Jean Paul
Dämmerungen für Deutschland
Jean Paul

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I.
Über den Gott in der Geschichte und im Leben

Wer mit Goethe sagt: das Schicksal will gewöhnlich mit vielem nur wenig, dem ist »die Weltgeschichte ein Weltgericht«, aber eines, das unaufhörlich verdammt und sich mit.

Allerdings blickt die Vergangenheit uns so grausend an wie ein aufgedeckter Meeresboden, welcher voll liegt von Gerippen, Untieren, Kanonen, modernden Kostbarkeiten und verwitternden Götterstatuen. Es möge denn hier ein Geist, der sich an der Vergangenheit noch blutiger abquält als andere an der Gegenwart, seine Klage über den Weltgang recht aussprechen. Das Gleichnis vom Meere (wird er sagen) reicht weit genug: wir schiffen und holen auf dem leuchtenden und grünenden Meere; aber unter uns liegen die Bettler mit ihren Schätzen und Knochen, welche auch einst freudig darübergefahren. – Schwer geht das Erstarken der Staaten, flüchtig ihr Vollblühen, ekel-langsam ihr Niederfaulen. Wie lange mußte nicht der Barbar am römischen Reiche schlingen, bis das eine Raubtier das andere in sich gezogen, so widrig dem Auge, wie wenn die große Sumpfschlange ein lebendiges Krokodil hinterwürgt. Wie lange frißt der Sultanismus schon am ätherischen Griechenland!

Hoffe nur kein Herz Nachhülfe oder Rettung auf seiner Bahn zu irgendeinem reinsten Ziel! – Allerdings greift vielleicht ein Arm aus der Wolke herab, aber ebensooft, um eine Eiche beim Gipfel aus der Wurzel zu reißen, als eine gegen den Sturm aufrecht zu halten. Der edelste König Frankreichs, Heinrich IV., neben dem edelsten Minister, muß gerade auf dem Himmelswege zu einem allgemeinen europäischen Fürstenbunde, der nicht wie sonst Kriege beschloß, sondern ausschloß, dem Opfermesser auf dem Altare des Teufels heimfallen; dieser edle Fürsten-Geist, der, 922 was unter allen fürstlichen Bestrebungen die seltenste ist, mit dem Wohle seines Staates das Wohl der Menschheit, d. h. aller Staaten, befruchten und erziehen wollte. Er starb; armer Sully, armes Frankreich! – Ein hohes Königs-Herz, das die Greuel eines Herzogs von Orleans, eines Ludwigs XV. und folglich der Revolution der matten Menschheit erspart hätte, mußte still stehen, nachdem es ein Evangelist Johannes, Fenelon, in göttlichen Gang gebracht. Armer Fenelon, armes Frankreich! – Und darauf wollt ihr doch euch wundern, wenn euch Einzelnen mitten im Ausstrecken euerer Hand, um zu helfen oder zurechtzuweisen, oder um eine fremde zu drücken, diese Hand von einem unsichtbaren Schlage abgehauen wird? Was ist denn das Beste, was ihr vorhabt, gegen das Beste, das schon verwehrt und verzehrt worden? – Daher glaube nur kein Fürst Leopold, etwa darum, weil er vom Ertrinken retten will, selber dem Ertrinken zu entrinnen; ihr werdet das Opfer euerer anfangs begünstigten Aufopferungen am Ende so gut als Howard das der Pest.

Auch was nur einmal da ist und nie wiederkommt, alexandrinische Bibliotheken, Schiffe und Städte voll Kunstgebilde, sanken unter; samt unersetzlichen Gedanken unsterblicher Griechen. Fast spöttisch band das Schicksal die Freiheit eines Staats an den Spinnenfaden des Zufalls: dort Englands an eine Schneiders-SchereDie Magna Charta fand Robert Cotton bei einem Schneider, der sie eben zu einem ganz andern Maß verschneiden wollte. Fieskos Untergang ist bekannt., hier Genuas an ein Boot; dort aber hielt, hier riß er.

Der besondere Saatwurf eines großen Individuums – entsprösse auch daraus ein seliges Jahrtausend – gilt vor dem Verhängnis so viel wie der Saatwurf eines Völker vergiftenden Samens; zufällig wird der eine, zufällig der andere beregnet, nicht einmal der Giftsame ausschließlich. Oft wählt das Verhängnis auf dem Scheideweg zwischen Fegfeuer und Höllenfeuer das letztere. Wie glücklicher hätte sich das römische Reich unter einem Julius Cäsar gestaltet ohne Brutus' Dolch, diese Strafrute dreier Weltteile, wodurch der römische Thron bloß das breite Blutgerüste der Länder und Herrscher zugleich geworden. Das 923 Verhängnis verschonte die Welt weder mit Katos Sterben, noch mit Brutus' Töten und Sterben, und drei solche Große mußten ihre Gräber zu Thron-Stufen für einen Augustus hergeben. Denn daß etwas ebenso Schlimmes oder noch Schlimmeres als der Leichenzug der römischen Kaiserhistorie erfolget wäre, wenn Julius Cäsar seinen Namen nicht einem Monate, sondern einer ganzen julianischen Regierungs-Periode hätte geben dürfen, läßt sich schwer behaupten.

