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Viertes Kapitel

Gelbrote Lichtflecke schossen über der meergrauen Nebelbank am Horizont auf und entzündeten die Luft über sich, so daß sie in einer sanften, rosengüldenen Flamme brannte, die sich weiter und weiter ausbreitete, bleicher und bleicher, bis hinauf zu einer langen, schmalen Wolke; sie griff nach ihrem welligen Saum, machte ihn glühend, goldig, blendend. Über dem Kallebostrand war es hell von violettem und rötlichem Widerschein aus den Wolken der Sonnenecke. Der Tau zitterte auf dem hohen Gras des Westerwalles, und die Spatzen zwitscherten auf den Dächern dahinter und in den Gärten davor, so daß die Luft ein einziges bebendes Klingen war. Aus den Gärten trieb ein leichter, feiner Dunst in schmalen Streifen, und die Bäume neigten langsam die fruchtschweren Zweige vor dem Lufthauch draußen vom Sunde her.

Ein langgezogenes, dreimal wiederholtes Hornsignal erscholl vom Westertor und ward aus den andern Stadtecken beantwortet. Die einsamen Schildwachen längs des Walles begannen schneller auf ihren Posten hin und her zu gehen, schüttelten die Mäntel und richteten an ihrer Kopfbedeckung: jetzt kam ja die Ablösung.

Draußen auf der nördlichen Station vor dem Westertor stand Ulrik Frederik Gyldenlöve und sah den weißen Möwen nach, die in segelndem Fluge über der blanken Wasserfläche des Wallgrabens auf und nieder strichen.

Flüchtig und leicht, bald matt, bald nebelhaft, bald farbenreich, stark, glühend, lebendig und klar jagten seine zwanzigjährigen Erinnerungen ihm an der Seele vorüber. Sie kamen im Duft starker Rosen und im Duft frischer, grüner Wälder; sie kamen im Klang von Jägerhallo, zum Ton von Geigen und im Rauschen knisternder Seide. Das Kindheitsleben da unten in der holsteinischen Stadt mit den roten Dächern zog fern, aber sonnenbeleuchtet vorüber; er sah die hohe Gestalt seiner Mutter, der Frau Margrete Pappen, ihr schwarzes Gesangbuch und ihre weißen Hände; die sommersprossige Kammerzofe mit den dünnen Knöcheln sah er, und den aufgedunsenen Fechtmeister mit dem rotblauen Gesicht und den schiefen Beinen. Der Garten von Gottorp zog vorüber und die Wiesen mit den frischen Heuschobern unten an der Förde, und da stand des Jägers täppischer Heinrich, der wie ein Hahn krähen und so prächtig flache Steine auf der Wasserfläche dahintanzen lassen konnte. Die Kirche kam mit ihrem wunderlichen Halbdunkel, ihrer stöhnenden Orgel, mit dem geheimnisvollen eisernen Gitter der Kapelle und dem mageren Christus, der die rote Fahne in der Hand hatte.

Vom Westertor erscholl wieder ein Hornsignal, und im selben Augenblick brach das Sonnenlicht hervor, grell und warm, und verjagte alle Nebel und dunstigen Töne.

Und dann war da die Jagd, wo er seinen ersten Hirsch schoß und der alte von Dettmer ihm die Stirn mit dem Blut des Tieres zeichnete, während die armen Jägerburschen wildschmetternde Fanfaren bliesen. Und dann war da der Blumenstrauß für des Schloßvogts Malene und die ernste Szene mit dem Hofmeister, und dann war da die Reise ins Ausland mit dem ersten Duell im taufrischen Morgen, mit Annettens Kaskaden von klingendem Gelächter, mit dem Ball beim Kurfürsten und der einsamen Wanderung vor die Tore der Stadt, da sein Kopf von dem ersten Rausch schmerzte. Dann kam ein goldener Nebel mit dem Klang von Bechern und dem Duft von Wein, und da war Lieschen, und da war Lotte, und da waren Marthas weißer Nacken und Adelaidens runde Arme. Endlich die Reise nach Kopenhagen, der gnädige Empfang seines königlichen Vaters, das geschäftig langweilige Hofleben der Tage und wilde Nächte, wo der Wein in Strömen floß und der Kuß raste, unterbrochen von dem lustigen Lärm prachtvoller Jagdfeste und dem zärtlichen Geflüster nächtlicher Stelldicheins im Jbstrupschen Garten oder in den goldenen Sälen des Hilleröder Schlosses.

