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Vierzehntes Kapitel

Jetzt in Paris.

Die Zeit eines Halbjahres ist dahingegangen, und der Liebesbund, der so jäh geschlossen wurde, war schon seit einer Weile gelöst und gebrochen, und Marie Grubbe und Sti Högh sind langsam auseinander geglitten.

Sie wissen es alle beide, aber es ist nicht zwischen ihnen zu Worten geworden; es liegt so viel Bitterkeit und Schmerz, so viel Entwürdigung und Selbstverachtung in dem drohenden Geständnis, daß es eine Linderung ist, zu zögern.

Darin sind ihre Gemüter einig.

Aber in der Art und Weise, ihren Kummer zu tragen, sind sie äußerst verschieden. Denn während Sti Högh in hoffnungsloser Qual, durch den Schmerz selber gegen den schärfsten Stachel des Schmerzes abgestumpft, trauert und trauert in machtloser Benommenheit, gleich einem gefangenen Raubtier auf und nieder geht, auf und nieder in seinem engen Käfig, so ist Marie vielmehr einem Tier zu vergleichen, das sich losgerissen hat und in unaufhaltsamer Flucht flieht, in nimmer ruhgemilderter Flucht, vorwärts und vorwärts getrieben in wahnwitziger Angst durch die Kette, die klirrend in seiner Spur nachschleift.

Sie wollte vergessen.

Aber vergessen ist wie Heidekraut; das wächst nur von selber, und das Hegen und die Sorgfalt und das Plagen einer ganzen Welt fügt seinem Wachstum nicht einen Zoll hinzu.

Sie verschwendete ihr Gold mit vollen Händen und kaufte sich Pracht; sie griff nach dem Becher jeden Genusses, den Geld kaufen konnte, den Geist und Schönheit und Rang kaufen konnten; aber es war alles vergebens.

Ihr Elend war ohne Ende, und nichts, nichts konnte sie davon befreien. Hätte eine Trennung von Sti Högh nicht eine Erleichterung, sondern nur eine Veränderung in ihrer Qual hervorbringen können, so wäre dies längst geschehen; aber es war gleichgültig, war völlig einerlei, ob es geschah oder nicht; es war kein Funke einer Hoffnung auf Linderung darin; ebensogut beieinander bleiben als sich trennen, darin lag keine Rettung.

Aber sie trennten sich dennoch, und zwar machte Sti Högh den Vorschlag dazu.

Sie hatten sich ein paar Tage lang nicht gesehen, als Sti das vordere der prachtvollen Zimmer betrat, die sie von Isabel Gilles, der Wirtin in » La croix de fer«, gemietet hatten.

Marie war da, und sie saß und weinte.

Sti schüttelte mißmutig den Kopf und nahm am andern Ende des Zimmers Platz.

Es war so schwer, sie weinen zu sehen und zu wissen, daß jedes tröstende Wort von seinen Lippen, jeder mitleidige Seufzer und teilnahmsvolle Blick den Kummer nur bitterer und das Weinen nur heftiger machen würde.

Er ging auf sie zu.

»Marie,« sagte er leise und tonlos, »laß uns noch einmal gründlich miteinander reden und uns dann trennen.«

»Ja, was kann das nützen?«

»Sage das nicht, Marie; es harren dein noch frohe Tage in dichten Scharen.«

»Ja, Weintage und Tränennächte in einer langen und ununterbrochenen Kette.«

»Marie, Marie, gib acht auf die Worte, die du sagst; denn ich verstehe sie, wie du nimmer glauben magst, daß ich sie verstehen könne; und da verwunden sie so schmerzlich hart.«

»Die Wunden, die von spitzigen Worten gestochen werden, die achte ich nur gering und habe nie den Gedanken gehabt, dich damit zu verschonen.«