Zuweilen wirft das Verhängnis in die eine Waagschale so viel Leichen und Siege als in die andere, damit von neuem nachgeworfen werden muß. Zweimal muß Nelson auf dem Wasser entscheidend siegen, zweimal Napoleon auf dem Lande, bloß damit entweder dort oder hier ein neuer Blut-Tränen-Nachguß in die Schalen die wägende steilrechte Zunge beuge.

Und eben das Grausamste in der Geschichte ist dieser Wechsel zwischen Glücken und Mißglücken jedes sittlichen oder unsittlichen Zwecks – fast ähnlich dem Jubeln, Befruchten und Lieben der organischen Welt im Frühling auf der einen Seite und dem Zusammenfressen auf der andern; der ganze frohe Frühling ist voll ungehörten Mord in drei Elementen; nur daß sich der Mord noch stiller im lauten Meere begeht, in welchem kein Leben anders lebt als von einem andern Leben, und welches gerade zwei Drittel der Erde ausmacht. Nur etwas sucht das Verhängnis heim, nicht die eigne Schuld des Herzens, sondern die unschuldige Schuld des Kopfes; und gegen ein Laster werden hundert Dummheiten gezüchtigt. So ist die Welt und unser Trost!

Gleichwohl könnte jemand diese Verzweiflung nachbeten, ohne darum etwas anders zu bleiben als ein Christ; denn er nähme bloß die Kirchhofs-Mauer zu seinem Verteidigungs-Wall und den kühnen Ausweg oder Ausflug in die zweite Welt, für deren Vorschule, Vorhimmel und Vorhölle er die erste erklärte; wozu er denn auch alle übrigen Erden und Sonnen noch schlagen müßte, da alles Irdische ein Unteilbares ist. Aber dieses ist auch ein Unanmeßbares (Inkommensurables) für die geistige Zukunft. Jede Welt von beiden muß sich selber rechtfertigen. Den erwarteten Gott der Ewigkeit kenn' ich denn schon in meinem jetzigen 924 Innern, das eben in Zeit und Geschichte wandelt; folglich hab' ich durch den mir im Erden-Herz mitgegebnen Ewigkeits-Gott schon ein jetziges Verhältnis oder Mißverhältnis mit der gleichzeitigen Erde mitbekommen und zu erkennen.

Er nimmt in der Weltgeschichte drei Gestalten an. Laßt uns jede beschauen; aber sogleich uns vornehmen, daß wir den Unendlichen nicht als maître de plaisirs unseres Erdballs, sondern als den hinaufbildenden Lehrer und Vater seiner Kindervölker suchen und schauen wollen.

In der ersten, wo er als Gerichts- und Heilsordnung der Völker erscheint, hat ihn Herder am schönsten gemalt. Alle Gesetze der physischen Welt wenden sich – heilend, segnend, strafend – auf die freie an. Und wie sollte dieselbe physische Gesetzmäßigkeit des physischen Wachsens, Blühens und Welkens nicht als geistige in Geistern, auf Körper geimpft, wieder umkehren! Obgleich der Einzelne frei ist – zur schwärzesten und zur lichtesten Tat –, so ist die Masse doch nur eine beseelte schwere Körperschaft. Daher in der Geschichte, wo bisher die meisten Völker niedrig standen, die Völkermassen allen Stößen des Mechanismus gehorchen und erliegen. Denn alle jene Gesetze Herders: »Jedes Übermaß bestraft und vertilgt sich selber – der Überspannung folgt Abspannung, der Mäßigkeit Kraft, der Trägheit Kraftlosigkeit – entgegengesetzte Richtungen schwanken in einem Mittlern aus« – diese beherrschen Körper und Geister gleich sehr; und die Nemesis regierte früher über die Pflanzen und Tiere als über die Menschen. Aber die Freiheit des Einzelnen, es sei des Sünders oder des Heiligen, kann geradezu sich entgegengesetzte Gesetze und Bahnen wählen und wühlen und auf Jahrhunderte die Welt irren oder segnen und der Nemesis trotzen. In der Geschichte des Menschen-Reichs nur wiegt ein Mensch so überwiegend; ein Luther hatte in seiner Gehirnkugel den festen archimedischen Punkt außer der Erdkugel, um geradezu diese anders zu drehen; und vollends jener nicht zur Gesellschaft Jesu gehörige Jesus, der Reinste unter den Mächtigen, der Mächtigste unter den Reinen, hob mit seiner durchstochenen Hand Reiche aus der Angel, den Strom der Jahrhunderte aus dem Bette und gebietet noch den 925 Zeiten fort! Folglich treffen wir in der Geschichte auf zwei entgegengesetzte Erscheinungen, welche uns deren Gott verhüllen. Die erste ist der Weltgang nach physischen Gesetzen, wonach Menschen und Staaten wie Bäume erstarken, aufblühen, sich abblättern und endlich aushöhlen. Und gerade dieses wiederkommende Untergehen gibt der Geschichte der Menschenmassen ein so trostloses Ansehen. Die Vorsehung läßt nun hier dem Lavastrom und dem Blitze wie dem Monds-Strahl den Naturlauf und Flug; ob ein physisches Erdbeben oder ein Krieg Länder umstürzen, ist gleich erlaubt. Wenn indes in Afrika ein Erdstoß sechshundert Städte auf einmal vergrub: so ist dieses doch nur zusammengerückter Tod und Winter, wie der Frühling ein zusammengerücktes Leben; und eine Klage klänge wie eine darüber, daß in jeder Minute auf unserer Kugel über sechzig Menschen sterben. Ebenso klingt das Jammern über die auf die erste Stufe zurückgefallnen Völker, d. h. über deren Urenkel, wie eine über deren Urahnen, die auch da lagen; und man müßte also weniger über den Verfolg als über den Anfang der Geschichte überhaupt wehklagen.