Aber weit klarer als dies alles sah er Sofie Urnes brennend-schwarze Augen, weit mehr hingerissen lauschte er in der Erinnerung ihrer wollustweichen, schönen Stimme, die einen gedämpft wie mit weichen Armen an sich lockte und erhoben entfloh wie ein Vogel, der aufsteigt und einen mit übermütigen Trillern verspottet, während er davonfliegt...

Ein Rascheln unten im Buschwerk des Wallabhanges erweckte ihn aus seinen Träumen.

»Wer da!« rief er.

»Es ist bloß Daniel, Herr Gyldenlöve, Daniel Knopf,« kam die Antwort, und ein kleiner, gichtbrüchiger Mann kam aus dem Gebüsch heraus und verbeugte sich.

»Was! ›Die leibhaftige Kürze‹? Was tausend Seuchen macht Er da?«

Der Mann sah betrübt vor sich nieder.

»Daniel, Daniel!« sagte Ulrik Frederik und lächelte, »Er ist diese Nacht nicht ungeschädigt aus dem »feurigen Ofen« hervorgegangen; der deutsche Brauer hat Ihm wohl zu stark eingeheizt.«

Der Gichtbrüchige schickte sich an, den Wallabhang hinaufzuklimmen. Daniel Knopf, auf Grund seiner Natur auch ›die leibhaftige Kürze‹ genannt, war ein reicher Großkaufmann von einigen zwanzig Jahren und war ebenso bekannt wegen seines Reichtums wie seiner scharfen Zunge und seiner Fechtkunst halber. Er pflegte viel Umgang mit dem jungen Adel, das heißt mit einem bestimmten Kreis, der unter dem Namen »le cercle des mourants« bekannt war und insonderheit aus jüngeren, dem Hofe zunächststehenden Leuten bestand. Ulrik Frederik war die Seele in diesem Kreis, der mehr lebenslustig als intelligent, mehr berüchtigt als beliebt, aber eigentlich ebenso bewundert und beneidet wie berüchtigt war.

Halb als Hofmeister, halb als Hofnarr lebte Daniel mit diesen Menschen. Er verkehrte nicht mit ihnen auf öffentlicher Straße oder in adeligen Häusern, aber auf dem Fechtboden, in Weinhäusern und in Herbergen war er ihnen ganz unentbehrlich. Keiner konnte so wissenschaftlich über Ballspiel und Hundedressur oder so salbungsvoll über Finten und Paraden reden. Keiner kannte den Wein wie er. Er hatte tiefsinnige Theorien über Würfelspiel und Liebeskunst und konnte lange und gelehrt über das Verwerfliche reden, die inländischen Stuten mit Salzburger Hengsten zu kreuzen. Er wußte endlich Anekdoten über alles, und was den andern jungen Leuten außerordentlich imponierte, er hatte seine bestimmten Ansichten über alles.

Dann war er in hohem Grade fügsam und dienstwillig, vergaß niemals den Unterschied zwischen sich und dem Adel und hatte ein so fabelhaft lächerliches Aussehen, wenn sie ihn aus Übermut und Trunkenheit auf irgendeine tolle Art ausstaffierten. Er ließ sich uzen und ausschelten, ohne böse zu werden, und war überhaupt so gutmütig, daß er sich manch liebes Mal selber preisgab, wenn er dadurch einem Gespräch Einhalt tun konnte, das für den Frieden in der Gesellschaft eine gefährliche Wendung zu nehmen begann.

