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Siebentes Kapitel

Marie Grubbe ist jetzt siebzehn Jahre alt.

An jenem Nachmittag, an dem sie voller Grauen von Ulrik Christian Gyldenlöves Sterbelager geflohen war, kam sie in ihre Kammer gestürzt und war dort händeringend auf und nieder gegangen, wehklagend wie in heftigen, körperlichen Schmerzen, so daß Lucie ganz atemlos zu Frau Rigitze hinunterlief und sie bat, doch um Gottes willen einmal heraufzusehen, sie glaube, es sei in Jungfer Marie irgend etwas inwendig gesprungen; und Frau Rigitze kam denn auch hinauf, aber sie konnte kein Wort aus dem Kinde herausbringen; sie hatte sich vor einem Stuhl niedergeworfen und ihr Antlitz in dem Polster vergraben, und auf alles, was Frau Rigitze fragte, antwortete sie nur, sie wolle nach Hause, sie wolle nach Hause, sie könne jetzt nimmermehr hier bleiben; und sie weinte und schluchzte und wiegte den Kopf von einer Seite auf die andere. Da gab Frau Rigitze ihr eine Tracht Prügel und schalt Lucie aus, weil sie sie nahezu ums Leben gebracht hätte mit ihrem albernen Gewäsch, und überließ sie sich dann selbst.

Es war Marie gleichgültig, daß man sie schlug. Wären ihr in ihrer Liebe glücklichen Tagen Schläge geboten, so würde sie das als das schwärzeste Unglück, als die tiefste Beschämung getroffen haben; aber jetzt war es ihr gleichgültig, jetzt, wo all ihr Sehnen, ihr Glaube und eine jede ihrer Hoffnungen in einer kurzen Stunde verwelkt, zusammengeschrumpft und zerstoben waren. Sie dachte daran, daß sie einmal in Tjele die Knechte einen Hund hatte zu Tode steinigen sehen, der in den hochumzäunten Entenpark hineingeraten war; das arme Tier schwamm stumm umher, hinauf konnte es nicht kommen, und das Blut rann aus ihm heraus, ein Stein verwundete es hier, ein anderer dort, und sie erinnerte sich, wie sie bei jedem Stein, der gefallen war, zu Gott gebetet hatte, daß er recht gut treffen möge, denn das Tier war so elend, daß Schonung die blutigste Sünde gewesen wäre. Jetzt fühlte sie sich selbst als die arme Diana, und sie hieß jeden Kummer, jede Bitterkeit willkommen, wenn sie nur recht treffen wollten; denn jetzt war sie so unglücklich, daß der Gnadenstoß ihre einzige Hoffnung und Sehnsucht war. O, wenn dies das Ende aller Größe war: ein sklavenhaft Gewinsel, ein lüsterner Wahnwitz und kniende Angst, o, da gab es keine Größe!

Der Held, von dem sie geträumt hatte, der ritt mit klirrenden Sporen und klingelndem Zaum zu den Toren des Todes hinaus, mit entblößtem Haupt und gesenktem Degen, aber nicht mit Angst in geistlosen Augen, nicht mit Gnadengebeten auf bebenden Lippen. Es gab also keine strahlenden Gestalten, denen man sich in anbetender Liebe entgegensehnen, keine Sonne, an der man sich lichtblind starren konnte, so daß alles zu Strahlen und Glanz und Farbe wurde; matt und grau – alles war matt und grau und öde, bodenloser Alltag, laues Werkeltagsleben samt und sonders.

So waren ihre Gedanken in der ersten Zeit; es war ihr, als sei sie ein armes Stündlein in eine wunderliche, farbenreiche Fabelwelt entrückt worden, in deren warmer, lebensschwangerer Luft ihr ganzes Wesen sich wie eine seltsame fremde Blume entfaltet und Sonne von allen Blättern gestrahlt und Duft aus allen Adern geatmet hätte, und selig in ihrem Licht und ihrem Duft war sie gewachsen und gewachsen, Blatt an Blatt in dichtem Gewimmel, Trieb auf Trieb in unhemmbarer Kraft und Fülle. Und nun war das alles vorbei; sie war wieder unfruchtbar und arm, leer und von Kälte durcheist; und so war die ganze Welt, alle Menschen, die es gab, so waren sie, so. Und doch lebten sie drauflos in törichter Geschäftigkeit; o, ihr Herz wurde krank in ihr vor Ekel, wenn sie sie ihre klägliche Armut ausbreiten und ausstrecken und stolz dem vollen Klang in dem Getöse ihrer Leere lauschen sah.

