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Neunzehntes Kapitel

Hannes Stark war schon früh nach Hamburg gefahren. Er wollte Doktor von Bernewitz aufsuchen in der Angelegenheit, die ihm jetzt die wichtigste dünkte: die Rückerstattung der dreitausend Mark, die sein Eigentum waren und die das Gericht trotz mehrfacher Anmahnung noch immer einbehielt. Mit welchem Recht? Die blaue Ader auf Starks Stirn schwoll bedrohlich! Aber sogleich nahm er sich selbst in Zucht; er wollte seinen Gleichmut und die Geduld nicht verlieren! Wer einmal durch Maßlosigkeit und Jähzorn solch Unglück über sich und die Seinen heraufbeschworen hat, der muß seine Leidenschaft für immer fesseln!

Stark, der früher gern ein Glas Wein oder Bier getrunken hatte, mied jetzt den Alkohol in jeder Form. Hätte er an jenem Unglückstag nicht getrunken, so wäre er nicht zurückgeblieben, als Bruno Berwin in der Nebelnacht in den Wald ging und erschossen wurde. Aber das war es nicht allein, was den Maler so enthaltsam leben ließ: er, der früher so oft den Groschen mit dem Taler verwechselte, er war jetzt sparsam bis zum Geiz.

Er verdiente ja nichts! In der Gratulationskartenfabrik, für die er vor dem arbeitete, war jetzt nichts zu tun. Wenigstens gab man das als Grund an für seine Abweisung. Natürlich hatte er sich weiter bemüht, in lithographischen Anstalten, bei Bilderfabriken, Buchverlegern, überall, wo man Figurenzeichner oder Maler brauchte.

In den meisten Fällen hörte man ihn gar nicht an oder empfing ihn überhaupt nicht. Einige Geschäfte, die früher seine Arbeit geschätzt hatten, ließen ihn jetzt mit Verlegenheitsausreden fortgehen. Zuletzt traf er auf einen groben, aber ehrlichen Menschen, der sagte gerade heraus:

»Ich kann Ihnen keine Arbeit geben, Stark, ich kann nicht.«

»Und warum, Herr Schulz?«

»Warum? Muß ich Ihnen das wirklich erst sagen? Weil der Mordverdacht noch immer auf Ihnen ruht.«

»Aber ich bin freigelassen. Das Gericht hat meine Unschuld ausdrücklich anerkannt! Und in der hohen Heide haben sie einen Wilddieb erschossen, der wahrscheinlich der Mörder ist!«

Der Drucker zuckte die Achseln.

»Vielleicht – – –« Er stockte.

Und Hannes voller Wut:

»Sagen Sie es ruhig, Herr Schulz! Erfahren muß ich es ja doch!« Der Maler atmete schwer.

Der andere gab ihm die Hand.

»Sie tun mir leid, Stark! Und ich, das brauch' ich Ihnen wohl nicht erst zu versichern, ich glaube auch nicht an den Unsinn. Als Sie mir neulich schrieben, da wollt' ich Ihnen schon einen Auftrag geben. Und da – wissen Sie, wer mir da abgeredet und sich mit Hand und Fuß dagegen gesträubt hat – wissen Sie wer? – Meine Frau! Die Sie doch sonst immer so gern gehabt hat! Ja, ja!«

Der Drucker nickte mit seinem borstigen Schädel.

»Meine Frau sagt: Gegen die Volksmeinung kann man nicht ankämpfen! Und wenn ich Sie beschäftige und Sie zeichnen für mich, da kann es mir passieren, daß ich die ganze Auflage liegen behalte. Die Leute wissen, daß Sie gesessen haben und weshalb! Und besonders meine Arbeiter wissen es! Und die reden, reden überall! Der Klatsch, der hört nie auf! Ja, und das kann ich nicht riskieren. Es kommt in der Kundschaft 'rum. Und ich stehe selber nicht so fest. Seien Sie nicht böse, aber – ehe Sie nicht vollständig rehabilitiert sind, ich meine, ehe man den wirklichen Mörder gefaßt hat –«

Hannes Stark lachte plötzlich laut auf.