Das war es auch, was es ihm möglich machte, mit diesen Leuten Umgang zu pflegen, und er mußte mit ihnen umgehen; für ihn, den bürgerlichen Krüppel, waren die Adeligen Halbgötter; nur sie lebten, nur ihre Freimaurersprache war menschliche Rede; über ihrem Dasein lag ein Tag von Licht und ein Meer von Luft, während die anderen Stände das Leben in farbenarmem Dunkel und qualmiger Luft verbrachten. Er verwünschte, daß er bürgerlich geboren war, als ein weit größeres Unglück denn seine Mißgestalt und grämte sich darüber, wenn er allein war, mit einer Bitterkeit und Heftigkeit, die dem Wahnwitz ziemlich nahe kam.

»Nun, Daniel,« sagte Ulrik Frederik, als der Kleine zu ihm heraufgekommen war, »es ist keineswegs ein geringer Nebel gewesen, so Er heute nacht vor den Augen gehabt hat, sintemal Er sich hier auf dem Westerwall festgesegelt hat; oder stieg der Kräuterwein gestern abend so hoch, sintemal ich Ihn hier sicher und trocken liegend antreffe, wie die Arche Noä auf dem Berge Ararat?«

»Prinz von Kanarien, Ihr redet irre, wenn Ihr meinet, ich sei heut nacht mit Euch beim Gelage gewesen!«

»Aber was zu allen Teufeln ist es denn mit Ihm?« rief Ulrik Frederik ungeduldig.

»Herr Gyldenleu,« antwortete Daniel ernsthaft und sah mit Tränen in den Augen zu ihm auf, »ich bin ein elendiger Mensch!«

»Er ist ein Krämerhund, das ist Er! Ist Ihm bange um eine Heringsschute, daß der Schwed Ihm die wegnimmt? Oder jammert Er darüber, daß ein Stillstand in Seinem Handel eintreten kann, und meint Er, daß Sein Safran die Kraft verliere und der Schimmel in Seinen Pfeffer und Sein Paradieskorn fallen könnt? Krämerseele, die Er ist! Als hätt ein guter Bürger sich nichts weiter zu Herzen zu nehmen, wie daß Sein schäbiger Kram zum Teufel geht, jetzt, wo es für König und Reich nach Untergang aussieht!«

»Herr Gyldenleu!«

»Ach, scher Er sich zum Teufel mit Seinem Geflenn!«

»Nein, Herr Gyldenleu,« sagte Daniel feierlich und trat einen Schritt zurück; »denn weder klage ich um Geschäftsabbruch noch über den Verlust von Geld oder Geldeswert; ich scher mich den Düwel und ein Deut um Heringe und Safran, aber weggeschickt werden wie ein Aussätziger oder Landes-Unehrlicher von Offizieren und Gemeinen, das ist ein Sündenunrecht wider mich, Herr Gyldenleu; – deswegen hab ich heut nacht im Gras gelegen und gewinselt wie ein räudiger Hund, der ausgeschlossen ist; deswegen hab ich mich gekrümmt und gewunden wie das elendigste kriechende Tier und zu dem Gott des Himmelreichs geschrien in meiner Kümmernis und Ohnmacht, und bin mit ihm ins Gericht gegangen, warum ich allein soll platterdings verworfen sein, warum mein Arm für verdorret und untauglich gelten soll, Waffen und Gewehr zu führen, alldieweil Diener und Handwerksburschen ausgerüstet werden ...«