»So stoß denn zu; hab nicht so viel wie einen Funken Mitleid mehr; sag mir, daß du dich erniedrigt fühlst durch deine Liebe zu mir, tief erniedrigt! Sag mir, daß du Jahre deines Lebens dafür hingeben würdest, könntest du jede einzelne Erinnerung an mich aus deiner Seele reißen! Und mach mich dann zum Hund und gib mir Hundenamen; nenne mich das Schmähendste, das du sagen kannst, und ich will auf alle deine Namen hören und sagen, daß du recht hast, weil du recht hast, recht hast, so qualvoll es auch zu sagen ist. Denn höre, Marie, höre und glaube es, wenn du kannst: obwohl ich weiß, es grauet dir vor dir selber, weil du mein gewesen bist, und du erkrankst in deiner Seele jedesmal, wenn du daran denkst und runzelst deine Stirn in Abscheu und Not, so liebe ich dich dennoch – ja ja, mit all meiner Kraft und all meinem Vermögen liebe ich dich, Marie.«

»Nein, pfui, schäme dich, Sti Högh, ach, schäm dich doch, du weißt nicht, was du redest. Und doch, ach Gott verzeih mir, doch ist es wahr, so schrecklich es auch klinget. Ach, Sti, Sti! warum bist du die Bauernseele, die du bist, der kriechende Madenwurm, der sich treten läßt und doch nicht sticht? Wenn du wüßtest, wie groß ich dich geglaubt! stolz und groß und stark, dich, der du so schwach bist. Aber das machten deine klingenden Worte, so von einer Macht logen, die du nie besessen, so von einer Seele riefen, die all das war, was die deine nie gewesen, nie werden würde. Sti, Sti, war das recht? ich fand Kleinheit für Stärke, erbärmlichen Zweifel für kühnes Hoffen, und Stolz, Sti! wo ist dein Stolz geblieben?«

»Recht und Gerechtigkeit sind nur geringe Gnade; aber ich verdiene nicht mehr, denn ich bin wenig besser denn ein Fälscher gegen dich gewesen. – Marie, ich habe nie an deine Liebe zu mir geglaubt, nein, niemals; nicht einmal in jener Stunde, als du sie mir schwurest, war Glauben in meiner Seele. Ach, wie gern wollte ich glauben, konnte aber nicht. Ich konnte nicht das dunkle Haupt des Zweifels zu Boden zwingen; es starrte mich an mit den kalten Augen, und alle die reiche, ranke Hoffnung meiner Träume, die blies es weg mit seinem bitter lächelnden Mund. Ich konnte nicht glauben, daß du mich liebtest, Marie, und doch griff ich mit beiden Händen und mit ganzer Seele nach dem Schatz deiner Liebe, und ich freute mich daran in Angst und bangem Glück, wie sich ein Räuber seines gülden blitzenden Raubes freuen kann, wenn er weiß, daß der rechte Eigentümer über eine kurze Weile kommen und ihn ihm aus den liebbelasteten Händen reißen wird. Denn der wird einstmals kommen, Marie, der deiner Liebe wert ist oder den du ihrer wert glaubst; und er wird nicht zweifeln, nicht betteln oder zittern, er wird dich in seiner Hand biegen wie lötig Gold und seinen Fuß auf deinen Willen setzen, und du wirst ihm folgsam sein in Demut und Freude; aber das ist nicht, weil er dich mehr liebt als ich, denn das kann nicht sein, sondern weil er mehr Glauben an sich selbst hat und weniger Auge für deinen unschätzbaren Wert, Marie.« »Ach, das ist ja eine förmliche Wahrsagerlektion, die Ihr da herbetet, Sti Högh; aber das ist so, wie Ihr pfleget: immer will Euer Gedanke auf die weite Fahrt hinaus. Ihr seid just wie die Kinder, die ein Spielzeug zum Geschenk bekommen haben; statt damit zu spielen und sich daran zu freuen, haben sie keine Ruhe, bis sie nicht sehen, was inwendig darin ist und es aus Glied und Gelenk gezerret haben. Ihr ließet Euch niemals Zeit, zu halten und zu bewahren, vor lauter Fangen und Greifen; ihr zerhacket alles Bauholz des Lebens in Gedankenspäne.«

»Lebe wohl, Marie.«

»Lebet wohl, Sti Högh, so gut Ihr vermöget.«

»Dank – Dank – es muß wohl so sein – aber ich bitt um eins.«

»Nun?«

»Wann Ihr von hinnen reiset, so lasset niemand den Weg wissen, den Ihr gehen wollt, damit ich es nicht zu hören kriege, denn ... denn ich stehe nicht dafür ein, daß ich die Macht hält mich abzuhalten, Euch zu folgen.«

Marie zuckte ungeduldig die Achseln.

