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Viertes Kapitel

Die Lampe über dem schmalen Tisch der Zelle 725 brannte mit schwachem Schein. Es ist eine besondere Vergünstigung, wenn es den Untersuchungsgefangenen gestattet wird, des Abends Licht zu brennen. Doch bei dem Gefangenen in Zelle 725 brannte die ganze Nacht Licht.

In der Tür dieser Zelle war auch statt des nur talergroßen »Spions« ein kleines, stark vergittertes Fenster, damit der Aufsichtsbeamte die Zelle zu jeder Zeit gut übersehen konnte.

Diese Zelle 725 lag am Ende des langen Ganges in dem zweiten Stockwerk des Gefängnisses, das die Form eines im Rechteck gerichteten Kreuzes hatte, so daß man von einer Zentrale aus die beiden sich kreuzenden Gänge im Auge behalten konnte.

Drei Stockwerke hatte der weite Bau; drei Aufseher hielten von jeder Zentrale Wacht über diese Hunderte von Gesetzesbrechern, die alle nur den einen brennenden Wunsch kennen: herauszukommen aus dieser schrecklichen Mauernenge in die Freiheit.

Alle anderen Gefangenen, wenn sie nicht gerade eine Arreststrafe abbüßten, gingen an jedem Tag, meist vor dem Essen, eine gute Viertelstunde auf dem Gefängnishof spazieren; entweder in langer Reihe, einer hinter dem anderen, ernst und schweigsam, oder doch nur ganz verstohlen flüsternd, über die öden Wege des Gefängnishofes. Die in Einzelhaft saßen, hatten in den fächerartig angeordneten Hofzellen ihren trübseligen Erholungsweg.

Der Insasse von 725 ging ganz allein. Er ging zu einer Stunde, da niemand in den Höfen war, und ein Wächter mit schußfertigem Karabiner begleitete ihn. Das aber nur, wenn sich Nummer 725 als friedfertig und nicht bösartig erwiesen hatte. Sonst konnte ihm auch diese Vergünstigung nicht gewährt werden. Wer in Zelle 725 saß, hatte aus seiner Zelle nur zwei Wege: den einen in die Freiheit, wenn die Männer auf der Geschworenenbank ihm mit ihrem »Nicht schuldig!« die Freiheit wiedergegeben hatten; und den anderen nach dem Urteil, den letzten, schweren Weg, von dem es keine Rückkehr gibt, der durch die Pforte des Todes in das Nichts führt.

Der Gefangene in Zelle 725 saß auf seiner Pritsche und blickte in die kleine, blaugelbe Flamme der Gaslampe. Er war allein und dachte an den einen Menschen, der ihm auf Erden geblieben war, auf dessen Treue er bauen durfte, wie immer sich sein Schicksal auch entschied – an seine Maria. Und dann zogen die Stunden wieder an ihm vorbei, wo das große Unheil seines Lebens begonnen hatte. Er sah die Bilder jenes Tages so greifbar deutlich. Er sah sich selbst als freien, glücklichen Menschen – ja, war er denn glücklich gewesen, damals? Ach, es waren ja erst Tage vergangen seitdem! Und doch war es dem Gefangenen in Zelle 725, als seien es Jahre.

Er schlug die Hände vors Gesicht. Vor seinem inneren Schauen glitten, wie so oft schon, die Bilder jenes schrecklichen Tages vorüber, der sein Leben zerstört, der ihn hierhergebracht hatte ...

Der zweite Tag des Jahres war es gewesen, der mit heller Sonne blinkend und blitzend heraufzog. Keine Wolke war am Himmel, als um Mittag sich der Wind plötzlich nach Südwest drehte und eine scharfe Brise mit raschen Stößen finstere Wolkenballen über den Horizont trieb. Im Nu ward aus dem schönen strahlenden Himmelsblau ein schmutziger, schwarzgrauer Schiefer. Der Wind klapperte mit den Wetterfahnen und fuhr heulend in die hohen Schornsteine der vielen alten Häuser, die noch in der Altstadt vor der Vergangenheit Hamburgs Wache hielten. Aber so plötzlich, wie er aufgewacht war, so rasch schlief der Sturm wieder ein. Nun war es, als zöge der Himmel alle Schleusen auf. Und wie im Herbst der endlos graue Regen und Nebel die Seestadt befallen, so sank jetzt eine dicht gewebte weiße Decke, der Schnee, herab.

Drei Männer, die von der Innenstadt herkamen, gerieten in das Schneeballgefecht, das gerade an der Ellerntorbrücke zwischen den von der Arbeit kommenden jungen Leuten heftig entbrannt war. Noch von den weißen Wurfgeschossen verfolgt, liefen die drei lachend über die Brücke und verschwanden in dem Kellereingang des Lokals von Bestmann, das unter dem Namen »Pannkokenkeller« in ganz Hamburg bekannt war. Plaudernd öffneten sie die gardinenverhangene Glastür des geräumigen Lokals, das im blassen Licht der hereinbrechenden Dämmerung trüb und ungastlich ausschaute – – –

Der Gefangene sah in der Erinnerung den großen, braunlockigen Menschen lachend die Treppe hinablaufen. Er sah ihn der Wirtin die Hände drücken und dann mit den beiden anderen am Tisch sitzen, an dem langen Tisch neben der Tonbank, wo nur die Freunde und Bekannten der Wirtsleute Platz fanden. Und der große, braunlockige Mensch war er selbst. Ja, er selbst war es, Hannes Stark, der jetzt unter Mordverdacht in der Gefängniszelle saß.