Jetzt griff sie begierig nach dem Schatz alter Postillen, der ihr so oft angeboten und ebensooft verschmäht war, und sie fand einen trübseligen Trost in ihren strengen Worten von dem Elend der Welt und der Eitelkeit aller irdischen Dinge; aber ein Buch war da, über dem sie vor allen anderen saß und zu dem sie beständig zurückkehrte, und das war die Offenbarung Johannis. Sie konnte nicht müde werden, die Pracht des himmlischen Jerusalems zu beschauen, sie malte es sich in allen Einzelheiten aus, wandelte durch seine kleinsten Gassen und sah in alle Türen hinein; sie ließ sich blenden von dem Strahlenglanz von Sardis und Beryll, Chrysopras und Hyazinth; sie ruhte im Schatten der Perlentore und spiegelte sich in dem durchsichtigen Gold der Straßen. Oftmals dachte sie sich auch, wie sie und Lucie und Muhme Rigitze und alle die anderen in Kopenhagen sich gebaren würden, wenn der erste Engel die Schale des Zornes Gottes auf die Erde ausgösse, und wenn der zweite die seine und der dritte die seine ausgösse; weiter kam sie niemals, denn sie fing immer wieder von vorne an.

Sie war unermüdlich darin, wenn sie bei ihrer Arbeit saß, lange Passionslieder mit lauter und klagender Stimme zu singen; und war sie müßig, so betete sie lange Gebete aus der »Betenden Kette« oder »Der zwölf göttlichen Monate Stimmen«; denn die beiden wußte sie fast auswendig.

Es war in all dieser Frömmigkeit ein Teil verkümmerten Ehrgeizes; denn wohl fühlte sie wirklich die Schwere von den Fesseln der Sünde und die Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit Gott; aber es lag doch all diesen göttlichen Übungen ein halbklares Gelüste nach Macht zugrunde, eine halbbewußte Hoffnung, eine der auserwählten Frommen, eine der Ersten im Reiche des Himmels zu werden. Ihr Wesen hatte sich durch alles das ganz verändert; sie war verschlossen und menschenscheu geworden, und auch ihr Aussehen hatte sich verändert: sie wurde mager und bleich, und ihre Augen bekamen einen harten, brennenden Glanz, und das war kein Wunder; denn die furchtbaren Gesichte der Apokalypse ritten leibhaftig durch ihre Nachtträume, und den ganzen Tag brüteten ihre Gedanken über allem, was das Leben an Finsterem und Schwerem hatte; und des Abends, wenn Lucie in Schlaf gefallen war, stand sie aus ihrem Bette auf und empfand ein mystisch-asketisches Wohlbehagen darin, sich auf den bloßen Knien auf die Dielen zu legen und zu beten, bis die Beine sie schmerzten oder sie ihre Füße vor Kälte nicht mehr fühlen konnte.

Da war es, daß die Zeit kam, wo sich der Schwede zurückzog und ganz Kopenhagen seine Zeit darin teilte, als Wirt einzuschenken und als Gast auszutrinken; und an einem dieser Tage geschah ein Umschlag bei Marie, denn an diesem Tage kam Frau Rigitze in Begleitung einer Schneiderin in ihre Kammer und füllte Tisch und Stühle mit dem Reichtum an Jacken, Kleidern und perlenbestickten Schauben, die Marie als Erbe von ihrer seligen Mutter bekommen hatte; jetzt war es nämlich an der Zeit befunden worden, daß Marie als Erwachsene gekleidet gehen sollte.