»Solange hab' ich nichts zu fressen! Ehe nicht der Mörder gefaßt ist, krieg' ich keine Arbeit und verdiene nichts! Und meine Frau und ich, wir dürfen solange hungern! Feine Leute seid ihr alle, feine Leute, das muß ich sagen!«

Damit hatte sich der Maler erhoben und das kleine Kontor verlassen, wo der Drucker ihm achselzuckend nachblickte. Und Herr Schulz wollte sich eben wieder an seine Arbeit setzen, als die Klingel an der Tür abermals ging und ein großer, magerer Mann hereintrat, der sich als »Lüders, Kriminalbeamter«, legitimierte.

Der Drucker sah ihn aus seinen dunklen, überbuschten Augen mißtrauisch an. »Was wünschen Sie denn?«

»Bei Ihnen war eben ein gewisser Hannes Stark, Maler und Zeichner. Was wollte der bei Ihnen?«

»Warum fragen Sie das?«

Lüders schüttelte den schmalen, blassen Kopf. »Sie haben nur zu antworten, fragen tue ich.«

Der Drucker lachte kurz auf. Aber der Beamte kehrte sich daran nicht; er fragte noch einmal: »Was wollte der Mann von Ihnen?«

»Arbeit.« Das war alles, was der Drucker erwiderte.

Lüders, der einsehen mochte, daß er so nicht zum Ziel kam, zog mildere Saiten auf. »Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, Herr, daß gegen den Maler ein Verfahren geschwebt hat – wegen Raubmord. Nun ist Stark zwar entlassen und das Verfahren ist niedergeschlagen, weil seine Unschuld hinsichtlich des Mordes erwiesen ist – aber die fünfundfünfzigtausend Mark, die der Tote besaß und die er nachweislich bei sich hatte in der fraglichen Nacht – die fehlen. Sie werden ja die Sache kennen, und ich kann mich also kurz fassen: Stark steht noch immer im Verdacht, den Toten beraubt zu haben, den zweifellos ein Wilddieb erschossen hat. Also deutsch gesagt: seinem Freund, dem Reisenden, den zufällig an seiner Seite die Kugel traf, dem hat Stark die Brieftasche mit den fünfundfünfzigtausend Mark gezogen.«

»Woher wollen Sie denn das wissen?« fragte der Drucker ganz ruhig.

»Wir nehmen das an, weil das Geld nicht da ist – und einer muß es doch haben!«

Der Drucker grinste. »Ja, einer hat es! Aber warum soll das gerade Stark sein? Der arme Kerl rennt jetzt 'rum, wie 'n Verzweifelter, und findet und findet keine Arbeit. Wenn der die fünfundfünfzig Mille irgendwo ›kabore gelegt‹ hätte – so sagt man ja wohl in Ihren Kreisen, Herr Assistent? – dann braucht er doch jetzt nicht bei Hunz und Kunz um Arbeit betteln gehn.«

Der Kriminalbeamte hatte bei der Erklärung des Verbrecherausdrucks den Mund verzogen, als hätte er auf 'n hohlen Zahn gebissen. Dann aber lächelte er, soweit das bei ihm in Frage kam, und meinte:

»Das will gar nichts sagen! Das nennt man, ›in meinen Kreisen‹, wie Sie sich so schön ausdrückten, ›Falle machen‹, das heißt, der biedere Stark rennt 'rum bei seinen Bekannten und tut so, als hätte er nichts zu beißen, und heimlich besieht er sich seinen Schatz und wartet ab, bis die Luft rein ist.«

Der Drucker schüttelte den Kopf. »Ich kenne Stark seit Jahren – er war immer 'n aufrichtiger und grundanständiger Kerl.«

»Na, denn könnten Sie ihm doch Arbeit geben!«

»Das möcht' ich auch,« sagte der Drucker langsam, »aber ich habe Angst – die Menschen reden soviel. Ich habe Angst, ich verliere meine Kundschaft.«

»Na, sehen Sie,« jetzt lachte Lüders, »das ist es doch! Der Verdacht ruht noch immer auf Stark!«

* * *

Hannes Stark hatte niemand, auch Maria nichts von dem Besuch bei dem Drucker erzählt. Er hatte sich vor zwei Tagen standesamtlich mit Maria trauen lassen. Doktor von Bernewitz und Amtsvorsteher Kleinert waren Zeugen gewesen. Die Amtshandlung hatte der Steuererheber Müller, als Kleinerts Vertreter, vorgenommen. Denn Herr Kleinert wollte durch seine Zeugenschaft bei Starks Hochzeit den Leuten beweisen, wie fest sein Glaube an Hannes Starks Unschuld sei.

