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Abteilung VI.
Über die Wahrscheinlichkeit.

Locke teilt alle Begründung in beweisende und wahrscheinliche. Nach dieser Einteilung ist es nur als wahrscheinlich zu bezeichnen, dass alle Menschen sterben müssen, und dass die Sonne morgen aufgehn wird. Um aber mit dem gemeinen Sprachgebrauch übereinzustimmen, muss man die Begründungen in Beweise, Gewissheiten und Wahrscheinlichkeiten einteilen. Unter Gewissheiten verstehe ich solche der Erfahrung entlehnte Begründungen, die keinen Raum für Zweifel oder Bedenken übrig lassen.

Obgleich es in der Welt nichts der Art wie Zufall giebt, so hat doch unsere Unkenntnis der wirklichen Ursache eines Ereignisses denselben Einfluss auf den Verstand und erzeugt eine gleiche Art von Glauben oder Meinung, als ob Zufall bestände.

Es giebt allerdings eine Wahrscheinlichkeit, die aus der Mehrzahl der möglichen Fälle auf einer Seite sich bildet, und wenn diese Mehrzahl wächst und die entgegengesetzten übertrifft, so nimmt die Wahrscheinlichkeit verhältnismässig zu und erzeugt für die Seite, wo die Mehrzahl statt hat, einen höhern Grad von Glauben oder Zustimmung. Wenn ein Würfel auf vier Seiten mit derselben Figur oder Zahl versehen ist, und auf den zwei andern mit einer andern Figur, so würde jene Figur wahrscheinlicher geworfen werden als letztere, hätte er aber 1000 Seiten in derselben Weise gezeichnet und nur eine mit einer andern Figur, so würde die Wahrscheinlichkeit noch viel grösser und unser Glaube oder die Erwartung des Ausganges noch fester und sicherer sein. Diese Art des Denkens oder Schliessens scheint vielleicht längst bekannt und selbstverständlich; aber bei näherer Untersuchung bietet sie Stoff zu interessanten Untersuchungen.

Offenbar betrachtet der Verstand bei Berechnung des Erfolgs eines solchen Würfelns das Werfen jeder einzelnen Seite als gleich wahrscheinlich und es ist eben das Wesen des Zufalls, dass er alle einzelnen Fälle, die er einschliesst, völlig gleich möglich macht. Wenn aber zu dem einen Erfolg eine grössere Zahl von Seiten führt, als zu dem andern, so kommt der Verstand öfter auf diesen Erfolg zurück und trifft ihn öfter bei Durchgehung der verschiedenen Möglichkeiten oder Zufälle, von denen das Endergebnis abhängt. Dieses Zusammentreffen mehrerer Erwägungen in demselben Ergebnis erzeugt unmittelbar durch eine unerklärliche Natur-Einrichtung die Wissensart des Glaubens, und giebt diesem Ergebnis den Vorzug vor dem entgegengesetzten, der nur von einer geringem Zahl von Erwägungen unterstützt ist, und dem Verstande sich nicht so oft darbietet. Wenn man zugiebt, dass der Glaube nur eine festere und stärkere Vorstellung eines Gegenstandes in Vergleich mit blossen Erdichtungen der Einbildung ist, so erklärt dies der hier betrachtete Vorgang einigermassen. Das wiederholte Eintreten derselben Erwägungen oder Einblicke steigert die Vorstellung, giebt ihr eine höhere Stärke und Kraft, macht ihren Einfluss auf Leidenschaften und Erregungen fühlbarer und erzeugt, mit einem Worte, diese Zuversicht oder Gewissheit, welche das Wesen des Glaubens und Dafürhaltens ausmacht,