»Aber wer, zum Teufel auch, hat Ihn denn abgewiesen?«

»Ja, Herr Gyldenleu, ich lief zu den Wällen so wie die anderen, die liefen; aber kam ich zu der einen Abteilung, so sagten sie, sie könnten mitnichten mehr sein, und kam ich zu der nächsten, so sagten sie spöttischerweis, sie seien nur geringe Bürgersleut, dies sei kein Platz für Adelspersonen und vornehmes Volk, und mehr dergleichen Gewäsch; aber es gab auch Abteilungen, wo sie sagten, sie wollten nichts mit Gebrechlichen zu schaffen haben, sintemal sie Unglück brächten und die Kugeln nach sich zögen, und sie wären mitnichten gewillt, ihr Leben und ihre Glieder zu hazardieren, indem sie solch einen Menschen unter sich hätten, den Gott der Herr gezeichnet hält. Da supplizierte ich an Generalmajor Ahlefeld, daß mir ein Platz möcht angewiesen werden, aber der schüttelt bloß den Kopf und lacht: so verzweifelt arg sei es denn doch auch noch nicht, daß sie die Reihen mit so verkrüppelten Stümpfen ausfüllen müßten, die ihnen mehr zu Ungelegenheit denn zu Hilfe sein würden.«

»Aber warum ging Er nicht zu einigen der Offiziere, mit denen Er bekannt ist?«

»Das tat ich auch, Herr Gyldenleu, ich dachte gleich an den Zirkel und kam denn auch mit zwei Mourants in Rede, mit des Königs Unterrock und dem Ritter Bergylt.«

»Nun, und die halfen Ihm?«

»Ja, Herr Gyldenleu, die halfen mir. – Herr Gyldenleu, die halfen mir, so daß Gott sie dafür heimsuchen mög! Daniel, sagten sie, Daniel, geh Er nach Haus und laus er seine Zwetschen! Sie hätten geglaubt, sagten sie, ich hätt so viel Konduite, daß ich nicht hierher kommen würd mit meinen Affenstreichen. Ein ander Ding sei es, daß ich ihnen gut genug wär als Komödiantenspieler und Possenreißer bei einer lustigen Pokulage, aber wenn sie in ihrem Amt wären, sollt ich ihnen aus den Augen bleiben. War das nun recht geredet, Herr Gyldenleu, nein, es war sündhaft, sündhaft war es! Daß sie sich mit mir in den Weinstuben gemein gemacht hätten, bedeute mitnichten, daß sie mich für ihresgleichen ansähen, so daß ich hierher kommen dürft und mir einbilden, ich könnt ihren Umgang und ihre Gesellschaft haben, jetzt, wo sie in ihrer Bestallung wären. Ich sei ihnen zu aufdringlich, Herr Gyldenleu! ich solle nicht glauben, daß ich mich könnt in ihre Kompagnie eindrängen hier an diesem Ort, hier brauchten sie keinen Lustmajor! Das sagten sie zu mir, Herr Gyldenleu! Und ich verlangte ja doch nur, mein Leben Seite an Seite mit den andern Bürgern der Stadt aufs Spiel zu setzen.«

»Na ja,« sagte Ulrik Frederik und gähnte, »ich begreife wohl, daß es Ihn kränkt, daß Er von dem Ganzen ausgeschlossen sein soll. Und es wird Ihm ja auch ziemlich schwer fallen, an Seinem Pult still zu sitzen und zu schwitzen, dieweil die Zukunft des Reiches hier auf den Wällen entschieden wird. Na, Er soll mit dabei sein. Denn...« er blickte mißtrauisch auf Daniel nieder, »es steckt doch wohl keine Heimtücke dahinter, Mosjö?«

Der Kleine stampfte vor Wut auf die Erde, er wurde bleich wie eine gekalkte Wand, und seine Zähne knirschten gegeneinander.

»Na, na,« fuhr Ulrik Frederik fort, »ich verlasse mich auf Ihn; aber Er kann doch auch nicht verlangen, daß man Ihm trauen soll, als hält Er ein adlig Wort zu vergeben; – und bedenke Er: seine eigenen Leute haben Ihn zuerst verworfen und ... pst!«

Es donnerte ein Schuß draußen von einer der Stationen am Ostertor, der erste, der in diesem Krieg gelöst wurde.