»Der liebe Gott segne Euch, Marie, jetzt und ewiglich.«

Und dann ging er.


Eine lichte Novemberdämmerung, in der sich das bronzebraune Licht der Sonne zögernd von den einsam blitzenden Fensterscheiben hoher Giebel zurückzieht, auf den schlanken Spitzen der Zwillingstürme des Domes weilt, auf Kreuzen und goldenen Kränzen da oben funkelt, sich in schimmernder Luft auflöst und verschwindet, während der Mond schon seine runde, blanke Scheibe über den länglich gerundeten Linienzug der fernen, braunen Hügel gehoben hat.

In gelben, blauenden und violetten Flecken spiegeln sich die entschwindenden Farben des Himmels in den blanken, lautlos rinnenden Wassern des Flusses; und Blätter von Weide und Ahorn und Holunder und Rosenstrauch lösen sich aus dem gelben Laubgehänge, flattern in zitterndem Fluge dem Wasser zu, werden von der blanken Fläche erhascht und gleiten mit, längs überhängender Mauern und nasser, steinerner Treppen, hinein in das Dunkel unter schwere, niedrige Brücken, um feuchte, hölzerne Pfähle herum, fangen einen Blitz von den glühenden Kohlen in der roterleuchteten Schmiede auf, werden in dem rostroten Strom aus der Schleifmühle herumgewirbelt und verschwinden dann zwischen Röhricht und lecken Booten, zwischen versenkten Gefäßen und dem ertrinkenden Flechtwerk schlammiger Reiserzäune.

Eine bläuliche Dämmerung breitet ihr durchsichtiges Dunkel über Märkte und offene Plätze, wo das Wasser verschleiert blinkt, während es aus nassen Schlangenschnauzen und tropfbärtigen Drachenmäulern in den phantastisch gebrochenen Bogen der Springbrunnen und zwischen zackenlinigen, schlanken Fialen niederströmt; es murmelt sanft und rieselt kalt, es gurgelt gedämpft und tropft scharf und bildet schnell wachsende Ringe auf dem dunklen Spiegel des reichlich überfließenden Kummenbassins. Ein sachter Windhauch saust über den Platz, und ringsumher aus finsteren Toren, aus schwarzen Fensterscheiben und aus düsteren Gassen starrt ein anderes Dunkel in das Dunkel hinaus.

Dann bricht der Mond hervor und wirft Silberschein über Dächer und Zinnen und teilt Licht und Schatten in scharfe Felder ab. Jeder Balkenkopf, jedes geschnörkelte Schild, jede kurze Brustlehne in dem niedrigen Geländer der Altane wird auf Mauer und Wand abgezeichnet. Alles wird in scharfen, schwarzen Formen ausgeschnitten, die künstlich durchbrochenen Steinmuster über den Portalöffnungen der Kirchen, St. Georg mit seiner Lanze dort an der Ecke des Hauses und die Blume mit ihren Blättern hier im Fenster. Und wie er die breite Straße erhellt, und wie er sich in dem Wasser des Flusses spiegelt! Und es sind keine Wolken am Himmel; ein weißlicher Kreis, ein Glorienschein um den Mond, und sonst nichts als tausend Sterne.

Ein solcher Abend war es jetzt in Nürnberg, und in der steilen Gasse hinauf zur Burg und in dem Hause, das man das v. Kamdorfsche nannte, fand an diesem Abend ein Festmahl statt.

Sie saßen bei Tische, und sie waren alle satt, lustig und trunken. Bis auf einen waren sie alle ältere Leute, und dieser eine war nur achtzehn Jahre alt. Er hatte keine Perücke, er trug sein eigenes Haar, und das war üppig genug dazu, golden, lang und gelockt. Sein Antlitz war so schön wie das eines Mädchens, weiß und rot, und die Augen waren groß, blau und still.

