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Sechzehntes Kapitel

Als Herr von Bernewitz bei dem Untersuchungsrichter eintrat, saß vor dessen Arbeitstisch ein kleiner Herr, dessen brillenbewehrte Augen unter der breiten Gelehrtenstirn auffielen.

»Darf ich Ihnen Herrn Doktor Nunert vorstellen, Herr Rechtsanwalt? Herr Doktor Nunert ist als Waffen- und speziell Schießsachverständiger beim Gericht vereidigt. Und ich habe Veranlassung genommen, den Herrn Doktor in der Sache Stark-Berwin zu Rate zu ziehen.«

Die Überraschung bemerkend, die sich auf von Bernewitz' Zügen malte, sagte der Untersuchungsrichter mit melancholischem Lächeln:

»Irren ist menschlich. Diese tiefste Weisheit unseres armen Erdenlebens, die hat mich seit der letzten Unterredung mit Ihnen, Herr Rechtsanwalt, nicht mehr losgelassen. – Sie erwähnten damals den starken, menschlichen Eindruck, den Ihnen der verhaftete Stark gleich bei Ihrem ersten Besuch in seiner Zelle gemacht hätte. Und so habe denn ich, in dem für den Juristen natürlichen Bestreben nach der absoluten Rechtsfindung, seitdem keine Ruhe mehr gehabt. Ich bin der Sache wieder und wieder nachgegangen und habe, das kann ich wohl sagen, manche schlaflose Nacht gehabt deswegen.«

Der Richter beugte sich über den Arbeitstisch und blätterte in seinem Notizkalender.

»Da!« Er nahm ein loses Kalenderblatt heraus. »Der sechste April! Da las ich einen Spruch auf der Rückseite, den ich Ihnen einmal vorlesen darf: Die meisten Irrtümer unseres Lebens laufen nicht im Geleise einer fehlerhaften Logik, sondern beruhen auf falschen Voraussetzungen. – Ja, nicht wahr, das ist schrecklich einfach, so einfach, daß es fast albern erscheint. Und doch ist die Tatsache so fundamental und tief! Wir glauben zu wissen und wissen doch nicht! Aber wir folgern aus diesem Nichtwissen und müssen so zu den ärgsten Fehlschlüssen kommen. Für einen Richter und für sein richterlich Tun bedeuten solche falschen Gedankenschlüsse statt Recht Unrecht.«

Doktor Wahlfeld schwieg eine kurze Weile, dann sagte er: »Und mitten in meine Überlegungen und Zweifel hinein kommt, wie ein Donnerschlag, aus dem Untersuchungsgefängnis die Nachricht: Stark hat ein Geständnis abgelegt. Er gibt zwar nicht den Mord, wohl aber einen Totschlag zu.

Das war das Menetekel, auf das mein Gewissen nur noch wartete! Alle Zweifel, die mich gequält hatten, alle Unsicherheit und Seelenbedrängnis, die vorher nur geschwelt hatten, wuchsen mit einem Male zur lodernden Flamme! In deren Licht leuchtete der Spruch von der fehlerhaften Logik, aus der unsere Irrtümer stammen. Da wußte ich auf einmal, was es heißt: sein Unrecht zur rechten Zeit einsehen! Und die Quelle seines Irrtums zu erkennen!

Ich sah den Gefangenen in seiner Zelle vor mir! Ich sah seine grausamen Zweifel und fühlte, wie die Würmer der Angst und des Entsetzens sich in sein Hirn bohrten, wie seine Gedanken sich verwirrten und wie der Wahnsinn ihm so nahe kroch, daß er sich nur noch auf der Lüge des Geständnisses aus all dem Wust retten konnte.