Es war so entzückend, zum Gegenstand all dieser Geschäftigkeit gemacht zu werden, die jetzt über die kleine Kammer hereinbrach, all dieses Auftrennens und Maßnehmens und Zuschneidens und Zusammenheftens; und wie lieb war nicht dieser ponceaurote Atlas, wenn er schwer in langen reichen Falten glühte oder blank strahlte, wo er eng und stramm saß; und wie fesselnd, wie wunderbar fesselnd war es nicht, den eifrigen Erörterungen zu lauschen, inwiefern jener Seidenkamelott nicht zu dick sei, um einem so recht die Figur hervorzuheben, oder ob dies türkische Grellgrün einem wohl zum Teint passen würde! Keine Skrupel, keine schwermütigen Träumereien konnten vor dieser frohen, strahlenden Wirklichkeit Stich halten. Und nun erst einmal an einer Festtafel zu sitzen – und sie kam jetzt zu Festmählern – mit diesem schneeweißen, gekräuselten Halskragen unter andern Jungfrauen mit ebenso gekräuselten Kragen, da würde ihr jene ganze Zeit fremd werden wie ein tagalter Traum; und nur einmal die Sarabande und Pavane getreten zu haben in langem Goldbrokatkleid, mit Spitzenhandschuhen und Linnen, da würden jene seelischen Exzesse ihre Wangen dazu bringen, vor Schamröte zu erglühen.

Und sie schämte sich wirklich; sie trat wirklich die Sarabande und die Pavane, denn zweimal wöchentlich mußte sie nun mit andern jungen Adelspersonen in Christen Skeels Saalstube zu Tanzübungen gehen, allwo ein alter Mecklenburger sie in Haltung, Gruß und Reverenzen nach den neuesten spanischen Fassons informierte. Außerdem wurde sie im Lautenspiel unterrichtet und noch ferner im Französischen perfektioniert, denn Frau Rigitze hatte nun so ihre eigenen Pläne.

Marie war glücklich.

Wie ein junges Fürstenkind, das gefangen gehalten worden ist und nun unmittelbar aus der Finsternis des Gefängnisses und dem barschen Umgang des Gefangenwärters von einem jubelnden Volk auf den Thron gehoben wird; dem der Goldreif der Macht und der Ehre fest auf die Locken gedrückt wird; das alles ehrerbietig sich entgegenlächeln, alles sich vor ihm beugen und sein Herrscherrecht anerkennen sieht, – so war auch sie aus ihrer stillen Kammer in die Welt hinausgetreten, und alle hatten ihr gehuldigt und geschmeichelt, als wäre sie eine Königin gewesen; alle hatten sich lächelnd vor der Macht ihrer Schönheit gebeugt.

Es gibt eine Blume, die Perlhyazinthe genannt wird; so wie das Blau dieser Blume war die Farbe ihrer Augen; und sie waren wie der rollende Tautropfen an Glanz und tief wie ein Saphirstein, der im Schatten ruht. Sie konnten sich so schämig senken wie ein süßer Ton, der erstirbt, und sich so keck heben wie eine Fanfare. Wehmütig – ja, wenn der Tag sich naht, dann rüsten sich die Sterne mit einem verschleiert lebenden Schimmer, so war ihr Blick, wenn er wehmütig war.

Er konnte so lächelnd vertraulich auf einem ruhen, und da ward es manch einem, wie wenn im Traum fern, doch eindringlich sein Name gerufen würde; aber wenn er sich in Trauer verfinsterte, hoffnungslos und voll Schmerz, da war es, als höre man Blutstropfen fallen.

Das war der Eindruck, den sie machte, und sie wußte es, aber nur halbwegs; hätte sie es ganz gewußt und wäre sie älter gewesen, als sie war, vielleicht wäre sie dann wie zu Stein geworden durch ihre eigene Schönheit und hätte sich selbst wie ein seltenes, köstliches Kleinod betrachtet, das nur blank und reich eingefaßt gehalten werden müsse, damit es aller Begehr werden könne, und sich dann kalt und ruhig hätte bewundern lassen. Allein dem war nun nicht so. Ihre Schönheit war so viel älter, als sie selbst, und sie hatte so plötzlich ihre Macht kennen gelernt, daß es lange währte, bis ihr Wesen sich mit Ruhe und Sicherheit darauf stützen und sich von ihr tragen lassen konnte; im Gegenteil, sie gab sich viel Mühe zu gefallen, wurde nicht wenig kokett und sehr putzsüchtig, und ihr Ohr trank begehrlich jedes schmeichelnde Wort, wie ihr Auge die bewundernden Blicke, und sie bewahrte das alles getreulich in ihrem Herzen.

