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20. Ellis Mutter in Seehausen

Elli war wieder in Seehausen. Die Trauer um die Tante, die ihr nicht so nahe gestanden hatte, war keine tiefgehende. Größer war die Sorge um die Mutter und deren Zukunft. Erst als die Doktorin eines Tages mit dem Vorschlag kam, Elli solle mit der Mutter nach Seehausen ziehen, sie wolle ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen, da verklärten sich ihre Züge und sie ergriff diesen Plan als den allerschönsten und zweckmäßigsten. Die Doktorin mahnte, nicht zu stürmisch zu sein, sie wollten die Sache nach allen Seiten hin überlegen.

Die Mutter schrieb, daß das Testament eröffnet sei. Die Tante hatte fast alles der Stadt oder wohltätigen Anstalten vermacht und ihr ein so kärgliches Teil hinterlassen, daß es fast ein Ding der Unmöglichkeit war, damit auszukommen. Sie wollte Elise dadurch zwingen, einfach und anspruchslos zu werden, hatte aber nicht bedacht, daß ein so geringes Kapital nicht ausreichen konnte für die bescheidensten Lebensverhältnisse. Elli rechnete und rechnete mit der Doktorin, aber die Rechnung wollte nicht stimmen.

»Ein Dienstmädchen brauchen wir nicht, ich mache alles allein,« meinte Elli. »Sie haben uns gelehrt, daß Arbeit den Menschen nicht erniedrigt, sondern ehrt.«

»Es freut mich, mein liebes Kind, daß du so denkst,« sagte die Doktorin freundlich. »Tust du deiner Mutter zuliebe geringe Dienste, so gereicht dein Werk zur Ehre Gottes. Also damit wären wir fertig. Nun gilt es, eine bescheidene Wohnung zu suchen. Vor allen Dingen müssen wir der Mutter Ansicht hören.«

Die Mutter war einverstanden. Ein kleines, hübsch gelegenes Städtchen, wo sie nicht bekannt war und doch an Doktors Haus einen Halt hatte, war das, was sie wünschte. Sie schrieb einen herzlichen Brief an die Doktorin mit der Bitte, Elli beim Suchen einer Wohnung behilflich zu sein.

Es war nicht so leicht, als sie gedacht hatte. Die meisten Häuser der Stadt waren so gebaut, daß sie für eine Familie reichten. Gab es Mietwohnungen, so waren sie schon besetzt oder so eng und unbequem, so finster und ungemütlich, daß Elli ihre Mutter dort nicht einmieten mochte. Sie war niedergeschlagen und glaubte ihren Lieblingsplan aufgeben zu müssen, da sagte der Doktor eines Tages:

»Es gibt ja ein kleines Häuschen gar nicht weit von uns im Garten des Landhauses Elise, gleich an der Straße. Es tut mir jedesmal leid, wenn ich vorüber fahre und sehe das kleine reizende Haus leer stehen.«

Die Doktorin schüttelte den Kopf und meinte, es würde dem reichen Herrn Müller nicht einfallen, das Haus zu vermieten, aber der Doktor könne ja fragen, wenn es ihm beliebe.

Dies geschah noch an demselben Tage. Doch gab es, wie zu erwarten stand, abschlägigen Bescheid. Herr Müller hatte gesagt, die Räume würden im Herbst zur Aufbewahrung des Obstes gebraucht, er liebe es überhaupt nicht, fremde Leute in seinen Garten zu nehmen.

Die Doktorin fragte, ob ihr Mann denn gesagt habe, für wen er die Wohnung suche.

Der Doktor verneinte es, es tue ja nichts zur Sache, meinte er, da der Herr Ellis Mutter nicht kenne.

Am andern Morgen bat Elli um die Erlaubnis, noch einmal in die Stadt gehen zu dürfen und nach Wohnungen zu suchen. Bei einem Bäcker habe sie eine gesehen, die ihr am besten gefallen, es sei ein kleines Gärtchen dabei und die Leute seien freundlich und bereitwillig gewesen. Nur die zu hohe Miete habe sie abgeschreckt, aber vielleicht ließen die Leute noch etwas herunter.