Den goldenen Remigius nannten ihn die andern, und golden nicht bloß um seines Haares willen, sondern auch wegen seines großen Reichtums; denn trotz seiner jungen Jahre war er der reichste Edelmann im ganzen Bayrischen Wald – denn aus dem Bayrischen Wald, da war er her.

Sie sprachen von Frauenschönheit, die lustigen Herren an der guten Tafel; und alle waren sie einig darüber, daß dazumals, als sie jung waren, es in der Welt von Schönheiten gewimmelt habe, mit denen die, so nun den Namen von Schönheit trugen, gar keinen Vergleich aushalten konnten.

»Aber wer hat die Perle von ihnen allzuhauf gesehen?« sagte ein rotwangiger Dickwanst mit winzig kleinen, funkelnden Augen; »wer hat Dorothea von Falkenstein, von den Falkensteinern aus dem Harz, gesehen? Sie war rot wie eine Rose und weiß wie ein Lamm, sie konnte mit ihren Händen ihre Taille umspannen und noch einen Zoll dazu, und sie konnte auf Lercheneier treten, ohne daß sie zerbrachen, so leicht war ihr Gang auf Erden; aber sie war darum keine von euren Reiherbeinen, sie war voll wie ein Schwanenvogel, der auf einem Teich segelt, und fest wie nur irgendein Reh, so in einem Walde springet.«

Dann tranken sie darauf.

»Gott segne euch allesamt, so grau ihr seid!« rief ein langer, alter Knacker am Ende der Tafel; »aber die Welt wird häßlicher Tag für Tag. Wir können das an uns selber sehen,« und er sah sie der Reihe nach an, »was für Kerle sind wir doch gewesen! aber meinetwegen zum Teufel damit. Wo aber im Namen aller Welt, Zechbrüder, kann mir jemand das erzählen? was? – kann es jemand? – wer kann es? – kann mir jemand das erzählen: wo sind die drallen Wirtinnen mit ihren lachenden Mündern und funkelnden Augen und netten Füßen, und dann der Wirtsfrau Töchterlein mit dem gelben, gelben Haar und den Augen so blau, wo sind die geblieben? Was? Oder sind es Lügen, konnte eins in eine Herberge, in eine Schenke an der Landstraße oder in ein Wirtshaus kommen, was, konnte eins dahin kommen, ohne daß sie nicht auch da waren? Ach, Jammersjammer und Elendigkeit, was sind das für buckelrückige Töchter mit Schweinsaugen und breiten Hüften, die sich die heutzutage zulegen; was sind das für zahnlose, kahlköpfige Hexen, so jetzt Brief und Bewilligung kriegen, mit ihren triefenden Augen und runzeligen Händen hungrigen und durstigen Leuten die Seel aus dem Leib zu schrecken! Uh, pfui; mir ist so bange vor einer Schenke wie vor dem leibhaftigen Teufel; denn ich weiß, der Bierausschenk dadrinnen ist mit dem Tod von Lübeck in eigener garstiger Gestalt verheiratet; und wenn eins erst so alt geworden ist wie ich, so ist da was in dem memento mori, was man lieber vergessen möcht, als sich daran erinnern lassen.«

Es saß ein Mann mitten an der Tafel, kräftig gebaut und recht voll im Gesicht, das gelb war wie Wachs; er hatte graue und buschige Brauen und helle, spähende Augen; er sah nicht eben schwächlich aus, aber als habe er viel gelitten, große körperliche Schmerzen gelitten; und es war ein Zug um seinen Mund, wenn er lächelte, als ob er zugleich etwas Bitteres hinunterschlucke. Er sagte mit einer weichen und gedämpften Stimme, ein wenig heiser war sie: »Die braune Euphemia aus dem Geschlecht der Burtenbacher, die war stattlicher als irgendeine Königin, so ich vor meinen Augen gesehen habe. Sie konnte die steife Goldbrokatpracht tragen, als sei es das bequemste Hausgewand, so es gab, und Ketten und Kleinodien um Hals und Taille, auf der Brust und im Haar; das hing und das saß, als wären es die Kränze von wilden Beeren, so Kinder sich umhängen, wann sie im Walde spielen. Es gab keine, die wie sie war; wann die andern jungen Jungfrauen in ihrem Staat prunkten wie prächtige Reliquienschreine mit Schnörkeln aus Gold und mit Ketten aus Gold, mit Rosen aus kostbaren Steinen, so war sie so festlich und schön, so frisch und leicht anzusehn wie ein Banner, das im Winde flattert. Es war keine ihresgleichen, war nicht und ist auch nicht.«