Sie war jetzt siebzehn Jahre alt, und heute war Sonntag, der erste Sonntag nach dem Friedensschluß. Am Vormittag war sie zum Dankgottesdienst gewesen, und nun stand sie und putzte sich, um mit Frau Rigitze einen Nachmittagspaziergang zu machen.

Die ganze Stadt war an jenem Tage halb wie in Aufruhr, denn die Tore waren ja erst beim Friedensschluß wieder geöffnet worden, nachdem sie volle zweiundzwanzig Monate gesperrt gewesen waren. Alle mußten daher jetzt hinaus und sehen, wo die Vorstadt gestanden, wo der Feind gelegen und wo die Unsrigen gekämpft hatten; man mußte in die Laufgräben hinunter und auf die Brustwehren hinauf; es mußte in die Minenhälse geguckt und an den Schanzkörben gezupft werden; da hatte der gestanden, und da war der gefallen, jener war dort ausgerückt und hier umzingelt worden, und alles da draußen war merkwürdig, von den Radspuren der Kanonenlafetten und den Kohlen der Wachtfeuer bis zu dem durchschossenen alten Plankenwerk und den sonnengebleichten Pferdeschädeln, und das war ein Erzählen und Erklären, ein Vermuten und Debattieren, die Wälle hinauf und die Schanzen hinab, Mauern hinan und Palisaden hinunter.

Gert Pyper und seine ganze Familie stolzierten dort umher, und er stampfte wohl hundertmal auf die Erde und fand meistens, es klinge so sonderbar hohl, und seine rundliche Ehehälfte zupfte ihn ängstlich am Ärmel und bat ihn, nicht allzu verwegen zu sein, aber Meister Gert trampelte dessenungeachtet gleich hart. Der erwachsene Sohn zeigte seiner kleinen Braut, wo er in der Nacht postiert gewesen war, als sie ihm ein Loch in seinen Düffelmantel geschossen hatten, und wo dem Sohn des Rockendrechslers der Kopf abgeschossen worden war; indessen weinten die kleinen Kinder darüber, daß sie nicht die Büchsenkugel behalten sollten, die sie gefunden hatten, weil Gift daran sein könne, wie Erik Lauritzen sagte; denn der war auch dadraußen und stocherte in dem halbverfaulten Stroh herum, wo die Baracken gestanden hatten, sintemal er sich an die Geschichte von einem Soldaten erinnerte, der vor Magdeburg gehängt wurde und unter dessen Kopfkissen sieben seiner Kameraden so viel Geld fanden, daß sie desertierten, als die Plünderung der Stadt vor sich gehen sollte.

Ja, das war ein ewiges Gehen und Kommen, die grünen Felder und die weißgrauen Wege waren schwarz getüpfelt von Leuten, die umhergingen und die ihnen wohlbekannten Stätten so genau und aufmerksam betrachteten, als ob es eine neuentdeckte Welt sei oder ein nie zuvor gekanntes Eiland, das eben aus dem Meeresgrunde emporgetaucht war; und es waren viele, die, als sie die Gegend so frei und offen daliegen sahen, Feld hinter Feld und Wiese hinter Wiese, von einer plötzlichen Wanderlust ergriffen wurden und immerfort gingen und gingen, gleichsam berauscht von der Weite des Raumes, der schrankenlosen Weite des Raumes. Doch späterhin am Nachmittag, um die Vesperzeit, lenkten freilich die meisten ihre Schritte wieder der Stadt zu und suchten das Nordviertel auf, den Petri-Kirchhof und die umliegenden großen Gärten; denn das war so Brauch seit alten Zeiten, daß man an den Sommersonntagen nach dem Abendgottesdienst dort lustwandelte und im Schatten der grünen Bäume frische Luft schöpfte. Zu der Zeit, wo sich der Feind vor die Wälle lagerte, war dieser Brauch von selbst weggefallen, und der Kirchhof war an den Festtagen wie an den Wochentagen leer gewesen; aber heute war die Sitte wieder aufgenommen worden, und durch beide Eingänge auf der Norderstraßenseite strömten Leute herein: Adel und Bürger, Geringe und Hohe, alle hatten sich der breitkronigen Linde auf dem Petri-Kirchhof erinnert.