Die zweite Erscheinung ist der Weltgang nach freigeistigen Gesetzen; aber dieser entzweiet uns noch mehr mit unsern Hoffnungen als der vorige. Ein Mensch stürzt und bauet eine Welt, sobald ers will; wer sich opfern will, kann alles andere auch mit opfern; zu auffliegenden Schiffen, zu fallenden Kronhäuptern, zu verbrennenden Städten und Raffaelen mit allen ihren unabsehlichen, aber physischen Folgen, kurz zu ganzem Land- und Erden-Sturm braucht es nichts als die erste beste Hand und ein Herz, das will. Der Höllen-Maschinist in Paris hätte, wenn nicht seinen Ein- und Zufall ein zweiter, der eines Rausches des Kutschers, vernichtet hätte, die ganze jetzt veränderte Erde rückwärts verändert oder beim Alten gelassen; daher könnt ihr leichter auf Jahrtausende die Gestalt des Sternenhimmels als die der Erde weissagen, weil ihr nicht wißt, welcher Schwarz geboren wird, der sie mit seinem Pulver pulverisiert; indes gilt dasselbe auch für den Himmel, nur aber, daß dort erst Jahrbillionen eine neue Sonne gebären, die alles verrückt.

926 Auch solchen Menschen-Kometen läßt die reiche Natur ihr Stören aller Bahnen zu; denn sie ist mit geistigen und physischen Gesetzen bewaffnet genug, um damit – freilich mit Zeit-Verlust – wenn es einen für die unaufhörliche gäbe – die Schwankungen der Freiheit wieder mit der Regel auszugleichen.

Indes ist dem physischen Lebenslauf der Völker noch eine Freiheit eingemischt, welche dem der Tiere abgeht, so wie dem freien Machtschwung von Sturm-Menschen noch ein Festes vorgeordnet, welches die Unterlage seiner steigenden Hebel ausmacht. – Wenn ein Volk gegen alle Bewegungs-Gesetze Jahrtausende in demselben Stande gegen die Sonne einwurzelt, wie Sina – wenn andere schnelläufig, dann rückläufig sind, wie griechische Staaten – wenn ein Volk, an ein größeres wie ein Mond an die Erde geknüpft, sich damit um die Sonne bewegt, wie Juden mit Christen – wenn ein anderes kometenartig nach der Sonnenferne in die Sonnennähe kommt, wie die Franzosen und Deutsche, und dann in jene und diese wiederkehrt – wenn ein anderes, wie andere Kometen, niemals umkehrt, wie Ägypter: so spricht schon die lahme unzulängliche Allegorie durch ihr eignes Unvermögen, die Völkerbahnen zu beschreiben, die Verschiedenheit zwischen Weltkörpern und Geister-Körperschaften unwillkürlich aus. Denn eben kein Körper-Bild kann – in seine immer umlaufenden Wendezirkel gebannt – den gerade und zackig gehenden Völkergeist vorbilden. So ist das Bild von Aufblühen und Abwelken der Völker kein volles; denn jedes Volk hängt heute zu gleicher Zeit bedeckt voll Blüten, Früchte, Knospen und Welk-Laub, und morgen wieder voll, nur von andern aber. Nach welcher körperlichen Rangordnung mischen sich denn z. B. in Frankreich Herbst und Frühling und Winter und Sommer durcheinander zum neuen Weltspiele? Blühete Gallien voll in der Provence, als die Römer diese zuerst eroberten und Provincia nannten? Oder mit den Dichtern der Provence? Oder unter Karl dem Großen besonders? Oder unter Heinrich IV.? – Oder unter Ludwig XIV.? – Oder unter der Revolution? – Oder unter Napoleon? – Hier wächst Klimax und Anti-Klimax ineinander. Oder fragt über die Vollblüte der Deutschen an, ob im Siege über das weltliche Rom? – 927 In der Niederlage vor dem geistlichen? – In der Zeit der Kreuzzüge? – Der Hanse? – Der Ritter? – Ob im funfzehnten Jahrhundert – im sechzehnten – im jetzigen? Wo ist hier ein Fortsatz von Flug oder Fall, oder greifen nicht beide zusammen, nur aber immer mit neuem Steigen und Fallen? – Ein Irrtum war noch der, daß man Vergänglichkeit der Staaten oder Ablauf der Zeiten auf die Völker selber anwandte, welche ja immer verjüngt auf den Gräbern ihrer Staaten aufsprießen und, wie die Italiener im Mittelalter, auf dem großen Siebenhügel-Golgatha der Welt später neue, von nordischem Blut gewässerte Wurzeln treiben und frische Griechen-Blüten. Wie könnt ihr in den runden Totentanz des umkehrenden Untersinkens menschlicher Schöpfungen, d. h. der Staaten, die göttlichen hineinziehen, die Völker selber, in welchen nichts anders umkehrt als eben anders, welche auf unverwelklichem Stamme frische lebensgrüne Zweige den abgehauenen nachtreiben? – Freilich harrten schon lange auf ihren politischen Messias die Griechen auf ihren Felsen und Inseln; – und ebenso manches in große Verhältnisse verstrickte Volk. Aber Völker brauchen überall Zeit; und den Aufschub, wie den eines Frühlings, erstattet reichere Fülle.

