Masse keine Lücken; ob Hunderte fielen, wälzten sich über ihre Leichen Tausende nach, welche ihr Ziel erreichten, Felssturz und Mauer erklommen. Feuersäulen loderten auf, und rauchender Schutt blieb hinter den gen Westen weiter Jagenden zurück. Gleich einer tollen, wirbelnden Windsbraut war's gekommen und gegangen.

Wie die Hunnen an das östliche Chiemseeufer anprallten, stutzten sie. Eine so mächtige Wasserbreite war ihnen auf ihrem Zuge noch nicht begegnet, sie erkannten, daß sie nicht nach ihrem Brauch mit den Pferden hindurchschwimmen konnten, und bogen seitwärts nach den Bergen und nach Norden ab, das Hindernis zu umkreisen. Erst als sie solcherweise zur westlichen Seeseite gelangten, fielen die Inseln mit ihren betürmten Bauten ihnen in die Augen, weckten Vermutung besonderer Kostbarkeiten und Begier danach. Doch selbst von den nächsten Festlandsrändern war es breit hinüber, und eine Weile hielt die wilde Horde unschlüssig Rat. Aber dann krachte es tausendfältig in den alten Fichtenwäldern, zahllose Hände schleppten umgefällte Stämme zum Strand und verflochten sie zu gewaltigen Flößen. Die Geschäftigkeit eines Ameisengetümmels war's, in wenig Stunden beginnend und vollbringend. Da überwimmelte es von Breitbrunn und Gestad her das blinkende Wasser mit schwarzmähnig-gelbgesichtigen Gestalten, ein manch tausendköpfiger Schwarm, der sich zerteilte, hierin die Flöße nach Herrenwörth, dorthin nach Nonnenwörth trieb. Mit Geheul begleiteten vom Ufer Weiber und Kinder die zu Wasserspinnen umgewandelte Heuschreckenmasse; die kleinen, blitzäugigen Pferde witterten und wieherten über den See.