Sie ging. Es war ein heißer Augusttag. Die Sonne entsandte glühende Strahlen, und Elli war müde und abgespannt. Das Suchen und Sorgen um Wohnungen, das hin und her überlegen, die Hoffnung, wenn sich etwas Passendes, die Enttäuschung, wenn es sich zerschlug, das alles hatte die zarte Natur angegriffen. Sie mußte öfters auf dem Wege zur Stadt ausruhen. Jetzt stand sie vor dem Garten des Landhauses Elise. Der Springbrunnen plätscherte und die kühlen, schattigen Wege sahen so einladend aus im Vergleich zu der staubigen Landstraße. Das Landhaus lag hinter Bäumen versteckt mitten im Garten. Dicht an der Straße jedoch, links vom Eingang, stand ein schmuckes, kleines, von Efeu umranktes Häuschen. Die Fenster waren zwar blind und wie es dahinter aussah, konnte Elli nicht wissen. Aber sie stand still und betrachtete das kleine Häuschen von allen Seiten. Je mehr sie es ansah, um so köstlicher schien der Gedanke, hier mit ihrer Mutter zu wohnen. Sie wollten ja den Herrn gar nicht belästigen; sie wollten still und bescheiden sein, es war ja genug, wenn sie in den schönen Garten hineinsehen durften, sie brauchten ihn ja nicht zu benutzen, wenn es der Herr nicht liebte. Sie war so in ihren Gedanken versunken, daß sie nicht merkte, wie Herr Müller sie schon lange beobachtet hatte und immer näher gekommen war. Jetzt öffnete er das Tor, beim Aufklinken schrak Elli zusammen. Sie wollte scheu weiter gehen, doch schon winkte der freundliche Herr näher zu kommen. Sie konnte nicht Widerstehen und folgte der Einladung. Herr Müller, der ihr die Müdigkeit ansehen mochte, hieß sie auf eine Bank niedersitzen. Auf seine Frage, was sie denn in der Hitze Nötiges zu besorgen habe, erzählte ihm Elli ihre Sorgen, und wohl gab es keinen teilnehmenderen Zuhörer als ihn. Er tat hastig eine Frage nach der andern. Elli beantwortete sie alle der Wahrheit gemäß. Sie erzählte von der traurigen Lage der Mutter, von ihrem früheren Reichtum, von ihrem Wohnen in New York, ihrer Übersiedelung nach Deutschland. Es war, seit die Mutter ihr dies alles anvertraut, nie über ihre Lippen gekommen, ausgenommen Tante Elfrieden gegenüber. Wie kam es, daß sie diesem Herrn, der ihr fremd war, alles offenbarte? ES war vielleicht die Hoffnung, ihn dadurch geneigt zu machen, ihnen das leerstehende Häuschen zur Benutzung zu überlassen. Sie merkte nicht, wie er immer erregter wurde, je länger sie sprach. Als sie schwieg, sagte er:

»Ich komme gleich wieder, warten Sie.« Mit hastigen Schritten ging er in das Haus.

Sie saß auf der Bank im kühlen Schatten der Ulme, hörte die Vöglein in den Zweigen singen und den Wind leise durch die Blätter säuseln. Das einförmige Plätschern des Springbrunnens machte so müde, sie hatte schon ein paarmal genickt und auf einmal war sie fest eingeschlafen. Wie lange sie geschlafen hatte, wußte sie nicht. Sie hatte nicht gemerkt, daß Herr Müller wieder kam und sie lange mit liebevollen Blicken betrachtete. »Mein geliebtes Kind, meine Elli,« hatte er geflüstert, dann war er schnell fortgeeilt, um seine Bewegung zu verbergen. Als Elli erwachte, schaute sie verwundert um sich. Die alte Wirtschafterin in der Strichhaube stand neben ihr mit einem kühlenden Getränk. »Nehmen Sie dies, junges Fräulein, das wird Ihnen gut tun auf dem Wege. Der Herr läßt Ihnen sagen, er werde Ihnen Nachricht geben wegen der Wohnung.«

Ein Hoffnungsstrahl durchfuhr Elli. Sie hatte ihn nicht eigens gebeten, aber vielleicht war sein Herz durch ihre Erzählungen gerührt worden.