Und auf einmal sah ich auch, wo mein Fehler lag! Ich ging in unserer Sache von der Voraussetzung aus: die eine Kugel, die im Schädel des getöteten Berwin stak, sei von Stark, als dem Täter, aus seinem Revolver abgeschossen worden. Die zwei noch in Starks Revolver steckenden Geschosse mußten also dieselbe Art Kugeln enthalten. Ergo mußten diese Kugeln aus demselben Material sein. Das sollte das letzte Glied der Beweiskette gegen den Angeklagten Stark sein – ich bekenne es offen und ich gestehe auch, daß ich in meinem Herzen schon vorher unsicher war und bittere, quälende Zweifel hegte!«

Der Richter wandte sich an Doktor Nunert:

»Darf ich Sie nun bitten, Herr Doktor, dem Herrn Rechtsanwalt und mir das Resultat Ihrer Untersuchung bekanntzugeben?«

Der Sachverständige las aus seinem Notizbuch:

»Die in den Kugelpatronen des mir vom Gericht übergebenen Revolvers enthaltenen Geschosse sind aus völlig kupferfreiem Blei hergestellt. Man entzieht nämlich dem sogenannten Werkblei bei der Geschoßfabrikation die Beimischungsmetalle, wie Silber, Antimon, Kupfer, Zink usw. Während nun die von Privatpersonen gegossenen Kugeln oft alle möglichen Legierungen im Schmelzprozeß aufweisen, ist dies bei den fabrikationsmäßig hergestellten Geschossen nicht der Fall. Die im Kopf des Berwin gefundene Neun-Millimeter-Kugel enthielt nun aber alle möglichen im Gutachten detaillierten Metalle. Ich bin nach meiner eingehenden Untersuchung des aus dem Schädel des Getöteten extrahierten Bleigeschosses zu der Überzeugung gekommen: es handelt sich hier um einen sogenannten Rehposten. Somit kommt nicht ein Revolver- oder Pistolenschuß, sondern ein Flintenschuß in Frage.«

»Und damit ist der Verdacht gegen den Maler so gut wie hinfällig,« vollendete der Untersuchungsrichter.

»Ja,« nickte Doktor Nunert, »mit den mir vorgelegten Revolverpatronen kann der Getötete nicht erschossen worden sein.«

Doktor von Bernewitz saß schweigend auf seinem Platz. Er stand derart unter dem Druck einer Gemütsbewegung, daß er eine Zeitlang das, was ihn hergeführt hatte, nicht sagen konnte. War es nicht wirklich, als recke sich eine Hand aus dem Unsichtbaren und beschirmte den, den menschliche Fehlbarkeit schon zu den Verlorenen geworfen hatte? Ein Strom von Dankbarkeit für die Güte des Unerforschlichen erfüllte des Anwalts Herz, der nun mit befreitem Aufatmen seine eigene Wissenschaft zu der Erkenntnis Doktor Wahlfelds hinzutun konnte. Er sagte bewegt:

»Wie froh bin ich und wie erleichtern Sie mir die Aufgabe, Herr Amtsgerichtsrat, die mich heute zu Ihnen führt. Darf ich Sie bitten, dieses Protokoll, das mein Bürovorsteher Mahnke in meiner und Fräulein Winkels Gegenwart mit Herrn Riebenstedt in meiner Kanzlei aufgenommen hat, zur Kenntnis zu nehmen?«

Etwas befremdet nahm Doktor Wahlfeld den Bogen, entfaltete ihn und las, mit jeder Zeile sichtlich mehr interessiert, um ihn alsdann dem Doktor Nunert zu geben.

Der Richter nickte vor sich hin.

»Es ist schon so: wenn Wahrheiten sich durchsetzen, so tun sie das meist an verschiedenen Stellen zugleich. An und für sich würde diese Aussage hier noch keinen Beweis für Starks Unschuld bilden. Wenn auch hiernach,« der Sprechende nahm das Protokoll aus Doktor Nunerts Hand zurück, »kaum noch ein Zweifel möglich ist, daß Stark die dreitausend Mark von Bruno Berwin am Abend vor seinem Tode empfangen hat und daß sie danach rechtens Stark gehören – aber im Verein mit Herrn Doktor Nunerts Gutachten erweist dies Protokoll die völlige Unschuld des Malers.«

Er streckte dem Anwalt seine Rechte entgegen. »Ich fühle mich glücklich, Ihnen, mein lieber Herr Rechtsanwalt, danken zu dürfen für den schönen Anteil, den Ihre treue Mitarbeit zum Werk von Starks Befreiung beigetragen hat! Es bleibt mir nur übrig, seine Freilassung sofort zu verfügen.«

Doktor Wahlfeld, der in seiner Erregung aufgestanden war, ging wieder zurück an den grünen Tisch und schrieb ein vorgedrucktes Formular aus.