Ulrik Frederik richtete sich auf, das Blut schoß ihm in die Wangen, sein Auge starrte begehrlich und gefesselt nach dem weißen Rauch, und als er sprach, klang ein seltsames Beben in seiner Stimme.

»Daniel!« sagte er, »im Laufe des Vormittags kann Er sich bei mir melden, und scher Er sich nicht an das, was ich gesagt hab.« Dann schritt er hastig den Wall entlang.

Daniel sah ihm bewundernd nach, dann seufzte er tief, setzte sich ins Gras und weinte, wie ein unglückliches Kind weint.


Es war um die Nachmittagszeit. Ein starker, stoßweiser Wind wehte durch die Straßen der Stadt und wirbelte Wolken von Spänen, Strohhalmen und Staub von einer Stelle weg und nach der andern hin. Er riß Dachziegel los, drängte den Rauch in die Schornsteine hinab und verfuhr übel mit den Schildern.

Die langen, dunkelblauen Fahnen der Färber schleuderte er in dunklen Bogen in die Höhe, klatschte sie in schwarzen Windungen hinaus und wickelte sie rund um die schwankenden Stangen herum. Die Räder der Rockendreher schaukelten rastlos hin und her, die Kürschnerschilder schlugen mit den zottigen Schwänzen, und die prachtvollen Glassonnen der Glaser schwangen und blitzten in wirrer Unruhe um die Wette mit den blankgeputzten Becken der Bartscherer.

In den Hinterhöfen klappten Luken und Läden, die Hühner mußten sich hinter Tonnen und Schuppen verkriechen, und selbst die Schweine wurden unruhig in ihren Koben, wenn der Wind durch sonnenhelle Ritzen und Fugen zu ihnen hineinpfiff.

Trotz des Windes war es drückend heiß; es wehte Wärme herab.

Drinnen in den Häusern saßen die Leute und schnappten vor Hitze; nur die Fliegen summten lebhaft umher in der schwülen Luft.

Auf der Straße war es nicht zum Aushalten, und in den Beischlägen zog es; deswegen flüchteten auch alle, die Gärten hatten, da hinaus. In dem großen Garten, der hinter Christoffer Urnes Haus in der Vingaardsträde lag, saß ein junges Mädchen im Schatten einer der großen Ahornbäume.

Sie saß und nähte.

Es war eine große, schlanke Gestalt; fast schmächtig war sie, aber der Busen war breit und voll. Ihr Teint war bleich und ward noch bleicher durch das reiche, schwarze, gelockte Haar und die ängstlich großen, schwarzen Augen. Die Nase war scharf, aber fein, der Mund groß, aber nicht voll, und mit einer krankhaften Süße im Lächeln. Die Lippen waren sehr rot und das Kinn ein wenig spitz, dabei aber stark und kräftig geformt. Ihre Kleidung war nicht sehr ordentlich: eine alte schwarze Sammetrobe mit verblichener Goldstickerei, ein neuer, grüner Filzhut mit großen, schneeweißen Straußenfedern und Lederschuhe mit rotgeschliffenen Spitzen. Sie hatte Daunen im Haar, und weder ihr Halskragen noch ihre langen, weißen Hände waren ganz rein.

Es war Christoffer Urnes Brudertochter Sofie. Ihr Vater, der Reichsrat und Marschall Jürgen Urne zu Alslev, Ritter des Elefantenordens, war schon in ihrer Kindheit gestorben, die Mutter, Frau Margrete Marsvin, vor einigen Jahren. Sie hatte daher ihren Aufenthalt jetzt bei dem alten Oheim, und da er Witwer war, so war sie, jedenfalls dem Namen nach, die Lenkerin des Hauses.

Sie saß da und nähte und summte dazu, während sie im Takt den einen ihrer Schuhe auf der Spitze des Fußes schaukelte.