Am Abend kam eine Karte an den Doktor von Herrn Müller. Er schrieb, er habe sich eines andern besonnen, die Herrschaften, die das Häuschen zu mieten beabsichtigen, sollten morgen kommen und es sich ansehen. Wer war glücklicher als Elli. Sie umarmte ihre Freundinnen voller Jubel und erbat sich von Frau Doktorin die Erlaubnis, alle mitnehmen zu dürfen zur Besichtigung des Häuschens.

»Das hieße die Sache beim verkehrten Ende anfassen,« sagte die Doktorin. »Soll es Herrn Müller, der die Einsamkeit zu lieben scheint, wohl Mut machen, wenn der ganze Troß ankommt. Wir beide gehen zusammen, damit basta.« Elli wurde nun in den Augen der andern jungen Mädchen eine wichtige Persönlichkeit, sie war allein unter allen die Bevorzugte, die das Eldorado betreten durfte. Herr Müller empfing die Damen artig und zuvorkommend, er drängte mit Gewalt zurück, was ihn bei der Sache bewegte, und war der ruhige, besonnene Geschäftsmann. Er sagte der Doktorin, daß er nie daran gedacht habe, das Häuschen zu vermieten. Da dem jungen Mädchen jedoch viel daran zu liegen scheine, in der Nähe ihrer mütterlichen Freundin zu bleiben, so wolle er der Mutter das Häuschen um einen geringen Mietpreis lassen, stelle aber die Bedingung, daß sie sich lediglich auf das Häuschen und den kleinen Hof beschränken, da er die Einsamkeit liebe und nicht gern den Park von Fremden betreten wisse. Die Erfüllung dieser Bedingung schien Elli leicht: wie lieblich war die Wohnung im Vergleich zu der Mohrdorfer. Sie dankte Herrn Müller mit so innigem Händedruck, daß derselbe Mühe hatte, seine Bewegung zu verbergen. Es wurde verabredet, daß die Wohnung Anfang September bezogen werden sollte, und Elli war so glücklich und dankbar, daß sie ihren Genossinnen, die mit Spannung ihre Rückkehr erwarteten, einen Einzugskaffee versprach.

»Wir können zwar nicht im Park spazieren gehen, denn das ist verboten; aber hineinsehen können wir, so viel wir wollen, und das Häuschen hat reizende Zimmerchen und Kämmerchen, wir werden Platz vollauf haben,« erzählte Elli.

Die Mutter hörte mit Freuden von der Kunde und schrieb, daß sie sich heraussehne aus der ungemütlichen Wohnung der Tante. Lina sei ihre treue Stütze, dieselbe habe sich in der schweren Zeit trefflich bewährt und wolle durchaus mitziehen. Sie habe ihr aber gesagt, daß ihre Mittel künftig nicht reichen würden, ein Dienstmädchen zu halten, worauf dieselbe erwidert habe, dann wolle sie ohne Lohn dienen, verlassen tue sie die Frau nicht. Elise war gerührt durch diese Treue, die auch in der Not aushält. Es ging ihr wie ein Stich durch die Seele, wenn sie daran dachte, wie sie in der Not ihren Gatten verlassen und ihm die Treue nicht gehalten hatte, weil sie zurückschreckte vor Entbehrungen und Einschränkungen. Elli sollte acht Tage vor dem Umzug nach Mohrdorf kommen und der Mutter helfen. Es war gut, daß Ellis Lehrjahr bald um war, nun kam die Zeit, wo sie ihre Kenntnisse verwerten konnte.

Herr Müller ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Seine Seele war aufs tiefste bewegt; es war, als wollte Lob und Dank hervorquellen, doch jetzt wagte er noch nicht, sich der Freude hinzugeben, es lag noch viel dazwischen, was ihn mit Bangigkeit erfüllte.