»Ei freilich; und ist ihr obendrein noch über!« rief der junge Remigius und sprang auf. Er beugte sich eifrig über den Tisch, auf die eine Hand gestützt, während er in der andern einen blanken Pokal schwenkte, dessen goldener Traubensaft über den Rand spülte und seine Finger und sein Handgelenk netzte und in klaren Tropfen von seiner weißen, vollen Spitzenmanschette tropfte. Seine Wangen glühten von Wein, seine Augen funkelten, und er sprach mit unsicherer Stimme:

»Schönheit!« sagte er; »seid ihr allesamt blind, oder hat keiner von euch die dänische Frau gesehen, Frau Marie nicht einmal gesehen? Ihr Haar ist, wie wenn die Sonne auf eine Wiese schimmert und das Gras in Ähren steht; ihr Auge ist blauer als wie eine Klinge, und ihre Lippen sind so rot wie eine blutende Traube. Sie geht wie ein Stern, der über den Himmel geht; sie ist rank wie ein Zepter und stattlich wie ein Thron; ach, alle, alle Leibestugenden und alle Scharen der Schönheit stehen bei ihr in Blüte, wie Rose an Rose in florierender Pracht. Aber es ist etwas an ihrer Schönheit, so bewirket, daß, wenn eins sie siehet, einem zumute wird, als ob man am Feiertagmorgen sie von den Türmen des Domes blasen höret; einem wird so still, denn sie ist gleichwie die heilige Schmerzensmutter auf der schönen Bildertafel; es ist eine solche Hoheit der Trauer in ihren klaren Augen und das gleiche, hoffnungslose Geduldslächeln um ihren Mund.«

Er war ganz bewegt und hatte Tränen in den Augen, er wollte reden, konnte aber nicht und blieb aufrecht stehen, mit seiner Stimme kämpfend, um die Worte hervorzubringen. Aber dann schlug einer von seinen Nachbarn ihn freundlich auf die Schulter und vermochte ihn, sich niederzusetzen, und trank dann mit ihm Becher auf Becher, und dann ward wieder alles gut; die Lustigkeit der Alten ging hoch wie zuvor, und alles ward Jubel, Gesang und Lachen.


Marie Grubbe war also in Nürnberg.

Seit sie sich von Sti Högh getrennt hatte, war sie fast ein Jahr lang umhergeschweift und hatte sich nun endlich hier zur Ruhe gesetzt.

Sie hatte sich sehr verändert seit jenem Abend, als sie an dem Ballett im Frederiksborger Schloßgarten teilgenommen. Nicht nur ging sie jetzt in ihr dreißigstes Jahr, sondern die unglückliche Verbindung mit Sti Högh hatte auch einen merkwürdig starken Eindruck auf sie gemacht. Sie hatte sich von Ulrik Frederik getrennt, durch zufällige Umstände geleitet und getrieben, vor allem aber kraft und aus Anlaß der Träume ihrer ersten Jugend, die sie bewahrt hatte, daß nämlich derjenige, dem eine Frau folgen soll, sein muß wie ein Gott auf Erden, so daß sie in Liebe und demütiglich aus seinen Händen Gutes und Böses hinnehmen könne, je nach seinem Willen; und nun hatte sie in der Verblendung eines Augenblickes Sti für diesen Gott gehalten, ihn, der nicht einmal ein Mann war. Das waren ihre Gedanken. Jede Schwäche, jeden unmännlichen Zweifel bei Sti fühlte sie wie einen unauslöschlichen Schandfleck an sich selber. Es ekelte ihr vor sich selbst wegen dieser kurzen Liebe, und sie gab ihr niedrige Schmähnamen.