Über ihrem Kopf rauschten und schwankten die dichtbelaubten Kronen in dem starken Winde mit einem Geräusch wie von brausendem Wasser. Die hohen Stockrosen schwenkten ihre blütenknopsigen Spitzen hin und her in unbeständigen Bogen, wie von unruhigem Wahnsinn ergriffen; und das Himbeergestrüpp duckte sich verzagt und kehrte die helle Rückseite der Blätter nach außen, so daß es bei jedem Windhauch die Farbe wechselte. Dürre Blätter segelten durch die Luft, das Gras legte sich platt an die Erde, und auf den hellen Laubwellen der Spiräenstauden wiegte der weiße Blütenschaum auf und nieder in ewigem Wechsel.

Dann wurde eine Weile alles still, alles richtete sich auf, noch gleichsam zitternd vor Angst und in atemloser Erwartung, und im nächsten Augenblick kreischte der Wind wieder herab, und die Unruhwelle mit ihrem Brausen und ihrem Glitzern, ihrem wilden Wogen und rastlosen Wechseln breitete sich wieder über den Garten aus.

»Phyllis saß in ihrem Kahn,
Als sich Charidon tät nahn,
Laut er seine Flöte blies,
Sie die Ruder sinken ließ,
Und der Kahn trieb auf den Sand,
Und der Kahn trieb...«

Unten von der Pforte am andern Ende des Gartens her kam Ulrik Frederik gegangen. Sofie sah einen Augenblick verwundert da hinab, dann beugte sie sich wieder über ihr Nähzeug und summte weiter.

Ulrik Frederik schlenderte langsam den Steig hinauf, stand hin und wieder still und betrachtete die Blumen und tat überhaupt so, als habe er nicht gesehen, daß jemand im Garten war. Er bog dann in einen Seitenpfad ein, blieb hinter einem großen Jasminbusch stehen und richtete an seiner Uniform und seinem Gürtel, nahm den Hut ab und fuhr sich durchs Haar und ging dann weiter.

Der Steig beschrieb einen Bogen und mündete gerade vor Sofie.

»Ah, guten Tag, Jungfrau Sofie!« rief er ganz überrascht aus.

»Guten Tag«, sagte sie ruhig und freundlich, befestigte nachdenklich ihre Nadel im Nähzeug, glättete es mit der Hand, sah dann lächelnd auf und nickte. »Willkommen, Herr Gyldenlöve.«

»Das nenn ich blindes Glück,« sagte er und verneigte sich; »ich erwartete, nur den Herrn Cousin der Jungfrau hier draußen zu finden.«

Sofie sah ihn schnell an und lächelte. »Er ist nicht hier«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte Ulrik Frederik und sah vor sich nieder.

Nach einer kleinen Pause seufzte Sofie und sagte: »Was für eine schwüle Wärme es doch heut auch ist!«

»Ja, es zieht sich sicherlich zu einem Gewitter zusammen, wenn der Wind sich legt.«

»Ja–a«, sagte Sofie und starrte gedankenvoll zum Hause hinauf.

»Hörtet Ihr den Schuß heute morgen?« fragte Ulrik Frederik und richtete sich auf, wie um anzudeuten, daß er gehen wolle.

»Ja; es sind herzlich schwere Zeiten, denen wir diesen Sommer entgegengehen. Es könnt einem flugs schwach zumute werden, wenn man an die Fährlichkeiten für Menschen wie für Habseligkeiten denkt und wenn man so viele liebe Verwandte und gute Freunde hat wie ich, die allesamt in dieser unglücklichen Affäre mit dabei sind, und ausgesetzet, Leben oder Gesundheit, oder was sie sonst besitzen, zu verlieren, so ist da auch mehr als Ursach genug, auf allerhand trübe und wunderliche Gedanken zu verfallen.«

»Nein, Herzensjungfrau Sofie! Ihr dürfet um des lebendigen Gottes willen nicht in Tränen ausbrechen, Ihr malet Euch alles zu düster aus.