Heben sich nun die Völker auf ihren Staaten-Gräbern in neue Regionen empor – und kommen alle sich neu und anders entwickelnden europäischen immer mehr in erregende Berührung, bis zuletzt auch die der andern Weltteile in die große galvanische Säule und Geisterkette geraten: wie könntet ihr denn jetzt die allgemeine Ausgleichung zum Schwer-Punkte einer vollendeten Zukunft aus bloßen einzelnen Staaten abmessen und ausrechnen?

Erst müssen alle Völker unserer Kugel in einer gemeinschaftlichen Ausbildung nebeneinander stehen, damit kein rohes sich zersetzend in das gebildete mische; – denn wo wäre die Unmöglichkeit, daß die Kultur nicht endlich Volk nach Volk erfasse und präge, und nicht vielmehr die Notwendigkeit, daß ihre wachsende Herrschaft nichts zur Allherrschaft bedürfe als nur Zeit? – Sonst brauchte man einige Fenster zu verhängen: so war das Erdengebäude verfinstert; aber jetzt waren der Fenster zum Verdecken zu viele; und selber im Finstern blieben Bücher als nachstrahlende 928 Lichtmagneten zurück. – Ist einmal die Erdkugel, was physisch so unmöglich ist als bildlich notwendig, auf beiden Hälften erleuchtet: dann muß jenes Kreislaufen von Steigen und Fallen nachlassen, und wie auf niedrigsten Stufen langes Innehalten der Völker (fast aller Wilden) waltet, so wird, wenn die Jahreszeiten des Wachsens mit ihren Stürmen und Wechseln durchgelebt sind, auf der höchsten Stufe ein höheres Ruhen wiederkehren, so wie der Wille und Verstand des Einzelnen gerade auf dem zartesten Gipfel der Ausbildung am unveränderlichsten ruht.

Wenn uns die ganze Geschichte erzählt, daß die Menschen leichter und länger in ganzen Scharen und Schwärmen sich beflecken als sich heiligen; wenn Krieg, Seeräuberei, Knechtschaft, Parteimut tausend Herzen auf einmal und auf lange besetzen, indes die Tugenden wie Engel nur Einzelne begleiten: so hätten die Heere des Teufels längst die zerstreueten Engel und das Glück der Erde überwältigt und eingeschattet, wenn nicht ein unbekannter, Weltteile, Zeiten und Völker ordnender Geist dazwischenwehte, welcher bisher gerade umgekehrt ein wachsendes Heil aus dem weiten Unheil entwickelte. So steht ausgebreitet das salzige schmutzige Meer über der Erde; aber reines Wasser steigt daraus gen Himmel, fällt auf Berge zurück und steigt aus der Erde auf und tränkt und trägt mit reinen Strömen die Menschen.

Was unsern Blick am meisten verdunkelt, ist, daß wir die große Ausgleichung des geistig-freien Durcheinanderblühens und -welkens der Völker und ihr Zusammenreifen in irgendeinem Jahrtausend, kurz die körperliche Gegenwart der Gottheit schon Anno Eins oder als Geburtstags-Angebinde begehren. – Wir Eintagsfliegen wollen, wie an den Terzienuhren unseres Daseins, auch an der Jahrtausenduhr der Sternenzeit den Zeiger eilen sehen. Wir finden daher oft leichter Vorsicht und Gerechtigkeit in einem kurzen Menschen-, ja Kinds-Leben als in langen Völker-Altern, so wie wir den Umlauf des Erdballs um die Sonne früher entdeckten als den der Sonne um eine Ursonne, obgleich diese eiliger in ihrer weitern Bahn als die Erde in der engern zieht.