Zwischen grünen Hügeln und auf breiten Leichensteinen lagen Bürgersleute in munteren Gruppen, Mann und Frau, Kinder und Bekannte, und verzehrten ihr Abendbrot; der Lehrjunge stand dahinter und kaute vergnügt an dem leckeren Sonntagsbrot, während er auf den Korb achtgab. Kleine Kinder trippelten, die Hände voller Überreste, zu den ausgehungerten Betteljungen, oben auf der Mauer, hin; wißbegierige Knaben buchstabierten sich durch die langen Grabschriften, und Vater hörte bewundernd zu, während Mutter und die kleinen Mädchen die Anzüge der Spaziergänger musterten; denn auf den breiten Wegen gingen die vornehmen Leute auf und nieder, sie kamen ein wenig später als die anderen und speisten entweder zu Hause oder in den Garküchen, die in den Gärten hinter dem Kirchhof lagen.

Da waren steife Frauen und feine Jungfrauen, alte Ratsherren und junge Offiziere, breite Gutsherren und fremde Residenten. Hier ging der rührige, grauköpfige Hans Nansen, Bürgermeister von Kopenhagen. nach allen Seiten lächelnd, während er seine Schritte denen des alten, steinreichen Villem Fiuren anpaßte und seiner pfeifenden Stimme lauschte; da kamen Corfitz Trolle und der steife Otto Krag; da stand Frau Ide Daa mit den schönen Augen und sprach mit dem alten Axel Urup mit dem ewigen Lächeln und den großen Zähnen, während seine zusammengeschrumpfte Gattin, Frau Sidsel Grubbe, mit Schwester Rigitze und der ungeduldigen Marie langsam von dannen trippelte; und da war Gersdorf, und da war Schack, und da war Thuresen mit seiner flachsgelben Mähne, und Peter Retz mit seinen spanischen Manieren und seiner spanischen Tracht.

Ulrik Frederik war auch da, in Gesellschaft von Niels Rosenkrands, dem kühnen Obristleutnant mit dem französischen Wesen und den lebhaften Gebärden.

Sie begegneten Frau Rigitze und den anderen. Ulrik Frederik grüßt kühl und gemessen und will vorübergehen, denn seit der Scheidung von Sofie Urne hegt er einen Groll wider Frau Rigitze, die er, als eine der wärmsten Anhängerinnen der Königin, im Verdacht hat, einen Finger mit im Spiel gehabt zu haben; aber Rosenkrands bleibt stehen, und Axel Urup fordert sie nun so freundlich auf, in Johann Adolfs Garten mit zu Abend zu speisen, daß es schwer war abzulehnen, und sie gehen beide mit.

Bald darauf sitzt denn die ganze Gesellschaft in dem gemauerten Lusthause und spricht den ländlichen Gerichten zu, mit denen der Gemüsegärtner aufzuwarten vermag.

»Ist es wahr, kann man es wirklich glauben,« fragte Frau Ide Daa, »daß die schwedischen Offiziere so überaus angenehme Manieren den seeländischen Jungfrauen gegenüber gehabt haben sollen, daß sie scharenweise mit ihnen aus Land und Reich gereist sind?«

»Ja; allenfalls«, antwortete Frau Sidsel Grubbe, »ist es ganz zuverlässig der Fall mit der nichtsnutzigen Person, der Jungfer Dyre.«

»Von welchen Dyres ist sie?« fragte Frau Rigitze.

»Von den Schonenschen Dyres, du weißt ja, herzliebe Schwester, von denen, die eine so lichte Haarfarbe haben; sie sind allesamt mit den Povitzens verschwägert. Sie, die aus dem Lande lief, war eine Tochter von Henning Dyre auf Wester-Neergaard, der Sidonie freite, die älteste von Ove Povitzens, und sie soll Sack und Pack von ihrem Vater mitgenommen haben, Laken und Betten und Silberzeug und bares Geld.«

»Ja,« lächelte Axel Urup, »große Lieb trägt große Last.«

»Ja – nämlich –« bekräftigte Olaf Daa, – er schlug immer mit der linken Hand aus, wenn er sprach – »Liebe – nämlich – die ist – die ist stark.«

»Lie–be«, sagte Rosenkrands und strich zierlich seinen Schnurrbart mit dem Rücken seines kleinen Fingers, »ist wie Her–kules im Weibergewand, von Ge–bärden ist sie mild und scharmant und sieht aus wie eitel Weich–heit und Zahm–heit, aber dennoch hat sie in sich Kra–ft und Schlau–heit genug, um die zwölf herku–lischen Taten allesamt durchzuführen.«