»Der Untersuchungsgefangene Maler Hans Stark ist sofort aus der Haft zu entlassen.«

Das Papier gab er dem Anwalt.

»Ich vertraue die Besorgung dieser Verfügung niemand lieber an, als Ihnen, Herr Doktor! Aber außerdem habe ich noch eine herzliche Bitte an Sie: Bestellen Sie dem Gefangenen Stark meinen Gruß und meinen Glückwunsch für sein wiedergewonnenes, neues Leben! Und sagen Sie ihm doch, daß ein Richter nur so lange Richter ist, wie er einem Schuldigen gegenüber zu stehen glaubt. Daß er aber den Unschuldigen um Verzeihung bittet für das, was er ihm – wenn auch nach bestem Wissen und Gewissen! – angetan hat.«

Nie hatte Doktor von Bernewitz die ernsten Hallen der Justiz so froh verlassen, als in dieser Stunde.

* * *

»Raten Sie mal,« sagte Herr Gläßgen, der selten mehr als drei Worte auf einmal sprach.

Über Aufseher Liedke kam es wie Erleuchtung.

»Der Gefangene Stark?« fragte er zögernd.

Der Oberaufseher nickte.

»Ja, wird entlassen ... unschuldig ...«

Herrn Liedke zitterten die Lippen, er konnte nur sagen: »Befehl, Herr Oberaufseher.«

Damit wollte er weg, zu seinem Gefangenen. Aber Herr Gläßgen hielt ihn auf.

»Nicht gleich sagen! Langsam, nach und nach ... zu gefährlich!«

»Ich verstehe, Herr Oberaufseher. Ich werde es dem Gefangenen mit aller Vorsicht beibringen.«

»Gut, können gehen.«

Noch niemals ist es dem Aufseher Liedke so schwer geworden, die Beamtenwürde in der Gemessenheit seines Schrittes auszudrücken wie in dieser Minute. Aber er mußte ja auch überlegen, wie er seine Botschaft in Worte bringen, wie er des Gefangenen Herz nicht mit einer zu großen Überraschung bestürmen wollte.

Hannes Stark saß eifrig zeichnend auf seinem Schemel. Als er beim Eintritt des Beamten aufblickte, hatte er noch den träumerischen Glanz in den Augen, der sein Gesicht bei der Arbeit überstrahlte.

Er wollte aufstehen. Aber der Beamte winkte ihm: »Bleiben Sie sitzen, Herr Stark!«

Sofort richtete sich der Gefangene auf.

Die Aufseher dürfen die Gefangenen nicht mit »Herr« anreden, das ist gegen die Gefängnisordnung. Stark begriff sekundenschnell, daß sich mit diesem »Herr« etwas anderes, viel Bedeutsameres verband.

Er stand auf.

»Sie bringen mir meine Freiheit, Herr Aufseher?«

Liedke nickte wortlos.

Stark faltete die Hände und blickte zu dem hohen Fenster hinauf, durch dessen Gitter die Sonne hereinschien. Er sprach eine Weile nicht, nur seine Lippen waren in flüsternder Bewegung. Dann gab er dem Beamten die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen!«

Damit wurde sein Gesicht zusehends ruhiger. Die braunen Augen lachten. Der Beamte konnte sich im stillen nicht genug wundern über die erhabene Ruhe, mit der der Todbedrohte die Rettung seines Lebens begrüßte.

»Ihr Anwalt wartet unten in der Kanzlei auf Sie!«

»Kann ich denn gleich gehen, Herr Liedke?«

»Natürlich! Gegessen haben Sie schon, nun holen Sie sich noch vom Hausmeister Ihre Habseligkeiten, da führe ich Sie hin ... und dann steht Ihnen das Tor offen!«

»In die Freiheit!« sagte Stark. Es klang, als spräche er aus dem Traum.


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