Das anhaltende Fieber, womit ein Volk sich seine Krankheitsmaterie durch Frost und Hitze austreibt, währet oft 929 jahrhundertelang; man kann hier, da manche Nationen mit ihren Namen Krankheiten getauft, auch geistig von englischer, polnischer, neapolitanischer oder französischer Krankheit sprechen. Nur vergessen wir immer im Nachrechnen der hundertjährigen Völker-Krisen, daß die Störungen großer Weltkörper auch große Welt-Zeiten nötig haben zur Umkehr in den Regel-Lauf. Die langen Räume brauchen lange Zeiten; und daher kann eine Dissonanz oft Länder und Jahrhunderte weit von dem Tone liegen, worin sie sich auflöst, wenn schon lange das beleidigte Ohr der Eintagsfliege verweset. Doch den Menschen entschuldigt die oft von ihm selber beschuldigte Geschichte, indem sie ihn zwischen dem trägen Aufwachsen und trägen Abwelken der Völker so oft mit einem schnellen Blüten-Aufbruch unterbricht und überrascht. Und diese Eil-Entwicklungen – gegründet in der moralischen und politischen Natur, welche, wie die organische, so oft scheinbares Einhalten mit plötzlichem Aufschießen abbricht – will eben der kurzlebige, auf den halben Sold eines halben Jahrhunderts gesetzte Mensch leibhaft erleben. Er woll' es; nur richt' er nicht das Weltgericht.

Hinter uns bewegt sich die Vergangenheit mit ihren Völkern eilig zu Zielen, weil die Ferne uns scheinbar Weg und Schritte verbirgt und verkürzt; aber um und vor uns will uns alles anstocken, alles kreislaufen, an kein Ziel anlangen. Er schaue auf zum überirdischen Himmel wie zum irdischen, wo ihm alle Sterne zu stocken und zu ruhen scheinen, und denke daran, welch ein fliegendes Gewimmel von Welten sich einem höhern Auge droben aufdeckt.

Wer von uns hätte erraten – d. h. also die Vorsehung der Vorsehung sein können –, daß aus den reißenden Strömen des vierten, fünften, sechsten, zehnten Jahrhunderts noch die Goldkörner des sechzehnten u. s. w. gewaschen würden? Wer hätte, gerade in der Nähe des ein halbes Jahrtausend lang offnen Grabes aller Wissenschaften, daran zwei unsterbliche Wunderarzneien gesucht, die Erfindungen unseres Papiers und des Buchdrucks?

Es beweise ein großer Schriftsteller noch weiter fort: »Leer und töricht ist nicht jede Predigt, die es selbst dem Weisen manchmal 930 dünkt. Als Christus zu den Aposteln sagte: gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker, möchte leicht ein Philosoph, der es gehört hätte, laut zu lachen angefangen haben. Wer hätte vor 300 Jahren wohl zu Rom geglaubt, daß ein Mönch in Deutschland dem dreifach Gekrönten die Hälfte seiner Herrschaft rauben und die andere Hälfte tödlich schwächen würde? Die mächtige Republik Holland entstand ohne alle dahin gehende Absicht und gegen alle Wahrscheinlichkeit. Nicht weniger unvermutet bestieg Karl II., nachdem alle seine Anschläge vereitelt waren und er nichts mehr tun konnte, den Thron von England. Alles lehrt uns, daß wir, was geschehen wird, nicht wissen können. Darum trau' ich mehr der Wahrheit, die ich klar empfinde, als ich meiner Vorsicht traue, die mich täglich irreführt, und als dem Dünkel meiner Weisheit. Nimia praecautio dolus. Das ewige Akkommodieren, das bei uns so sehr im Schwange geht und, wie Gleim sagt, noch am Ende eine Milch-Barbarei hervorbringen wird, ist nicht meine Sache. Ich begreife nicht einmal den Stolz, der sich Wahrheit zu verwalten untersteht; das ist Gottes Sache. Also laßt uns nur ehrlich bekennen, was wir ehrlich glauben. Er wird schon zusehen.«Deutsches Museum von 1783. S. 104.

Jetzt kann man noch die nordamerikanische und die französische Revolution (beide griffen ineinander zu einer dritten) dazufügen. Möge ein zweiter Washington uns von England befreien! – So oft grub eine Zeit den ausgerissenen Baum bei dem Gipfel in die Erde; aber siehe, letzterer wurde Wurzel und diese jener.

Wir werden jetzt leicht zur versprochenen zweiten Ansicht geführt.

Auch den einzelnen Schwung-Menschen – den Vorder-Geistern eines neuen Geisterreichs – wird bei aller Freiheit ihrer Richtung doch die Zeit und Nachbarschaft ihrer Einwirkung aufgenötigt, so wie die Werkzeuge, die Wurzelheber, die Ankerwinden, die Hebebäume ihrer Kraft, und sie müssen dienen, um zu herrschen.