Weib und Kinder, nach denen er so lange geforscht, waren gefunden, es unterlag keinem Zweifel. Was er vor einigen Wochen, als er Elli zuerst gesehen hatte, geahnt, war nun zur Gewißheit geworden, seit Elli ihm rückhaltlos von der Mutter und ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Die Bitterkeit gegen sein Weib, das ihn treulos verlassen, hatte schon längst einem tiefen Mitleid Raum gemacht, ja Liebe und Sehnsucht war in den Jahren des Alleinseins oft erwacht nach denen, die ihm die Nächsten waren auf der weiten Welt. Als er vor vielen Jahren die Freiheit wieder erlangt hatte, war ihm von allem Schweren, das ihn traf, das Schwerste, daß seine Gattin nicht in Treue seiner geharrt, sondern selbstsüchtig ihr Bestes gesucht hatte. Die erste Zeit war seine Tatkraft gelähmt, dann aber erwachte die alte Entschlossenheit, und nachdem er in Südamerika nach hartem Kampf ums Dasein, nach Jahren mühevoller Arbeit wieder zum reichen Manne geworden war, kehrte er nach Deutschland zurück, um seine zerstreute Familie aufzufinden. Es war nicht so leicht. Er vermutete mit Recht, daß Elise zu ihren Eltern gegangen sei. Er fand dieselben nicht mehr am Leben und hörte, daß Elise mit ihrem Kinde fortgegangen sei. Wohin? Nach Bergen, ihrem Heimatsort? Er stellte auch dort Nachforschungen an, doch vergebens. Er beschloß, vorderhand seinen Sohn erster Ehe von den Großeltern zurückzuerbitten. An die letzteren hatte er, als seine Verhältnisse sich besserten, geschrieben und sie gebeten, ihm den Sohn zu schicken. Der alte Herr Körner hatte seinem Enkel nichts davon gesagt, er wollte nicht, daß derselbe seine Studien unterbreche und aufs Ungewisse in den fremden Weltteil wandere. Erst im Nachlaß des Großvaters hatte Körner diesen Brief gefunden, was ihn zu der Reise nach Südamerika bestimmte. Nachdem Herr Brown durch Otto gewisse Kunde von seinem Sohn erlangt hatte, schloß er den Kauf des Hauses in Seehausen ab und betrieb von hier aus die Forschungen nach seiner Gattin. In den Adreßbüchern der Hauptstadt war keine Frau Brown verzeichnet, wohl aber gab es Braunes und Brauns die Menge. Als er nach langem Suchen endlich die Wohnung einer »E. Braun« ausfindig gemacht, hörte er daselbst, daß die Frau nebst Tochter die Hauptstadt verlassen habe und zu einer alten Tante gezogen sei. Wohin, konnte man nicht sagen. Er gab die Hoffnung nicht auf, und forschte weiter. Da sah er Elli das erste Mal. Jetzt wäre es ihm ein Leichtes gewesen, Klarheit zu erlangen, doch wollte er erst seiner Sache gewiß sein, bevor er sich zu erkennen gab. Er mußte und wollte erst prüfen. Um dies unerkannt tun zu können, ließ er sich Müller nennen und hatte auch seinen Geschäftsfreund gebeten, die Briefe an ihn unter diesem Namen zu richten. Wie glücklich war er in dem Gedanken, Elisens Not und Mangel abhelfen zu können. Aber erst, und diese Enthaltsamkeit mußte er sich auflegen um Elisens willen, wollte er mit eigenen Augen sehen, wie sich dieselbe in den kleinen, einfachen Verhältnissen zurechtfinden würde, er wollte sehen, ob die Jahre der Trennung auch in ihr Erkenntnis der Schuld gewirkt. Erst dann konnte er auf neues Glück, auf ein gesegnetes Zusammenleben hoffen. Er glaubte aus Ellis Erzählungen von der Mutter annehmen zu dürfen, daß sie sich geändert habe. Wie zutraulich war die Kleine gegen ihn gewesen, und wie glücklich machte ihn der Gedanke, sie bald als sein Kind an das Herz drücken zu können. Die Hoffnung belebte ihn so, daß die alte Wirtschafterin sich wunderte, wie so ganz anders der Herr seit kurzem geworden. Der Trübsinn hatte einer stillen Heiterkeit Platz gemacht und seine Güte und Freundlichkeit war fast noch größer als zuvor.


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