Nach der Trauung hatten sie in der »Bärenhöhle« gefrühstückt, und der Wirt hatte sich dazugesetzt und den jungen Eheleuten herzlich gratuliert.

Auch an dem Tage hatte Stark fast nichts getrunken. Und Maria betrachtete ihn oft mit heimlicher Sorge, weil er so still war und so gedrückt schien. Hatte er etwa einen Verdacht, sie liebe ihn nicht mehr so, wie ehedem?

Maria ertappte sich manchmal darauf, daß sie von Bernewitz ansah und daß er ihr wohl gefiel. Aber das war ganz harmlos. Sie hätte das aufkeimende Pflänzchen Gefühl mit Stumpf und Stiel ausgerissen. Ihre Liebe durfte nur ihrem Hannes allein gehören!

Aber in des Malers Seele war kein Argwohn. Er liebte Maria mit der tiefen Leidenschaft, die sie an einem Herbstabend in seine Arme gerissen hatte. Es gab für ihn keine andere Frau, und nicht einen Augenblick zweifelte er daran, daß Maria ihn ebenso wieder liebte.

Was ihn peinigte, war der Gedanke, daß dieses Hochzeitsfrühstück von Doktor Bernewitz bezahlt wurde und daß jeder Groschen, den er sonst verbrauchte, von Maria und ihrer Mutter erarbeitet werden mußte.

Seit er nicht mehr trank und des Morgens nüchtern aufstand, seitdem hatte er auch seinen Leichtsinn nicht mehr. Und die furchtbare Zeit, die er zwischen Tod und Leben verbracht, hatte sein Gewissen geschärft und hatte einen ernsten, seiner Lebensaufgabe bewußten Menschen aus ihm gemacht. Wie oft hatte er früher gelacht! Nun lächelte er kaum mehr. Der Gedanke, sich von den beiden Frauen ernähren zu lassen, war ihm unerträglich.

Deshalb war er heute zu Doktor Bernewitz gegangen, hörte dort aber, der Anwalt sei fortgefahren und würde heute kaum mehr erscheinen.

Ärgerlich wollte Stark schon nach Hause, als ihm einfiel, daß er ja Arnold Müller aufsuchen wollte.

Daß Müller nie ein aufrichtiger Freund für ihn gewesen war und daß er sich schandbar benommen hatte, während er selbst in Untersuchungshaft saß, das wußte Stark wohl. Maria hatte ihm auch ihren Verdacht erzählt. Darüber hatte Stark nur gelächelt. Mochte Müllers Charakter auch nicht einwandfrei sein so hatte er doch nie und nimmer das Herz, etwas Strafbares und nun gar einen Mord zu begehen! Er war eben wie die anderen alle! Hörte auf das Gerede und glaubte viel eher etwas Schlechtes als Gutes von seinen Mitmenschen.

Und das reizte den Maler gerade heute! Er wollte dem Werkzeugmacher Auge in Auge gegenübertreten und ihm sozusagen die Pistole auf die Brust setzen – bei diesem, doch nur bildlichen Gedanken krauste sich Starkes Stirn: Pistolen und Waffen überhaupt waren ihm seit der schrecklichen Nebelnacht fürchterlich! Also, er wollte Arnold Müller fragen, ob und aus welchen Gründen er noch immer den Verdacht gegen ihn hege? –

Es hieß zwar allgemein, Müller wolle fortziehen von Ravensbrok. Aber vorläufig wohnte er noch draußen. Stark hatte gestern erst Müllers Frau gesehen. Aber auch Alice hatte sich scheu abgewendet und eine Begegnung mit Stark vermieden. Was der dabei empfunden – Stark schloß bei dem Gedanken die Augen. Doch diese Begegnung war es gerade, die ihn heute zu dem Werkzeugmacher hintrieb.