Ein Bauherr stellt sie an als die Baumeister der Staatsgebäude. Man behauptet, solchen Geburtshelfern der Zeit sei schon alles von der Masse der Vergangenheit vorgearbeitet, und z. B. das 931 Luthertum habe schon vor Luther unter der Erde gekeimt, wenn auch nur in Kirchhöfen aus der Asche verbrannter Ketzer. Aber man muß hinzufügen: oftmals sind Länder vorbereitet und umgepflügt mit Schwertern, gedüngt mit Blute – und bleiben doch brach, weil der Geist nicht kommt, der den guten Samen aussäet, sondern bloß der Feind mit Krallen voll Unkraut. Wiederum sind die Kreuzzüge u. s. w. (die französische Revolution) von größern Menschen gezeugt und schwangergetragen worden, und von kleinern als Wehmüttern entbunden. Klapperschlangen, welche den Riesen vergiften, zerschlägt die Rute in einer Kinderhand. – Der Unendliche allein weiß es, wozu Europa jetzt reif ist, und ob ihm ein Säemann fehle oder komme. Die Völker mit aller ihrer Weltgeschichte gleichen den Epileptischen, welche, sooft sie auch ihren Zufall schon erlitten haben, doch niemals vorhersehen, wenn er sie wieder hinwirft. Aber ebensooft gleichen sie Gelähmten, welche unter einem Gewitter so lange zitterten, bis es sie traf; – und dann hatte der Blitz sie hergestellt.

Es ist ein Unterschied, wie Anfangs-Geister einer neuen Zukunft zu Kronerben einer Vergangenheit und zu Herrschern der Gegenwart werden. Überall ackert ein Geist mit Übermacht der intellektuellen Kräfte leichter die Länder um und wurzelt sich darin mit seinen Pflanzungen ein als ein Geist mit Übermacht der sittlichen. Einsam steht der Heilige in seiner Kapelle, Sokrates in seinem Gefängnis; aber ganze Jahrhunderte werden von seinem Schüler Platon begeistert und besessen und von großen Gesetzgebern länger als von Dynastien beherrscht. Unter mehrern Ursachen ist auch dies eine: dem Geistes-Übermächtigen muß zuletzt auch der kopflose Gegenfüßler frönen und nachtraben; hingegen dem Herzens-Übermächtigen fühlt sich jeder als Bluts- und daher Kron-Verwandter nahe durch die göttliche Freiheit, womit jeder an sich der zweite Welt-Schöpfer und Gott und Kreatur zugleich sein kann. Natürlicherweise hatten Geister, welche am längsten die Welt bewegten, intellektuelles und sittliches Übervermögen, Kopf und Herz zu einer Macht verknüpft; vollends ein Heiligenschein um einen großen Kopf greift mit Himmel und Erde, mit Gewitter und Erdbeben zugleich die Länder an 932 und läßt hinter sich Thronen und Tempel – gleich Muhammed. Indes wiewohl der Heilige einsam wirkt und seine Hände mehr gen Himmel hebt als wider die Erde, so treibt er doch wie aus einem wundertätigen Grabe, obwohl unscheinbar, fort; ein sittliches Musterbild teilt ohne Getöse stillen Seelen Jahrhunderte nach Jahrhunderten segnende Kräfte mit und treibt unten mit unsichtbarer Wärme Blumen und Früchte ins Freie heraus. (Verachtete Gebetbücher fassen tiefer oft in Jahrhunderte hinein als die Manifeste der Eroberer.)

Nur ein übermächtiger Geist des Herzens schließt sich hier aus und geht, wie das Universum, einsam neben Gott. Denn es trat einmal ein Einzelwesen auf der Erde, das bloß mit sittlicher Allmacht fremde Zeiten bezwang und eine eigne Ewigkeit gründete – das, sanftblühend und folgsam wie eine Sonnenblume, brennend und ziehend wie eine Sonne, selber dennoch mit seiner milden Gestalt sich und Völker und Jahrhunderte zugleich nach der All- und Ursonne bewegte und richtete – es ist der stille Geist, den wir Jesus Christus nennen. War er, so ist eine Vorsehung, oder er wäre sie. Nur ruhiges Lehren und ruhiges Sterben waren das Tönen, womit dieser höhere Orpheus Mensch-Tiere bändigte und Felsen zu Städten einstimmte. – Und doch sind uns aus einem so göttlichen Leben, gleichsam aus einem dreißigjährigen Kriege gegen ein dumpfes verzerrtes Volk, nur wenige Wochen bekannt. Welche Handlungen und Worte von ihm mögen vorher untergegangen sein, eh' er nur seinen vier von Natur ihm so unähnlichen Geschichtschreibern bekannt geworden! Wenn also die Vorsehung einem solchen Sokrates keinen ähnlichen Platon zuschickte, und wenn aus einem solchen göttlichen Lebens-Buch uns nur verstobne Blätter zuflogen – so daß vielleicht größere Taten und Worte desselben vergessen als beschrieben worden –: so murrt und rechtet nicht über den Schiffbruch kleiner Werke und Menschen, sondern erkennt im doch nachher aufblühenden Christentum die Fülle wieder an, womit der Allgeist jährlich mehr Blumen und Kerne untergehen als gedeihen läßt, ohne darum einen künftigen Frühling einzubüßen.