»Tousiours Mars ne met pas au jour
Des objects de sang et de larmes.
Mais«

– und er ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. –

»... tousiours l'Empire d'amour
Est plain de troubles et d'alarmes.«

Sofie sah naiv zu ihm auf.

Wie war sie nicht schön! Des Auges mächtige, saugende Nacht, wo der Tag in Schwärmen von wimmelnden Lichtfunken hervorquoll wie ein schwarzer Demantstein, der im Sonnenschein spielt; der Lippen schmerzlich schöner Bogen; der Wangen stolze Lilienblässe, die langsam in rosig glühender Röte entschwand, gleich einer Wolke, die die Morgensonne beleuchtet; und dunkelgeädert wie zarte Blumenblätter die seinen Schläfen, die sich geheimnisvoll in dem dunklen Haar verloren...

Ihre Hand zitterte in der seinen, kalt wie Marmor; sie zog sie sanft zurück und schlug die Augen nieder. Das Nähzeug glitt von ihrem Schoß, Ulrik Frederik beugte das eine Bein zur Erde, um es aufzuheben, und blieb in der knienden Stellung liegen.

»Jungfrau Sofie!« sagte er.

Sie legte ihre Hand auf seinen Mund und sah ihn milde ernst, fast schmerzlich an.

»Lieber Ulrik Frederik!« bat sie, »nehmet es mir nicht in bösem Sinne auf, daß ich Euch beschwöre, Euch nicht von einem augenblicklichen Sentiment verlocken zu lassen, eine Veränderung in dem angenehmen Verhältnis provozieren zu wollen, das bisher zwischen uns bestanden hat. Es frommet zu nichts, außer uns beide in Verdruß und Mißvergnügen zu bringen. Erhebet Euch aus dieser unvernünftigen Positur, und setzet Euch manierlich zu mir hier auf die Bank, daß wir in aller Ruhe miteinander reden können.«

»Nein, ich will mein Schicksalsbuch jetzt in dieser Stunde abgeschlossen haben«, sagte Ulrik Frederik und blieb liegen. »Ihr wisset nur wenig, wie groß und brennend die Amour ist, die ich für Euch hege, wenn Ihr habet denken können, ich sollt mich genügen lassen, schlecht und recht Euer guter Freund zu sein. Um Christi blutigen Schweißes willen, glaubet doch nicht an eine so platterdings unmögliche Sach! Meine Liebe zu Euch ist keine träge schwelende Glut oder Funke, so Ihr mehren oder schwächen könnet mit dem Odem Eures Mundes, ganz wie es Euch beliebet; par dieu! sie ist ein lodernd und verzehrend Feuer, aber es stehet bei Euch, ob es sich soll zerstreuen und auslöschen in tausend wirren Flackerflammen und irrendem Wetterleuchten oder ob es erwärmend und ruhig fortbrennen soll, hoch und zum Himmel aufleuchtend.«

