Jean Paul
Dämmerungen für Deutschland
Jean Paul

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V.
Vorschlag einer Oberexaminations-Kommission der Genies

Fichtens Vorschlag, in einer Normalschule die Baumschule eines neuen Deutschlands zu pflanzen, könnte den ungeheuern Schwierigkeiten, in einem alten Staat einen neuen zu isolieren und zu organisieren und die ganze Volksjugend sechzehn Jahre lang aus dem ganzen Lande auszuscheiden, bis zu einem gewissen Grade dadurch ausweichen, daß man statt der fortzuerziehenden Volksmenge bloß die wenigen erzöge, welche diese forterziehen. Die Volkstapferkeit der neuesten Kriege führt uns die Beweise, daß nicht die Menge, sondern die Auswahl, nicht die Regierten, sondern die Regierenden sündigten. Keine Volksmenge wurde, wie ich schon anderwärts behauptet, durch sich selbst groß oder frei oder weise, sondern stets durch große, freie, weise Chorführer. Stellet die Sonne hin, so gehen die Planeten von selber.

Daher kann man zu Fichte und Brandes sagen: stellt doch euere Trauergesänge über deutschen Zeitgeist ein, als wären wir der Kraft des ausländischen erlegen, der doch gewiß nicht besser ist. Hätte sich nur ein gewisser einziger Mann mehr an unsere Spitze als gegen diese gestellt: so ständet ihr auf einmal aus Anklägern Deutschlands in Lobredner umgewandelt da. Überhaupt den Zeitgeist anlangend, so sprechen ihn nicht Schlacht-Siege – diese Kinder der Stunde, diese neuern Geschöpfe weniger der Herzens- als Berechnungskraft –, sondern nur die Art und Weise aus, wie Kampf geführt, Niederlage ertragen und Sieg genossen wird.

Und wie haben denn die Deutschen auf ihren langen Schlachtfeldern geblutet? Nicht wie Missetäter, sondern wie die Franzosen: mit Ruhm.

Nicht also die tausend Räder, nur die Spiralfeder, welche treibt, härtet in patriotischen Vorschulen eines neuen Deutschlands recht stark, die Staatsdiener und Herrscher, die Heerführer u. s. w. O wenn Mut mit Redlichkeit so enge zusammenhängen, und wenn jedes Volk die Deutschen bis anno 1809 die Redlichen nannte: was wäre nicht von uns und für uns zu tun durch eine 987 Bildungsschule edler Deutschen, welche weiter in die Breite und Tiefe fortbilden! –

Dies führt auf den Punkt der Überschrift.

Das Völker-Unglück, sagte man bisher, ist der Wecker (ein sehr teurer) des Genies; aber diese Wecker sollten ja lieber vorher vom Staate gestellt und geweckt sein, um jenes zu verhüten, nicht zu vergüten. Warum will er das, was stärkende Nahrung sein könnte, nur erst als herstellende Arznei gebrauchen und mit Wein, statt zu begeistern, nur ausheilen? Den benannten teuern Genius-Wecker (aus Kanonen, Jammergeschrei, Sterbe-Röcheln u. s. w.) sollte man an keiner Staats-Uhr anbringen.

Wenn oft ein genialer Mann ein gegenwärtiges Volk und Jahrhundert aufwiegt und dadurch ein zweites nachläßt; wenn ein Kant eine lehrende Schülermasse belehrt und überwiegt; wenn dann alles Große nur von einem Großen ausgeht und alle Erden-Frühlinge nur von einer Sonne: so sollte man doch, scheint es, solche Sonnen mehr anzubeten und zu berechnen suchen.

Ein Schatz ist da, der jede Zeit rettet und reinigt; es ist der, den die Natur durch Mütter schickt. Ein AlterVellejus Paterculus. spricht lange und witzig darüber, daß und warum mehrere Genies immer auf einmal erscheinen, indes darauf Jahrhunderte seicht verfließen und nichts zuführen, weder Goldkörner noch Silberflotten. Aber da hier nicht der bloße Zufall so sehr bereichern kann – denn er läßt nie fünf Quinternen hintereinander ziehen –: so muß man annehmen, daß die Natur in demselben Klima und Zeitraum die gleiche Zahl von Genies wie von Goldadern kristallisiere, nur daß uns die Wünschelruten der Entdeckung fehlen, und daß folglich nur irgendein reißender Strom einige Goldkörner hervorspült. Sind aber einige höhere Menschen vorgeschoben, so finden und heben diese die übrigen bereitliegenden auch gar nach; ein Magnet ist die beste Wünschelrute anderer Magneten. Freilich kann Genie nicht unterdrückt werden, aber doch verrückt und verpflanzt; denn ein Dorfs-Newton kann, sich selber Geselle und Meister, ein Uhrmacher werden, oder ein Pitt ein Schulze im Kruge.

