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Zwanzig Jahre sind wieder vorübergezogen. Wir kehren nicht wieder in das Städtchen ein, denn die Menschen, die wir kennen lernten, weilen nicht mehr dort. Die Alten sind zur ewigen Ruhe eingegangen, die Jüngeren stehen mitten im Kampf des Lebens und sind hier und da zerstreut. Wir werden ihren Spuren nachgehen und sie finden. Schauen wir zunächst in ein Krankenstübchen und Verkehren eine Weile mit der lieben Kranken, die still und geduldig auf ihrem Schmerzenslager liegt, nicht seit Wochen, sondern seit vielen Jahren. Sie harrt nicht der Gesundheit, die gibt's nicht mehr für sie, das weiß sie, sie hofft auf den Herrn, daß er bald komme und ihr aufschließe die goldenen Pforten des Himmelreiches, wo alle Schwachheit des Leibes abgetan sein wird, wo die Schmerzen und alle Not ein Ende haben.
Es sieht nicht öde und trostlos aus in dem Zimmer, das die Kranke bewohnt. Hell und freundlich ist's darin, die hellblauen Tapeten, die weißen Mullvorhänge, das liebe Sonnenlicht, das gerade jetzt mit voller Macht hereinströmt, alles ist dazu angetan, einen düsteren Eindruck gar nicht aufkommen zu lassen. Die Fenster sind weit geöffnet, um die warme Sommerluft herein zu lassen; draußen in den Zweigen der Linde, die auf dem freien Platz steht, an dem das Haus liegt, singen und zwitschern die Vöglein. Sie singen der lieben Leidenden ein Lied vor zu Gottes Ehre und Preis. Jetzt fängt auch ihr Vöglein, das sie im Käfig hat, leise an zu trillern. Sanft und lieblich macht er's, als wüßte er, daß das laute Schmettern die Herrin stört. Sie schaut ihn dankbar an mit ihren schönen, blauen Augen, aus denen himmlischer Friede spricht. »Gefangenes Vöglein,« sagte sie leise, »du bist doch fröhlich, wenn auch dein Flug gehemmt ist und die Flügel dir beschnitten sind. Es geht dir wie mir. Ich war auch ein munterer Vogel in Gottes freier Natur und bin nun schon lange gefangen im Käfig der Krankenstube. Ich kann aber auch singen wie du.« Ebenso leise und nicht minder lieblich tönte es von ihren Lippen, indem sie die magern und weißen Hände ineinander schloß: Mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein; ist voller Lust und Singen, sieht lauter Sonnenschein. Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ, das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist. –
»Hier ist ja einmal wieder Konzert heute morgen,« ertönte eine frische Stimme, und eine ältere, kräftig gebaute Dame trat ein mit einer Tasse Kraftbrühe und einem Ei für die Kranke. »Draußen singen die Vögel im Chor, und hier gibt's Einzelgesänge, abwechselnd vom Kanarienvögelchen und dir gesungen. Und dazu freier Eintritt! Was will man mehr?«
»Wenn man so beladen kommt zugunsten anderer, darf man wohl ungehindert eintreten, Auguste,« sagte die Kranke lächelnd. »Aber heute befreie mich vom Essen; ich habe gar keinen Appetit.«
»Ich möchte wissen, wovon du lebst, Elfriede. Du singst wie ein Vögelchen und ißt wie ein Vögelchen. Nimm ein wenig mir zulieb, du mußt dich heute besonders stärken, denn nachmittags bekommst du Besuch. Anna Burg, dein Patenkind, will um zwei Uhr aus der Residenz kommen und bis um fünf Uhr bleiben. Sie bringt ihre Freundin Elli mit.«
»Dann muß ich tapfer zulangen, damit die Kräfte ausreichen, das lange Sprechen greift mich an, aber es ist meine Arbeit, meine mir von Gott zugewiesene Arbeit. Laß mich nun einige Stunden ruhen; schließe die Läden ein wenig. Die liebe Sonne meint's gar zu gut jetzt. Wenn die Schwindelanfälle kommen und der bewußtlose Zustand eintritt, ist es bester, es ist dunkel um mich her.«
Auguste tat leise und geräuschlos nach den Wünschen der Kranken und verließ dann das Zimmer, um ihren häuslichen Pflichten nachzukommen.