So nahe vor dem Bilde des größten Menschen dürfen wir uns 933 vielleicht der dritten Ansicht, dem gewagten, ihm selber heiligen Glauben hingeben, daß ins kleine Leben des Einzel-Wesens noch etwas anders eingreife als das allgemeine Welt-Räderwerk. Oder wollt ihr so kühn sein, so viele Erfahrungen oder Bemerkungen frommer und wahrhaftiger Christen älterer Zeit bis zu Lavater und Stilling heran geradezu als Traum und Trug herabzuwerfen? Oder sie für bloße Verwechslungen mit allgemeinen Gesetzen oder mit Zufällen auszugeben? Es ist ebenso kühn, über diese Sache ein Ja als ein Nein auszusprechen; doch noch kühner wär' es, nach dem Ja einer besondern Vorsehung zu leben; auf dem festen Lande des Handelns sind uns die himmlischen Sterne weniger zu Wegweisern nötig als auf dem Meere des Innern. – Gegen das Sprichwort, daß jeder seines Glücks (und Unglücks) Schmied sei und daß folglich das moralische Gesetz der Bauplan der Vorsehung sei, obsiegt die Einwendung schneller Beglückungen oder Verunglückungen nicht ganz; denn wir schreiben irrig immer nur unserer letzten und neuesten Handlung das neueste Glück und Unglück zu, und wir vernehmen von unserer Stimme, wie bei einem Echo, nur die letzten Silben widergehallt; indes hinter der letzten Tat deren lange Ahnenreihe und Blutsverwandtschaft sich ins ganze Leben versteckt, welche uns entweder mit Gaben oder Ruten empfängt. »Es ist Verhängnis« (sagt die Jungfrau) – »Oder wird ein einziger Eitelkeits-Abend so schwer gebüßt?« – Ich antworte: »Du büßest nicht den Abend, sondern die Abende; und die Schuld borgender Jahre fodert irgendein letzter Martertag unbarmherzig ein.« – Die Menschen verwundern sich erstlich, wenn ein Tag lange Jahre straft; aber dafür straft er wieder jahrelang fort, und dann verwundern sie sich wieder zum zweiten Mal.

Gleichwohl sagen schon Sprichwörter der Völker noch eine andere Erfahrung aus: »Kein Unglück kommt allein« (ich setze dazu: auch kein Glück; denn die Grazien sind so gut verbunden als die Furien) – ebenso die Bangigkeit der Griechen nach einem großen Glück. Und wer von uns stand nicht oft erschüttert vor seltsamen wiederkehrenden Einmischungen des großen Geschicks in das seinige! – Weltleute, mehr das Thronhimmlische als 934 das Sternhimmlische kennend, geben wiederkehrenden Seltsamkeiten des Lebens den Namen Glück und Unglück. Große Menschen glaubten (besonders vormals) am leichtesten an Vorsehung und Glück; – vielleicht weil in ihrem größeren Tatenleben alles in vergrößerter Schrift leichter zu lesen war. – »Du fährst den Cäsar und sein Glück,« sagte Cäsar mit Recht, bis ihm die Nemesis an der Bildsäule des Pompejus mit Dolchen erschien. Luther vertrauete Gott, obsiegte dem Teufel, und seine Nemesis war bloß ein Todesengel, der ihn abholte ins Land voll Cherubs, wo vielleicht Flamme und Ruhe sich besser vertragen.

Und wem tritt hier nicht der Held des Jahrhunderts vor das Auge, welcher, obwohl begleitet rechts von der kriegerischen und weisheitsvollen Pallas mit ihrem Medusenschilde, doch links von der Glücksgöttin geführt und beschirmt werden mußte, um die schwere Bahn durchzukommen! Auch glaubt der Wunder-Heros selber an sein Glück; und hütet es daher mit griechischem Sinne überall durch Vorsichts-Regeln. Wenn bei diesem Manne so viele Wunder wiederkommen, daß er z. B. zweimalDer Verf. dieses spielt hier auf seinen eigenen, obwohl häufig bestätigten Aberglauben an, welchen er seit vielen Jahren spielend hegt und bekennt, der aber samt seinen Quellen mehr in seine kleine Lebensgeschichte gehört, auf den nämlich, daß aller guten (und bösen) Dinge nicht sowohl drei sind (dies wäre ihm wahrer Aberglaube), sondern nur zwei, und daß es keine Drillinge von Glück, Unglück, Adlern, Parlamentshäusern, Dioskuren etc. gebe, sondern nur Zwillinge. Denn der Drilling ist stets Gegenfüßler der Zwillinge. Zwei Siegen folgt z. B. kein dritter. ein Paar krönende und entthronende Siege an demselben Monatstage abgewinnt: so darf man vielleicht wenigstens als spielende Zufälligkeiten desselben Glücks der Bemerkungen erwähnen, daß Napoleon im Polnischen heißt: weitersiege, und daß die Wörter révolution française anagrammatisch lauten: un Corse la finira, wenn man das Veto herausläßt.