»Ja,« unterbrach Frau Ide Daa ihn, »Jungfer Dyres Liebe allein beweist, daß sie zu der einen der Herkules-Taten sehr wohl imstande war, denn sie reinigte Kisten und Kasten von allem, was darinnen war, gleichwie er dem Urias, oder wie er nun hieß, den Stall gereinigt hat, wie Ihr wisset.«

»Ich meine vielmehr,« sagte Ulrik Frederik, zu Marie Grubbe gewandt, »daß Liebe ist, wie wenn man in einer Wüstenei eingeschlafen ist und in einem schönen und angenehmen Lustpark erwachet; denn solche Tugend hat Liebe, daß sie den Sinn des Menschen gänzlich verwandelt, so daß, was einem früher unfruchtbar und öde erschien, einem jetzt wie eitel Lustigkeit und Pracht in die Augen scheinet; aber was für Gedanken habt Ihr wohl von der Liebe, Jungfrau Marie?«

»Ich?« fragte sie, »ich meine, die Liebe sei gleich wie ein Demant; denn wie der Demant schön und prächtig anzuschauen ist, so ist auch die Liebe schön und lieblich; und wie der Demant giftig für den ist, der ihn verschlucket, so ist auch die Liebe eine Art Gift oder schädliche Tobsucht für den, der damit belastet wird, insofern man sein Jugement nach dem wunderlichen Gebaren abmessen darf, so man bei amoureusen Personen antrifft, und nach dem remarkablen Diskurs, so sie führen.«

»Ja,« flüsterte Ulrik Frederik galant, »die Kerze hat der armen Fliege gut Räson predigen, so von ihrem Glanz verwirret wird!«

»Ja, wahrhaftig kannst du recht haben, Marie,« begann Axel Urup und hielt wieder inne, um zu lächeln und ihr zuzunicken; »ja, ja, es ist wohl zu glauben, daß Liebe nur Gift ist, so ins Blut kommt; denn wie sollten sonst kluge Leute mit Mirakel-Absud und Wunder-Dekokt kaltsinnigen Personen die brennendste Passion eingeben können?«

»Ach nein, pfui doch!« unterbrach ihn Frau Sidsel, »rede doch nicht von solch greulichen Werken der Gottlosigkeit – und gar an einem Sonntag!«

»Herzens-Sidsel,« entgegnete er, »darin ist meines Glaubens nach keine Sünde, im Gegenteil ... nein ... nein ... Haltet Ihr es wohl für eine Sünde, mein Herr Obrist Gyldenleu? – Nein? – nein, gewißlich nicht; redet nicht auch die Heilige Schrift von Zauberinnen und argen Beschwörungen? Ja, das tut sie, das tut sie. Nein, was ich sagen wollt, alle unsre Affekte, meine ich, die haben Wohnort und Sitz im Blute; denn so man hitzig wird, kann man da nicht fühlen, wie das Blut in einem hinaufbraust und einem vor Augen und Ohren schwimmet? Und wird man jählings erschrecket, ists einem da nicht, als sänk einem das Blut in die Beine hinein und würde sogleich ganz abgekühlet? Sollt es, meinet Ihr, um nichts und wieder nichts sein, daß der Kummer bleich und blutlos, aber die Freude rot ist wie eine Rose? Keineswegs, sag ich; keines – keineswegs! Alle Affekte des Menschen werden von einem gewissen Zustand und einer gewissen Beschaffenheit des Blutes verursacht; und nun gar die Liebe! die kommt erst, wenn das Blut durch einen siebzehn-, achtzehnjährigen Wechsel von Wärme und Kälte reif in den Adern geworden ist; da fängt es an zu gären, just wie ein guter Traubenwein; denn Liebe ist eine Gärung im Blute; es dränget und blähet sich auf, es erzeuget Wärme und gebärdet sich so, daß kein Mensch recht er selber ist, solange es anhält; aber nachher da kläret es sich ab, so wie anderer gärender Stoff, und wird mehr sachte und sanft, minder heiß und gespannt. Ja, da ist noch eine Ähnlichkeit mit dem Wein, die es hat; denn just wie der edele Wein jedes Jahr zu brausen und zu schäumen beginnt und sich gebärdet, als wolle er gären, wenn die Frühlingszeit kommt, wo die Rebe in Blüte stehet, also wird auch aller Menschen Sinn, selbst der Alten, eine kurze Zeit im Frühling mehr denn sonst zur Liebe geneiget; und das hat darin seinen rechten Grund, daß das Blut nimmer so ganz seine Gärungszeit im Lenz des Lebens vergessen kann, und nun erinnert es sich ihrer, sooft der Frühling des Jahres zurückkehrt, und versucht aufs neue zu gären.«