»Aber lieber Ulrik Frederik, seid doch barmherzig und habet Mitleid mit mir und führet mich nicht in eine Versuchung, der ich vielleicht nicht widerstehen kann; denn Ihr möget glauben, Ihr seid mir von Herzen lieb und wert; allein just aus der Ursach will ich mich bis zum Äußersten dawider verwehren, Euch in eine falsche und unvernünftige Situation zu bringen, so Ihr keineswegs fideliter könnet maintenieren. Ihr seid wohl an die sechs Jahre zum mindesten jünger als ich, und das, so Euch an meiner Gestalt jetzo vielleicht zum Behagen ist, kann das Alter leichtiglich entstellen oder in Häßlichkeit verkehren. Ja! Ihr lächelt, aber supponieret einmal, daß Ihr, wenn Ihr die Dreißig hinter Euch habet, Euch mit einer runzeligen Hexe von Eheliebsten herumschleppet, die Euch nur eine geringe Mitgift zugebracht hat und Euch auch auf keine andere Weise zur Förderung gewesen ist; denket Ihr nicht, Ihr wollet Euch da wünschen, Ihr hättet, als Ihr in den Zwanzigern wart, Euch mit einer jungen, fürstlichen Person vermählet, was sowohl Eurem Alter als auch Eurer Geburt allermeist gemäß war und was Euch auch besser hätt vorwärtsbringen können, als das einfache Adelsmädel getan hätt? Herzens-Ulrik Frederik, sprächet Ihr mit Euren hohen Verwandten, sie würden Euch dasselbige sagen; aber sie würden Euch nicht sagen, daß, wenn Ihr das adelige Fräulein heimführtet, so da älter war als Ihr, sie Euch zu Tode quälen würde mit Ihrer Eifersucht; eifersüchtig würd sie sein auf jeden Eurer Blicke, ja auf Eure innersten Herzensgedanken; denn just weil sie wüßt, daß Ihr so viel habet fahren lassen, um sie zu fangen, würd sie sich anstrengen, daß ihre Liebe Euch die ganze Welt sein könnt. Glaubet mir, sie würd Euch mit ihrer abgöttischen Liebe umgeben wie mit einem Käfig aus Eisen, und spürte sie, Ihr sehntet Euch eine Minute da heraus, sie würd sich Tage und Nächte grämen und würd Euch jede Stunde verbittern in ihrem hoffnungslosen Schmerz.«

Sie erhob sich und reichte ihm die Hand. »Lebet wohl, Ulrik Frederik; es ist bitter wie der Tod, daß wir scheiden müssen, aber nach vielen Jahren, wenn ich ein altes, verblühtes Mädchen bin oder eines alten Mannes ältliche Eheliebste, da werdet Ihr finden, daß Sofie Urne recht hatte. Gott Vater halte seine Hand über Euch. – Erinnert Ihr Euch in dem spanischen Romanbuch an die Stelle von dem indianischen schlingenden Kraut, das in seiner Jugend seine Stütze an einem Baum hat, aber fortfährt, sich um ihn zu winden, lange nachdem der Baum morsch und eingegangen ist, und ist zuletzt dasjenige, das den Baum hält, der nichts mehr stützen kann. Glaubet mir, Ulrik Frederik, also wird auch mein Gemüt gestützet und getragen werden von Eurer Liebe, lange nachdem sie verwelket und hingeschwunden ist.«

Sie sah ihm gerade in die Augen hinein und wandte sich, um zu gehen, aber Ulrik Frederik hielt ihre Hand fest.

»Willst du mich denn ganz und gar rasend machen! Muß ich dir denn sagen, daß jetzo, da ich weiß, daß du mich lieb hast, keine Macht des Lebens Trennung zwischen uns bringen kann? Ahnest du denn nicht, daß es töricht ist, davon zu reden, was du willst oder was ich will? Ist nicht mein Blut wie trunken von dir, bin ich meiner selbst jetzt mächtig? Ich bin besessen von dir, so daß du, und wenn du auch in dieser Stunde dein Gemüt von mir abwenden tätest, dennoch mein werden solltest, dir zum Trotz, mir zum Trotz; ich liebe dich, als ob ich haßte – – ich denke nicht an dein Glück, was rührt es mich, ob du in Glück oder Unglück kommst, wenn bloß ich mit bin in deiner Freude, wenn bloß ich mit bin in deinem Leide, wenn bloß ich...!«

Er riß sie mit einem Ruck an sich und preßte sie an seine Brust.

Langsam erhob sie ihr Antlitz zu ihm empor und sah ihn lange mit tränengefüllten Augen an, lächelte dann: »Wie du also willst, Ulrik Frederik«; und sie küßte ihn leidenschaftlich mehrere Male hintereinander.

Drei Wochen darauf ward das Verlöbnis mit viel Pracht gefeiert. Der König hatte willig seine Zustimmung gegeben, um doch einmal dem gar lustigen Junggesellenleben Ulrik Frederiks ein Ende zu machen.


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