Lasse sich doch keine Seele vom Glauben an Gott in ihrer Lebens-Geschichte etwan dadurch abneigen, daß sie zu klein dafür sei in der Menge der Geister und Sonnen. Wiegt ein verwitternder grober Sonnen-Klumpe ein geflügeltes Ich auf? Es zählt ja das arme lebendige Räupchen neben dir mit seinen Ahnen bis zu Adam weit hinauf, und seine Voreltern wurden, ungeachtet 935 aller Sündfluten und Vögel und Jahreszeiten, dennoch seine Voreltern, und das diesjährige Laub grünte für das Räupchen! – Und wo gäb' es denn im All etwas echt Kleines? Das All geht ebensogut auf Würmchen-Füßen als das Epos auf Verse-Füßen, und beide gehören dem Heldengedicht; aber dann muß der Dichter mitten im Feuer auch die kleinsten Füße lenken. Vor dem höchsten Auge muß das Kleinste wieder ein Größtes und All sein; und die Unendlichkeit der Teilbarkeit ist eine des Werts. Aber findet ihr denn nicht diese Wahrheit bei jedem Spaziergange auf jedem grünen Blatte? Ist etwan die niedrigste Mücke schlechter, unbestimmter ausgeführt mit Augen und Adern als der höchste Mensch? Die Natur kennt keinen Geiz, weder mit Kraft, noch Zeit, noch Verstand, noch Leben, so wie keine Unbestimmtheit; auch keine Vorliebe für irgendein äußeres Leben; sie wirft in den Spinnen-Kopf eine unbewußte Meßkunst, wie in ihres Newtons seinen eine bewußte.

Wie der alte ewige Ausbau des Blättchens und dessen Käfers eine stehende Vorsehung ist: so ist die Geschichte beider Wesen und der Völker eine wandelnde.

Die Geschichte ist keine Ausgleichung zwischen Glück und Wert, obwohl eine langsame zwischen Gesamt-Gange und Einzel-Flug; daher wird euch die welthistorische Sonnenuhr selten richtig genug im Mondschein eueres Lebens zeigen können. Ihr verlangt, die stark besetzte Instrumental-Natur soll mit der lebendigen Vokal-Natur in einer Note zusammentreffen; aber kann nicht euer Singstück hinauf und hinab sich ganz anders als das Instrumental-Stück, das euch frei begleitet, und sich doch mit ihm harmonisch bewegen?

Dem Menschen geziemts, bei dem demütigsten Herzen gleichwohl ein gläubig-offnes Auge für das Außerweltliche zu bewahren, um nicht Blumenstaub und Schwefelregen der Zukunft für bloßen Straßenstaub seines Wegs zu halten. Uns geziemt es, Begebenheiten, welche witzigen Einfällen des Ungefährs gleich scheinen, nachzusinnen, weil auch der Witz des Zufalls wie der menschliche zuletzt auf Regel und Besonnenheit beruht, damit wir nicht Pyramiden und Persepolis-Ruinen, wie jener Gelehrte, 936 für Aufwürfe der blinden Natur ansehen. Wenn jahrtausendelang der Magnet dieselbe Himmelgegend unserm leiblichen Auge vergeblich zeigt: wie leichter muß unserm Blicke und Gefühl das richtungs-wechselnde Einwehen des geistigen Äthers entfliehen! Wird uns doch sogar am so nahen Menschen das Absondern seines Scheines von seinem Willen so schwer! – Aber in einem stillen frommen Herzen nennt sich der Geschichts-Gott lauter als im rauschenden Weltgebäude.

Verzweiflung ist der einzige echte Atheismus. Hole zum Glauben mit einem besonnenen Überglauben aus; achte vorzüglich auf das, was, ohne deine Schuld und Würdigkeit wiederkommend, wie ein Geist erscheint und geht, was plötzlich in der Nacht herunterfällt als ein Manna, das entweder ernährt, oder sanft ausheilt. Ist dir aber eine solche Sicherheit darüber in deinem Allerheiligsten gegeben worden, so vertraue und schweige; wage aber nicht; sondern bete nur durch fromme Taten die unbegreiflichen an.

Frage mich nicht, schuldloser Überunglücklicher (wenn du in diesem seltensten Falle bist), auf deinem Sterbebette mit gebrochner Stimme: wo aber deine Vorsehung sei. Schreitet hinter zu großem Glück die Nemesis strafend: so geht sie auch hinter zu großem Unglück belohnend; stirb nur, so mußt du sie sehen.

 


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