»Ja, das Blut,« räumte Olaf Daa ein, »nämlich – das Blut, das ist das – nämlich – das ist schon eine subtilige Materie – nämlich.«

»Ja, das ist es,« nickte Frau Rigitze; »ja, alles wirket auf das Blut ein, sowohl Sonne wie Mond und unterweilen schlecht Wetter; das ist so sicher, als wär es gedruckt.«

»Gleicherweise andrer Menschen Gedanken,« fügte Frau Ide hinzu; »ich weiß das von meiner ältesten Schwester, wir lagen zusammen im Bett, und jede Nacht, just wenn ihre Augen zugefallen waren, fing sie an zu seufzen und mit Armen und Beinen zu fechten, gleichsam als wolle sie aufstehn und irgendwo hingehn, wo man sie riefe, und das kam daher, daß ihr Bräutigam, der in Holland war, sich so gewaltig nach ihr sehnte und bei Nacht und Tag an sie dachte, so daß sie niemalen eine ruhige Stunde hatte, noch so recht bei Gesundheit war in all der Zeit; erinnert Ihr Euch nicht auch, herzliebe Frau Sidsel, wie krank und elendig ihr Aussehen war, bis Jörgen Bilde wieder heimkehrte?«

»Ob ich das tue! gar nicht davon zu reden! – Die liebe Seele! aber dann blühte sie auch auf, wie eine Rosenknospe anzusehen. – Herrgott, ihr erstes Wochenbett ...« und dann flüsterte sie weiter darüber.

Rosenkrands wandte sich nun an Axel Urup: »Vermeinet Ihr also,« sagte er, »daß ein elixire d'am-our sei wie eine gä–rende Materie, die dem Blute eingespritzet wird, und dadurch beginnet es zu ra–sen, so stimmt das sehr gut zu einer Aventüre, so der selige Herr Ulrik Christian mir erzählte, da wir einmal miteinander den Wall hinangingen. Es war in Ant–werpen in der Hôtellerie des trois bro-chets«, wo er sein Logement hatte, daß es passierte. Am Mor–gen hatte er in der Messe eine schö–ne, Schönjungfrau erblicket – und sie hat–te ihn ganz mild angesehn, aber den ganzen Tag hatte er sie gar–nicht in Gedan–ken gehabt. Da kommt er am A–bend in seine Kam–mer hinein, und da liegt eine Ro–se an dem Kopfende seines Bet–tes, und er nimmt die Ro–se und riecht dar–an, und in derselben Minute steht das Ab–bild der Schönjungfrau leib–haftiglich vor seinen Au–gen, als wär es auf die Wand gerade vor ihm kontra–feiet, und die hef–tigste Sehn–sucht nach selbiger Jung–frau entstand in ihm so plötz–lich und stark, daß er sagte, er hätt laut schrei–en können vor Schmerz, ja er wur–de wie ganz wild und furios, so daß er aus dem Hau–se stürzte und jammernd eine Stra–ße hinab und eine andere hin–auf lief, just als wär er be–hexet, und er wußte nichts von sich selbst; es war, als wenn ihn was zö–g, und zö–g, und es brannte wie Feu–er in ihm, und so rannte er her–um bis an den lichten Mor–gen.«

So redeten sie noch lange, und die Sonne ging unter, ehe sie sich trennten und durch die dämmernden Gassen nach Hause gingen.