Mancher Hunnenschädel, von Schwert und Beil der sich verzweifelt wehrenden Mönche zerspalten, mag auf Herrenwörth verwittert sein, doch die ungeheure Überzahl machte Mut und Tapferkeit zuschanden. Binnen kurzem schlugen von beiden Inseln die Flammen auf, begruben die bis zum letzten gefallenen Verteidiger unter Glut, Asche und Schutt. Auf der Fraueninsel hatten nur ein paar Fischer vergeblich Widerstand zu leisten versucht, die Mehrzahl der Nonnen drängte sich betend in der Kirche zusammen und fand dort gemeinsamen Untergang. Andere stürzten sich freiwillig in den See, wenige unternahmen es, über diesen zu entfliehn. Eine, namens Osila, eine Jungfrau aus edlem Geschlecht, suchte sich so zu retten. Sie war kaum zwanzig Jahre alt, von großer Schönheit und erst seit kurzem wider ihren Willen von Anverwandten ins Kloster gezwungen worden. Der Lebensdrang in ihr stürmte mächtig auf, sie wollte nicht sterben, hatte einen Einbaum erreicht und mühte sich mit ihm von der Insel gen Süden in die Seeweite fort. Ihr noch nicht abgeschnittenes goldgleiches Haar fiel ihr aufgelöst wie ein Mantel bis über die Hüften; ein prächtiges Bild war's, doch in der tief schrägen Abendsonne zu hell in die Ferne glänzend. Ein junger Hunnenhäuptling nahm es gewahr, und er mochte das Haar für wirkliches Gold halten, kostbarer als die Klosterschätze, nach denen seine Stammesgenossen wühlten. Er sprang in den Einbaum eines tot daneben hingestreckten Fischers und ruderte der Flüchtenden nach. Wohl unkundig und ungeschickt, doch immerhin mit seiner wilden Kraft das schwere Fahrzeug besser vorwärts treibend als sie. So kam er ihr näher, sie sah's, erkannte, auf dem weiten See müsse er sie einholen. In besinnungsloser Angst lenkte sie der Künzelsau zu, dorthin besaß sie Vorsprung, konnte das Ufer vor ihm erreichen, sich verbergen. Es glückte ihr, sie flog ans Land, lief vorwärts. Doch nirgends ein Strauch, ein Versteck, und hinter ihr sprang der Verfolger aus dem Boot. Sie hatte nicht bedacht, oder nicht gewußt, daß die Krautinsel nur eine winzige Scholle sei. Höhnend sahen drüben die hohen Berge ihr ins Gesicht, doch wohin sie lief, war überall Wasser, in rotem Abendlicht funkelnd, und sie wollte nicht sterben, das Leben in ihr rang zu übermächtig dagegen. Aber doch mußte es sein, sie hörte seinen Fuß den Boden schüttern und trat in den See, das Wasser stieg ihr kalt zum Knie. Da packte sie ein Schauder, nahm ihr die Besinnung, und kraftgelähmt, ohnmächtig fiel sie mit dem Kopf ans Ufer zurück. Die Insel Nonnenwörth aber loderte jetzt wie eine einzige Riesenfackel in die Luft, und ebenso flammte von der erhöhten Mitte Herrenwörths das Kloster zum Himmel. In dem blutroten Doppelschein zog das schwarze Ameisengewimmel mit seiner Beute auf den Flößen wieder gen Westen über den See. Hastig packte es drüben Weiber und Kinder auf und jagte davon, dem schon weitergezogenen Hauptschwarm nachzukommen. Wie aus der Unterwelt heraufsprühende Glut stiegen die Nacht hindurch Feuersäulen aus der Spiegelfläche des Chiemsees, doch kein Auge gewahrte sie; der Tod hatte jegliches auf den beiden Inseln für immer geschlossen. Allein am Rande der Künzelsau, wie das erste Morgengrauen vom Osten kam, regte sich etwas. Mit frosterstarrten Gliedern richtete Ostla sich langsam halb vom Boden empor; sie lebte, die einzige in der weiten, verödeten Runde. Sinnverworren sah sie um sich, ihr war, sie habe dumpf und grausenvoll geträumt. So saß sie, kurz gepreßten Atems, mit starrendem Blick; dann durchfuhr ein Schauder sie vom Scheitel zur Sohle und ihr Kopf sank wieder bewußtlos auf den blumigen Rasengrund nieder. Aber sie lebte.

Über Inn und Isar bis an den Lech gelangten die Hunnen; dort traf sie die Vergeltung, die Vernichtung. Sie zerstoben und verschwanden, ebenfalls einem vom Schloßensturm zerschmetterten Heuschreckenflug gleich; mit ihrem Untergang kehrte die Ruhe über die süddeutschen Lande, über den Chiemgau zurück. Rasch ward, vom Kaiser und Fürsten gefördert, das Kloster auf Nonnenwörth neu erbaut, und reiche Vergabungen flossen ihm von allen Seiten zu. Der königliche Schutz breitete wieder seine Hand darüber, bald erstreckten sich seine Besitztümer um den See und weit ins Gebirge hinein. Freundlich und friedlich spiegelte die Wasserfläche abermals das neugewordene alte Inselbild.

Doch ihm gegenüber blieb Herrenwörth unbelebt und öde in Trümmer versunken, mehr als zwei Jahrhunderte lang. Warum das dortige Kloster nicht wieder auferbaut worden, berichtet keine Überlieferung; es geschah nicht. Statt dessen überwuchs im langen Gang der Jahre, im Wechsel der Geschlechter umher Gerank und Gestrüpp die Mauern und Schutthügel, der Wald kam herangeschritten und spannte Schattenwipfel darüber aus. Selbst ihren alten Namen verlor die Insel im Gedächtnis der Menschen, denn sie ward von den Anwohnern des Sees nur noch »die Au« benannt. Sie war gemieden, und niemand betrat sie, oder der Fischer, der es einmal tat, hielt sich scheu am Rand und machte sich vor Einbruch der Dämmerung eilig davon. Böse Geister gingen in der todeseinsamen Trümmerwelt um, und die Nonne, die der Einbaum in weitem Bogen daran vorbeitrug, schlug hinüberblickend ein Kreuz über Stirn und Brust.



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