Unsere lebensfrische Elfriede, die wir vor vielen Jahren mit ihren Freundinnen kennen lernten, die voll kühner Hoffnungen in das Leben hineinschaute, das ihr nur, wie sie meinte, Gutes bringen müsse, sie lag jetzt hier. Ihr Lebensweg war ein Leidensweg geworden, aber im Leiden hatte sie das Leben gefunden. Sie überdachte die langen Jahre. Wie war es so plötzlich über sie gekommen. In vollster Gesundheit hatte sie mit dem Vater eine Reise angetreten. Die Pferde wurden scheu, sie wurde aus dem Wagen geworfen und fiel so unglücklich, daß eine Verletzung des Rückenmarks erkannt wurde. Krank und elend wurde sie wieder ins Haus gebracht. Nun folgten Jahre der Not und des Elends für sie. Sie konnte und wollte es nicht glauben, daß sie lebenslang krank und siech darniederliegen sollte; sie lehnte sich auf gegen den Willen Gottes. Warum mußte gerade sie dies Unglück treffen, sie, die nicht gerne eine Stunde ruhig saß, die mit ihrem regen Geist und jugendkräftigen Körper viel zu wirken dachte? Diese inneren Anfechtungen waren fast noch schwerer als die äußere Not. Der arme Vater, der sein Kind über alles liebte, war, selber trostlos, wenig geeignet, den rechten Trost zu bieten. Da nahte sich Pastor Rost Elfriedens Krankenbett. Er konnte nun, an Früheres anknüpfend, sie zu dem weisen, der auch im Leid unsere Freude ist, und als sie den Heiland gefunden hatte, war sie glücklich in aller Not. Nun wußte sie, daß Gott es nicht böse mit ihr meinte, sondern daß er sie Liebeswege führte, daß er sie durch das Leiden zubereiten wollte für sein Reich. Auch die Klagen: »Gibt es denn gar nichts für mich zu tun auf dieser Welt?« hatten sich gewandelt in den fröhlichen Ausruf: »Ich habe Arbeit, viele Arbeit.« Das Leiden und Stillehalten war wohl eine saurere Arbeit als das Schaffen Gesunder im Schweiß ihres Angesichts, und dann hatte sie Fürbitte zu tun für einen großen Kreis lieber Freunde, Patenkinder, Angehöriger. Wenn sich ihre Hände betend schlossen für diesen oder jenen, so war das eine gesegnete Arbeit im Reiche Gottes. Wie viele Irrende hatte sie schon zurechtgebracht, wie viele Traurige getröstet, wie viele Bekümmerte aufgerichtet, wie viel Segen war schon von diesem Krankenbett ausgegangen, wie viel guter Samen ausgestreut, der zu goldenen Ähren erwachsen war. Ja wahrlich, sie lebte nicht vergebens, sie reifte nicht nur selber der Ewigkeit entgegen, sie zog alle, die mit ihr verkehrten, in ihr Liebes- und Glaubensleben hinein, zog sie mit hinan zum Vater und zum Sohn und war besonders bemüht, die Herzen der Jugend auf das ewige Ziel zu lenken.