»Ach, Hannes,« sagte die Wirtin, – er sah deutlich ihre kleine, zierliche Gestalt im schwarzen, enganliegenden Kleid mit der sauberen Rüsche um den noch jugendlichen Hals, – dabei griff sie nach seinen Händen, »haben Sie ihn denn nicht irgendwo gesehen, Hannes? Seit gestern ist er weg! Und was hat er schon wieder alles eingekauft. Da ...«

Sie zeigte auf die lange Bank hinter dem Ladentisch.

»Da, sehen Sie, Hannes! Sechs Dutzend Messer und Gabeln, wo ich soviel habe. Und da, ein ganzes Dutzend seidene Schürzen. Die kosten mindestens zehn Mark das Stück. Und den Sekt! Sekt! Fünfundzwanzig Flaschen. Wer trinkt denn hier Champagner? Wir haben doch gar keine Konzession. Und im Keller stehen noch zwanzig Flaschen. Sie wissen doch, Hannes, wie er das letztemal seine Tour hatte. Igitt, igitt, igitt! Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!«

Eben kam der Kellner, den gelblichen Spitzkopf so merkwürdig schief auf der linken Schulter, und machte Licht. Nun traten die Gestalten und Gesichter der Gäste aus dem Helldunkel hervor: lauter Männer; eine Frau verirrte sich selten in Bestmanns Keller. Aber es waren noch nicht viel Leute da, die meisten kamen erst nach Feierabend.

Die drei Freunde tranken Kaffee. Man konnte auch Tee oder Limonade haben. Alkohol gab es in keiner Form.

»Ich mag das Zeug nicht sehen,« meinte Frau Mally Bestmann. Sie schüttelte bekümmert den Kopf und seufzte, während sie mit Hannes Stark sprach. Die beiden anderen, Arnold Müller und Bruno Berwin, redeten leise miteinander.

Der Gefangene meinte deutlich zu hören, was sie sprachen. Jetzt schüttelte der Müller seinen schwarzen Kopf und sah herüber. Es war sicherlich nichts Freundliches, was er sagte. Er ließ ja an keinem Menschen ein gutes Haar.

Und dann stand ein Mann drüben am Tisch, der aussah wie ein alter Schauspieler. Er schwenkte theatralisch seinen Schlapphut – –

Der Mann in Zelle 725 schrak zusammen. Und es war doch nur ein hauchleises Geräusch, das sein Ohr getroffen hatte: der Gefangenenaufseher war, kaum hörbar, draußen auf dem Gang vorbeigegangen. Stark stand auf. Er ging ziellos ein paarmal durch die Zelle. Dann saß er wieder auf dem Dreibein. Und der Raum veränderte sich abermals um ihn. Er war wieder in Bestmanns Keller und hörte den Mann mit dem Schlapphut sagen:

»Gott zum Gruß, meine verehrten Gönner! Ein Jünger Thalias, ein ehemaliger Mime und jetziger Bratenbarde, naht sich Ihnen untertänigst!« Er breitete die Arme aus. »Und sehet, meine Freunde, wie das Glück blüht in meinen gesegneten Händen!«

Und plötzlich hatte er beide Hände voller Lotterielose, die er scheinbar achtlos über den breiten Tisch. streute.

»Greift nur hinein ins volle Menschenleben, denn wo ihr's packt, da ist es interessant!«

Er formte die Hände wie zu einer Trompete und blies einen bekannten Schlager. Plötzlich aber, mit wahrem Grabesernst, wandte er sich an Arnold Müller, bot ihm eine Handvoll gefächerter Lose und sagte düster:

»Das Glück ist eine leichte Dirne! Greift zu, sonst ist sie plötzlich weg!«

Der Werkzeugfabrikant machte eine Bewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen, aber Berwin, den blonden Weinreisenden, interessierte die Sache.

»Was ist denn das für 'ne Lotterie, und was kann man da gewinnen?«

Der andere riß die Augen weit auf, sein Gesicht leuchtete förmlich, als er sagte:

»Eine halbe Million!«

Arnold Müller verzog den Mund und sagte nur ein Wort:

»Blödsinn!«

Berwin lachte. »Laß ihn doch, Arnold!«

Da zog der Loshändler einen Prospekt aus der Tasche und zeigte auf die Tausende und Hunderttausende, die da als Gewinne fettgedruckt erschienen.

»Es ist die Hamburger Klassenlotterie,« sagte er hoheitsvoll. »Unsere alte Hansastadt, die steht gut für jede Summe.« Und verbindlich fügte er hinzu: »Also ich denke, Sie fangen mit einem Achtel an!« Er fächerte wieder seine Lose. »Sie können in acht Tagen ein reicher Mann sein!«

Bruno Berwin konnte nicht widerstehen. Er suchte lange unter den Losen, dann nahm er eins, das die Nummer 21227 trug.