Sie trafen sich auf der Treppe. Müller hatte eben fortgehen wollen. Und er wäre an Stark vorbeigegangen, hätte der Maler ihn nicht angesprochen.

Der Werkzeugschlosser, mit einem gequälten Lächeln, brachte nichts weiter heraus als: »Also, da bist du wieder; na, ich gratuliere! Das ist ja noch mal gut abgegangen!«

Stark mußte lachen, ob er wahrlich nicht heiter war.

»Ja, hast du geglaubt, sie würden mich verurteilen wegen Mordes?«

Müller schwieg. Er lächelte ungewiß.

»Du mußtest doch am besten wissen, daß ich unschuldig bin, Arnold! Du kanntest mich doch und wußtest, daß ich ganz unfähig bin zu solcher Schandtat!«

»Ja, ja,« nickte der Werkzeugmacher, »ich hab's ja auch nicht geglaubt – bloß die Leute reden alle so – aber wir brauchen ja nicht hier auf der Treppe stehen – komm doch mit 'rauf in mein Kontor!«

Hannes Stark hatte dazu wenig Lust, aber er ging mit. Er mußte den Menschen zum Reden bringen. Der wußte mehr, als er sagen wollte. Marias Argwohn gegen Müller fiel ihm wieder ein.

In der Werkstatt war Martin Dummer noch eifrig bei der Arbeit. Aber er legte den Hammer sofort nieder und trat auf Stark zu, ihm die Hand zum Willkomm bietend.

Der Maler, leicht erregbar, war von dieser Herzlichkeit bewegt. Er lieh dem auch Worte. Der Geselle lachte und schüttelte fröhlich den Kopf.

»Nein, nein, auch nicht einen Augenblick hab' ich an Ihre Schuld geglaubt, Herr Stark! Mörder sehen anders aus! Und wenn Sie nicht so freigekommen wären, hätt' ich mein Zeugnis auch noch in die Waagschale geworfen. Aber Gott sei Dank, Sie sind frei. – Nun müssen Sie bloß sehen, daß der wirkliche Täter bald gefaßt wird. Denn wissen Sie, eher geben sich die Leute nicht zufrieden!«

Mitten in seiner freudigen Aufwallung überlief es den Maler wieder: dieser einfache, ehrliche Mensch da vor ihm, sagte er nicht im Grunde dasselbe wie alle anderen? Solange würden böse Nachrede und Verleumdung wie nicht der wahre Täter gefaßt war, solange Hetzhunde hinter ihm her sein!

Indem meinte der Fabrikant, dem Maler auf die Schulter klopfend:

»Wir können ja zusammen rausfahren nach Ravensbrok. Aber vorher wollen wir noch ein Glas Bier trinken gehen. Nicht wahr, Dummerchen, Sie machen dann auch Feierabend und kommen mit?«

Der Geselle war einverstanden. Und der Maler, dem gar nichts am Trinken lag, hoffte doch, von Müller noch allerlei Wissenswertes zu hören.

»Wie wär's denn, wenn wir nach ›Bestmanns Keller‹ gingen?« schlug Müller vor. Und Stark meinte das Lauern in seinen Worten zu hören. Trotzdem war der Maler sofort einverstanden: mochten sie doch alle sehen, daß er wieder auf freien Füßen ging! Und es sollte nur einer wagen, sich an ihm zu reiben! Ihn etwa aufzuziehen mit der Untersuchungshaft! Dem wollte er schon seine Meinung sagen!

Aber als die drei hinkamen, saßen nur ganz wenige Leute in dem Keller an der Ellerntorbrücke.

Der Wirt hatte vor ein paar Tagen wieder seine Tour gehabt, erzählte der schiefköpfige Kellner. Er war wieder einmal über die Brücke ins Lokal gestiegen, hatte aber in seinem Rausch die Leiter verfehlt und war ins Fleet gestürzt. Fast ertrunken, lag er nun mit wildem Fieber zu Bett, und Frau Malli hatte zu all ihrer Not die Plage, den Unverbesserlichen gesund zu pflegen.


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