Es verhält sich mit der Wahrscheinlichkeit der Ursachen, wie mit der des Zufalls. Es giebt Ursachen, welche in ihrer bestimmten Wirkung völlig gleichförmig und beständig sind, und man kennt kein Beispiel von einem Ausbleiben oder einer Ausnahme bei denselben. Das Feuer hat den Menschen immer verbrannt, und das Wasser immer erstickt. Die Erzeugung der Bewegung durch Stoss und Schwere ist ein allgemeines Gesetz, das bis jetzt keine Ausnahme erlitten hat. Aber es giebt andere Ursachen, die sich unregelmässiger und unsicherer zeigen; so hat der Rhabarber nicht immer purgiert und das Opium nicht jeden Menschen, der es eingenommen hat, eingeschläfert. Allerdings suchen Philosophen, wenn eine Ursache ihre gewöhnliche Wirkung verfehlte, den Grund nicht in der Unregelmässigkeit der Natur, sondern sie nehmen an, dass irgend eine geheime Ursache in der besondern Verbindung der Teile den regelmässigen Vorgang gehemmt hat. Unsere Betrachtungen und Schlüsse betreffs des Erfolgs werden jedoch durch dieses Prinzip nicht betroffen. Indem man gewöhnt ist, das Vergangene auf das Zukünftige bei allen Schlüssen zu übertragen, so erwartet man da, wo die Vergangenheit ganz regelmässig und gleichförmig gewesen ist, den Erfolg mit der grössten Zuversicht und giebt der entgegengesetzten Annahme keinen Raum. Wo aber verschiedene Wirkungen aus anscheinend genau gleichen Ursachen angetroffen worden sind, da müssen all diese verschiedenen Wirkungen auch dem Verstande, bei Uebertragung der Vergangenheit auf die Zukunft, gegenwärtig sein und in die Betrachtung eintreten, wenn man die Wahrscheinlichkeit des Erfolges bestimmen will. Obgleich man dem, der am häufigsten befunden worden, den Vorzug giebt, und an das Eintreten dieser Wirkung glaubt, so darf man doch die andern Wirkungen nicht übersehen und muss jeder nach Verhältnis ihres öftern oder seltenern Eintretens ein besonderes Gewicht und Ansehn beilegen. So ist es für alle Länder Europas wahrscheinlicher, dass im Januar einiger Frost eintritt, als dass den ganzen Monat gelindes Wetter anhält; obgleich diese Wahrscheinlichkeit nach Verschiedenheit des Klimas wechselt, und in den nördlichen Ländern sich der Gewissheit nähert. Hier zeigt es sich deutlich, dass man bei Übertragung der Vergangenheit auf die Zukunft, um die Wirkung einer Ursache zu ermessen, alle verschiedenen Folgen in demselben Verhältnis überträgt, wie sie in der Vergangenheit bemerkt worden sind, und sich z. B. vorstellt, dass die eine hundertmal, die andere zehnmal und die dritte nur einmal eingetreten ist. Da eine grosse Zahl von Erwägungen hier auf denselben Erfolg zusammentrifft, so verstärken und befestigen sie ihn in der Einbildungskraft, erzeugen die Empfindung, welche man Glauben nennt und geben ihm den Vorzug vor dem entgegengesetzten Erfolg, der nicht durch eine gleiche Zahl von Erfahrungen unterstützt wird und dem Denken, bei der Übertragung der Vergangenheit auf die Zukunft, nicht so oft sich darstellt. Wenn Jemand versuchen will, diese Vorgänge des Verstandes aus irgend einem der vorhandenen philosophischen Systeme zu erklären, so wird er die Schwierigkeit bemerken. Ich bin für meine Person zufrieden, wenn die gegenwärtigen Andeutungen das Interesse der Philosophen erwecken und sie erkennen lassen, wie mangelhaft alle bisherigen Systeme diese interessante und bedeutende Frage behandelt haben.

Der in Nummer 8 gerügte Irrtum Hume's setzt sich in diesem Abschnitt fort. Die Gewissheit, als Wissensart, hat im Unterschied von der Erkenntnis ihre Grade (B. I. 60); sie kann abnehmen und zur Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit herabsinken. Diese Unterschiede kommen offenbar von den seienden Elementen, welche überhaupt dem reinen Vorstellen bei der Gewissheit hinzutreten und es zu einer besonderen und eigentümlichen Wissensart umwandeln. Allein es ist unrichtig, diese Elemente, wie Hume thut, nur als stärkere Grade des Vorstellens zu nehmen; vielmehr besteht die Wirkung dieser Elemente in dem ganz neuen Zusatz, dass nunmehr der vorgestellte Inhalt als ein gegenständlicher ausserhalb des Vorstellens, d. h. als ein wahrer gilt. Diese Wirkung ist das Eigentümliche der Gewissheit und nicht jener blosse höhere Grad, der ja auch mit einem blossen Phantasiebilde sich bekanntlich verbindet; vornehmlich wenn starke Gefühle hinzutreten. Ist dies richtig, so fällt die Ausführung Hume's in dieser Abteilung, wonach die Wahrscheinlichkeit sich nur aus der häufigen Wiederholung derselben Vorstellung in der Seele entwickeln soll. Die Seele unterscheidet auch hier sehr bestimmt zwischen bloss subjektiven Gedankenerweckungen und zwischen der Beziehung der Vorstellungen auf wirkliche Gegenstände. Deshalb folgert sie aus dem Hören eines Wortes durchaus nicht die Wahrscheinlichkeit seines Gegenstandes, obgleich die subjektive Verbindung beider hier im höchsten Masse statt hat und mithin nach Hume's Auffassung hier diese Wahrscheinlichkeit von der Seele angenommen werden müsste. Es kommt hinzu, dass bei der mathematischen, aus der Mehrzahl der Fälle abgeleiteten Wahrscheinlichkeit die Seele sich die vielen einzelnen gleichen Fälle gar nicht wirklich einzeln vorstellt, sondern sich mit der blossen Zahl begnügt. Nach Hume müsste aber dieses wiederholte Vorstellen der einzelnen Fälle wirklich geschehen, denn nur dann könnte die Vorstellung einen höheren Grad erlangen.

Es bleibt auffallend, dass ein so feiner und scharfsinniger Denker, wie Hume, diesen Unterschied nicht bemerkt hat und an dieser Verwechselung durch sein ganzes Werk beharrlich festhält, wie das Folgende ergeben wird. Offenbar hat ihn das Bestreben, die Ursachlichkeit auf die Gewohnheit zurückzuführen, diese Unterschiede übersehen lassen.


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