988 Der böse Irrtum, daß alle von der Natur gesäeten Genies aufgehen und ihren Wuchs erreichen, entsteht aus der Verwechslung der theoretischen mit den praktischen. Nämlich so: in den Schulen finden leicht die Kräfte der wissenschaftlichen und poetischen Köpfe Spielraum und Stoff, und durch beides entdecken sie sich selber. Dazu treten noch die Schullehrer als leichte Magnetnadeln der ihnen verwandten Magnetberge. Hingegen jene, Welt-umstürzende und -umackernde Geister, große Heerführer, Staatsminister, andere Geschäftsmänner, finden in der Schule keinen Rutengänger ihrer tiefen Adern. Diese Genies gehen daher, wenn sie das Schicksal nicht hofmäßig, nur geistig geadelt hat, meistens der Welt, wenn auch nicht sich, verloren; und ein Sully, Colbert, Pitt und Napoleon bleiben als bedeutende Kotsassen im Dorfe.

Bisher galt die Ahnen-Probe mehr als Enkel-Probe oder Geisterprobe, und einer, der von seinem bürgerlichen Präadamiten am weitesten entfernt war – denn jeder Edelmann muß mit einem Bürgerlichen anfangen und breit auftreten, so wie ein Bürgerlicher sich in einen Edelmann zuspitzen kann –, schien zum Staats-Geschäfts-Mann gleichsam schon geboren und erkoren. Wenn aber bisher auf dem kleinen, oft ungesunden Adels-Eiland so viele große Heerführer und Staatsmänner gewachsen waren: wie viel mehrere wären nicht (schon bloß dem Raume nach) auf dem weiten Kontinente der bürgerlichen Stände zu finden gewesen! Denn der Adel kann uns in allem übertreffen, nur nicht in der Mehrheit; vollends da die nötigsten Stammbäume als Eckstämme ganzer Familien absterben, indes das bürgerliche Gras sich selber frisch nachsäet.

Ist nun dies alles wahr, und ruhen und steigen die Staaten nur auf wenigen Atlas-Schultern: so ist jedes Genie die Seele des Volks, wie Gott die Seele der Tiere (deus anima brutorum). Ist dies von den alten höhern Staaten längst eingesehen worden, welche eine große Geistes-Kraft tausend andern, nur von jener zu bewegenden Körperkräften vorgezogen: so ist es zwar sehr unbegreiflich, wie man die Ausfuhr der Genies so leicht verstattet, als Spanien so strenge die Ausfuhr der Zuchtesel verbietet, oder Preußen die des Goldes; aber noch unbegreiflicher, daß man 989 gar nicht darnach umfragt nach den echten Lebens- und Elementar-Geistern der Staats-Körper; man erwartet sie bloß so zufallsweise angeschwommen, wie etwan das kalte Island das Brennholz aus unbekannten fruchtbar-heißern Ländern.

Aber könnte man nicht Flöß-Inspektoren anstellen, nämlich die oben betitelte Genies-Ober-Examinations-Kommission? Könnte man nicht statt der Jesuiten-Riecher ganz andere Nasen für etwas Besseres gleich lebendigen Stirnmessern besolden, Entdecker künftiger Welt-Entdecker, kurz noch andere Leute als Schulleute, obwohl diese auch? Die neueste Geschichte voll umgeworfener und voll aufgerichteter Thronen predigt uns allen das Übergewicht der Einzelnen über die Masse.

Nur quält dabei eine Schwierigkeit, – nämlich die, solche Geister-Taxatoren zu finden. Um Genies in der Kindheit zu beobachten, müßte man erst wissen, wer eines wird; denn erst hinterher macht man spätere Erlebungen zu frühern Erfahrungen. Ich möchte daher noch lieber die Kindheitsgeschichte eines großen Menschen wissen als seine Mannsgeschichte; wir hätten dann eine Diamanten-Waage der Zukunft.

Gleichwohl könnte etwas geschehen, wenn der Schullehrer bloß die geistige Höhenmessung künftiger großer Schullehrer und Dichter, nicht aber die Messung der ihm unverwandten blutfremden Köpfe vornähme, sondern wenn z. B. der Krieger das Kriegstalent, der Finanzminister das Finanztalent u. s. w. an Kindern zu wägen bekäme. Der geistige Bluts-Verwandte errät viel leichter seinen Verwandten als der körperliche den seinigen.

Wie aber die bisherige unverantwortliche Verschwendung der höchsten Staatskräfte, dieses Unterbinden der größten Staats-Arterien, zu verhüten ist – durch welche Mittel, ob durch eine höhere Oberexaminationskommission der Knabenköpfe, ob durch eine besondere, wenn auch nur einmonatliche Prüfungsschule derselben, oder wie sonst –, geb' ich gar nicht an, teils weil ein solcher höherer census capitum, eine solche Kantische Kritik der Vernunft, welche wirken soll, so wie meine ihr entgegengesetzte geistige Toten-Beschau, nämlich der Vorschlag davon, weiter nichts ist als eine zweite Nacherfindung zu den neuen Pflug-, 990 Egge-, Säe- und andern Maschinen, welche den Kaffee-Surrogaten gleichen: man trinkt seinen Kaffee, und das Surrogat ist Geld.

 


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