»Das muß ja ein Glückslos sein,« spottete Arnold Müller, »die letzte Zahl ist die Summe aus den ersten vier!«

In diesem Augenblick hatte sich Hannes Stark umgedreht – Frau Bestmann mußte gerade Kaffee einschenken –, er wollte das Los sehen, das sein Freund erstanden hatte. Und als er die merkwürdige Nummer gelesen, da hatte er auch Teilhaber am Kauf und Gewinn werden wollen.

Berwin tat die Ausgabe beinahe schon wieder leid. »Fort ist das Geld doch,« sagte er, »wenn du mit dabei bist, Stark, verliere ich bloß die Hälfte. Aber du mußt mir deinen Anteil pünktlich vor der Ziehung bezahlen, Hannes! Sonst gilt der Kauf nicht!« – – –

Der Einsame in der Zelle sah zu den starken Gittern des hochangebrachten Fensters hinauf. Ein gequältes Lachen ging über seine Züge. Ja, da hatte der Berwin recht gehabt: Hannes Stark konnte nicht wirtschaften. Geld war seinem Empfinden nach zum Ausgeben da, nicht zum Sparen. Und er hatte auch eigentlich nie Geld gehabt, sonst hätte er ja längst geheiratet. Und wie gut, daß er es nicht getan hatte! Sein Verdienst war ja immer zu unregelmäßig gewesen. Ja, und dann hatte er dem Berwin das Geld für Sonnabend versprochen und natürlich dann doch vergessen zu bezahlen. Eine Mark fünfundachtzig, das ist ja doch lächerlich! – –

Der Aufseher ging draußen vorbei. Wie die Lederpantoffel auf den Eisenplatten des Ganges klappten! Wenn man doch bloß nicht immer daran denken müßte. Das verdammte Gefängnis!

Der Keller von Bestmann war nicht viel heller als die Zelle hier, bloß viel angenehmer.

Ja, aber an dem Abend war's da unten an der Ellerntorbrücke auch nicht gerade gemütlich gewesen.

Der gute Pip Bestmann hatte nämlich wieder einen sitzen. Frau Bestmann kam eben aus der Küche und wollte ihre Unterhaltung mit Stark fortsetzen, als der schiefköpfige Kellner schnell vom Eingang herkam und heftig atmend der Wirtin ins Ohr sagte:

»Er kommt! Er is schon da, muß jeden Augenblick hier sein!«

Und noch ehe Frau Mally etwas erwidern konnte, trat der Wirt des »Pfannkuchenkellers« ein. Er war ein nicht großer Mann, gut gekleidet, ohne Kopfbedeckung, mit offenem Mantel, so daß man den guten schwarzen Anzug und die weiße Wäsche sah. In der Rechten trug er einen Strohkorb, aus dem das Schreien eines Hahnes drang.

Ohne den Gästen die geringste Beachtung zu schenken, trat er aufs Podium, wo ein verwaistes Klavier auf die Musikanten wartete. Dort ließ sich Herr Bestmann nieder und sagte, dabei in die leere Luft starrend, ernst und würdig:

»Bringe mir meine Schürze, Mally! Ich will, wie alljährlich, den Göttern einen Halm opfern.«

Er wandte sich an die Gäste: »Ihr wißt, daß Sokrates, der große Weise Griechenlands, das gleiche tat. Ihm als Vorbild in allen Dingen nachzuleben, ist Sinn und Ziel meines Daseins!«

Und zu seiner Frau hinblickend, befahl er nochmals: »Mally, die Schürze!«

Es war nicht ungefährlich, dem in einem Rauschzustand befindlichen Mann solchen Wunsch zu verweigern, das wußte die Frau. So ging sie in die Küche.

»Auch ein scharfes Messer!« rief er ihr nach.

Sie brachte beides, während die Gäste mit atemloser Spannung warteten. Aber als sie das Messer brachte, da schüttelte der Wirt den Kopf. Er sah in die Deckenlampe und sagte:

»Der Mond scheint zu hell, das ist zum Opfern nicht die rechte Nacht. Ich verschiebe es auf morgen.«

Dann ging er zur Tonbank und verschwand nach hinten im Küchenausgang.

Die Frau atmete auf, ihre Augen standen voll Tränen. Ein paar von den Gästen wollten lachen, aber der Schmerz der Ärmsten bannte ihre Heiterkeit.

Hannes Stark hatte die Weinende getröstet, die schluchzte:

»Er ist sonst der beste Mann von der Welt. Und dieses schreckliche Leiden, das bringt mich noch um!« – – –

Der Mann in der Zelle lachte rauh. Wer tröstete ihn? Und von seinen heißen Wünschen herbeigezogen, trat der helle Schatten Marias in die Zelle. Der Gefangene reckte die Arme, aber es war nur die kalte traurige Einsamkeit, die er an sein Herz zog.


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