Sie mochte auch jetzt der lieben Ihrigen betend gedenken, denn die Hände waren geschlossen und die Lippen bewegten sich leise. Sie gedachte sonderlich eines Patenkindes, das ihr durch einen Brief, den sie vor einigen Tagen erhalten hatte, ans Herz gelegt worden war. Lorchen oder, wie sie jetzt hieß, die Pastorin Rost, hatte vor einigen Jahren die Stütze ihres Lebens, den treusorgenden Vater ihrer Kinder verloren. Sie war nun Witwe und hatte eine schwere Lebensaufgabe zu lösen. Sie mußte nicht nur eine große Kinderschar mit geringen Mitteln ernähren, es lag ihr ob, die Söhne in die rechten Bahnen zu lenken an des Vaters Statt und den Töchtern eine treue Erzieherin zu sein. Der Herr aber, der Vater der Witwen und Waisen, bekannte sich zu ihr und segnete ihr schweres Tagewerk. Sie hatte manche Freude an den Kindern erlebt, doch blieben die Sorgen nicht aus. Eben jetzt drückte es sie schwer, daß einer ihrer Söhne sich zu keinem bestimmten Berufe entscheiden konnte. Otto war ein reichbegabter Jüngling, aber durch Altersgenossen in Bahnen gelenkt, die ihr nicht gefielen. Man hatte ihn zweifeln gelehrt an allem, was ihm sonst heilig und teuer war von Kindesbeinen an. Das betrübte die fromme Mutter tief, und da sie gewohnt war, alle ihre Sorgen in Elfriedens treues Herz zu schütten, so hatte sie ihr darüber geschrieben und sie gebeten, dieses ihres Paten in treuer Fürsorge zu gedenken. Als Knabe hatte Otto seine Patin öfter besucht, dem Kinde war es wohl gewesen bei der lieben Tante, die so schön zu erzählen wußte. Jetzt war er lange nicht bei ihr gewesen, und ihre Briefe waren unbeantwortet geblieben.
Während die liebe Kranke ihrer Pflegebefohlenen vor dem Herrn gedachte, verwaltete Auguste, ihre hilfreiche Base, des Hauses äußere Angelegenheiten. Wie schmuck und sauber hielt sie das kleine Heim, wie hübsch und geschmackvoll war das Gärtchen hinter dem Hause! Vor allen Dingen aber wartete sie ihres Amtes als Krankenwärterin mit großer Geduld und Treue. Als Elfriede erkrankt war, hatte der betrübte Vater an Auguste geschrieben und sie gebeten, die Pflege zu übernehmen. Doch ihr eigener Vater, ein Hauptmann im Ruhestand, hatte ihrer bedurft; erst nach dessen Tode war es ihr möglich, auf den Wunsch des Onkels einzugehen. Sie hatte das vom Vater ererbte Häuschen vermietet und war nach Bergen gegangen, um Elfriede zu pflegen und den Hausstand des Amtmanns zu führen. Als auch dieser die Augen schloß, war die hilflose Kranke, die keine Verwandte weiter hatte, ganz auf Auguste angewiesen. Das vom Vater ererbte Kapital reichte hin, sie vor Not und Mangel zu schützen. Auguste hatte außer dem Hause kein Vermögen; ein Käufer fand sich nicht, so beschlossen sie, nach Eichstädt überzusiedeln und das Häuschen zu ihrer lebenslänglichen Heimat zu wählen. Die Übersiedelung der Kranken hatte ihre großen Schwierigkeiten, doch ließ es sich damals noch eher ausführen als jetzt, wo Elfriede schon seit Jahren ganz bettlägerig war. Wie dankenswert war es, daß sie ihr eigenes Heim hatten! Das Häuschen lag vor dem Tor einer mittelgroßen Stadt. Es befanden sich noch andere, größere Landhäuser in der Nähe; dort herrschte Leben und Frohsinn, die Menschen wanderten ein und aus, sie kümmerten sich wenig um das kleine, verborgen stehende Häuschen. Und doch gab es viele in der Stadt, denen es wohl bekannt war. Das waren die Traurigen und Verzagten, die in Not und Bedrängnis standen. Wer Rat und Trost bedurfte, ging zu Tante Elfriede, die Geistlichen, die sonst Trost spenden müssen, holten sich Freudigkeit und geistige Erfrischung bei dieser Kranken. So ging ein Segen von ihr aus, der bis in die Ewigkeit reichte. Das Haus war eine Stätte des Friedens, eine Hütte Gottes unter den Menschen.