Ulrik Frederik war die ganze Zeit sehr schweigsam gewesen und hatte sich der allgemeinen Unterhaltung fast ganz fern gehalten, da er fürchtete, daß man, falls er weiteres über die Liebe sagte, es als persönliche Erinnerungen und Eindrücke von seinem Verhältnis zu Sofie Urne auffassen möchte; aber er war im übrigen auch nicht aufgelegt zu reden, und als er mit Rosenkrands allein blieb, antwortete er so kurz und zerstreut auf alles, daß dieser seiner bald überdrüssig ward und seiner Wege ging.

Ulrik Frederik begab sich nun heim; ihm waren damals Gemächer in Schloß Rosenborg angewiesen, und da sein Diener ausgegangen war, wurde kein Licht angezündet, und er saß allein und im Dunkeln in der großen Stube bis gegen Mitternacht.

Er war in einer so wunderlichen, halb betrübten, halb ahnungsvollen Stimmung, in einer so halb schlummernden Stimmung, in der es ist, als treibe die Seele willenlos einen langsam gleitenden Strom hinab, während nebelflüchtige Bilder über den dunklen Bäumen des Ufers hinziehen und halbe Gedanken gleich großen, schwachschimmernden Blasen sich aus der dunklen Flut heben, mitgleiten – mitgleiten und zerplatzen. Nachklänge aus dem Gespräch waren da, das bunte Gewimmel auf dem Kirchhof, Marie Grubbes Lächeln, Frau Rigitze, die Königin, die Gnade des Königs, der Zorn des Königs damals – – Maries Handbewegungen, Sofie Urne, bleich und fern – noch bleicher, noch ferner, – Rosen auf dem Kopfkissen und Marie Grubbes Stimme, der Klang eines einzelnen Wortes, die Betonung – er saß und lauschte dem nach und hörte es wieder und wieder durch die Stille der Nacht schwingen.

Er stand auf und trat an das Fenster, öffnete es, lehnte sich auf den Ellenbogen über den breiten Rahmen hinaus: so frisch wie es war – so kühl und still.

Der säuerlich süße Duft taukalter Rosen, die frische Bitterkeit jung entfalteten Laubes und würziger Weinduft von blühenden Ahornbäumen schlug ihm von draußen her entgegen. Ein feiner, feiner Staubregen taute vom Himmel herab und breitete ein blauendes, zitterndes Dunkel über den Garten aus. Die schwarzen Zweige der Lärche, das schleierhafte Laubgehänge der Birke und die kuppelförmige Krone der Buche standen wie Schatten auf einem Hintergrund aus wallendem Nebel hingehaucht, während die verschnittenen Wipfel des Taxus emporragten gleich den schwarzen Säulen eines Tempels, dessen Dach eingefallen war.

Still war es dort wie tief in einem Grab, nur der einförmige Laut der federleicht herabfallenden Regentropfen war zu hören wie ein fast unmerkliches, stets ersterbendes, stets wieder anhebendes Flüstern hinter den feucht glänzenden Stämmen.

Welch ein wunderlich Flüstern das anzuhören war, wie wehmütig es klang! War es wie die leichten Flügelschläge alter Erinnerungen, die scharenweise in der Ferne vorüberzogen? War es wie das leise Rascheln in dem welken Laube verlorener Illusionen? – Ach, so allein, so traurig allein und verlassen! Nicht unter allen den Tausenden von Herzen, die ringsumher in der Stille der Nacht pochten, ein einziges Herz, das sich nach ihm sehnte ... Weit über die Erde hin war ein Netz von unsichtbaren Fäden gespannt, das Seele an Seele band, Fäden, stärker als die des Lebens, stärker als der Tod; allein kein Faden in dem ganzen Netz reichte bis zu ihm. Heimatlos, verlassen! – Verlassen? – Klang es da draußen wie Bechergeklirr und Küsse? blinkte es da draußen wie weiße Schultern und dunkle Blicke? Lachte es nicht hell durch die Nacht? – Pah! – lieber die langsam tropfende Bitternis der Einsamkeit als eine giftig schale Süße. O, verflucht! ich schüttle deinen Staub von meinen Gedanken, erlogenes Leben, Leben für Hunde ... für Blinde, für – arme Wichte ... – Wie eine Rose ... o Gott, schirme und behüte sie wohl in der dunklen Nacht ... o, ihr Schutz und Schirm zu sein, ihr jeden Pfad zu ebnen und sie vor jedem Windhauch zu decken ... so schön ... lauschend wie ein Kind ... – wie eine Rose! ...


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