Diese Lippen, die ihn geküßt hatten, möchten sie welken; diese Augen, die ihm zugelächelt hatten, möchten sie blöde werden; dieses Herz, das ihn geliebt hatte, möchte es brechen. Jedes Vermögen in ihrer Seele, sie hatte es besudelt durch diese Liebe; jedes Gefühl, sie hatte es entheiligt. Sie hatte alles Zutrauen zu sich selbst verloren, allen Glauben an ihren eigenen Wert, und in der Zukunft – es leuchtete ihr keine Hoffnung in der Zukunft.

Ihr Leben war abgeschlossen, ihr Lebenslauf vollendet; ein stiller Winkel, wo sie ihr müdes Haupt zur Ruhe legen konnte, um es nie mehr zu erheben, das war das Ziel aller ihrer Wünsche.

So war ihr Sinn, als sie nach Nürnberg kam. Ein Zufall führte sie mit dem goldenen Remigius zusammen, und seine innige, aber zurückhaltende Anbetung, die abgöttische Anbetung der frischen Jugend, sein jubelnder Glaube an sie und sein Glück in diesem Glauben an sie, ist wie kühler Tau für die niedergetretene Blume gewesen; sie erhebt sich freilich nicht, aber sie welkt auch nicht, sie entfaltet noch die feinen, farbenreichen Blätter dem Lichte zu und duftet und strahlt in zögernder Lebenskraft. Also auch sie. Denn es lag Labung darin, sich rein und zart und unbefleckt in eines andern Gedanken zu sehen, und es war halb wie Erlösung, zu wissen, daß man diejenige war, die in der Seele eines andern ein frisches Zutrauen weckte, Schönheitshoffnung und edle Sehnsucht, so den, in dem sie erweckt wurde, reich machte. Und es war auch sanft und lindernd, in vagen Bildern und dunklen Worten die Klage seiner Schmerzen vor einer Seele auszuklagen, die, selbst unerprobt und frei von Kummer, mit stiller Wollust jedes ihrer Leiden litt und dankbar war, weil sie Erlaubnis erhielt, die Schmerzen zu teilen, die sie ahnte, aber nicht verstand und dennoch vollauf teilte. Ja, es war sanft zu klagen und zu sehen, wie unsere Schmerzen Ehrfurcht erweckten und nicht Mitleid, so daß sie wurden wie ein dunkles und majestätisches Prachtgewand um unsere Schultern, ein tränenfunkelndes Diadem um unsere Stirn.

Solchermaßen begann Marie nach und nach, sich mit sich selbst zu versöhnen; aber dann geschah es eines Tages, als Remigius ausgeritten war, daß sein Pferd scheute, ihn aus dem Sattel warf und ihn in den Steigbügeln zu Tode schleifte.

Als Marie das hörte, versank sie in eine schwere, dumpfe und tränenlose Trauer. Sie saß ganze Stunden und starrte vor sich hin mit einem müden, gedankenlosen Blick, stumm, wie jemand, der der Sprache beraubt ist, und war nicht zu bewegen, irgend etwas vorzunehmen, ja, sie wollte nicht einmal, daß man zu ihr redete; tat jemand das, so wies sie ihn mit einer matten Bewegung der Hand und einem stillen Schütteln des Kopfes ab, als ob es ihr Schmerzen verursachte.

Dies währte nun lange; aber mittlerweile war fast all ihr Geld verbraucht, und es war kaum mehr so viel übrig, daß sie dafür nach Hause reisen konnten. Lucie ward nicht müde, Marie das vorzuhalten, aber erst ganz allmählich fand sie Gehör.

Endlich reisten sie denn.

Unterwegs erkrankte Marie, so daß die Reise sich sehr in die Länge zog, und Lucie mußte das eine reiche Gewand nach dem andern, den einen kostbaren Schmuck nach dem andern verkaufen, damit sie des Weges weiter kommen konnten.

Als sie Aarhus erreichten, besaß Marie kaum mehr als die Kleider, die sie auf dem Leibe hatte.

Hier trennten sie sich; Lucie kehrte zu Frau Rigitze zurück, Marie ging nach Tjele.

Das war im Frühling dreiundsiebenzig.


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