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12. Der Fremde

Elli blieb noch längere Zeit im Unklaren über des Langen Freundschaft mit Doktor Körner. Für uns aber ist es an der Zeit, zu erfahren, was in den drei Jahren aus dem jungen Rost geworden ist.

Als wir ihn kennen lernten, glich er mit seinem zerfahrenen, zweifelnden Herzen einem schwankenden Rohr, das vom Winde hin und her getrieben wird. Das glaubte er selbst aber nicht. Nein, er hielt sich für klug und weise, wollte alles mit seiner Vernunft begreifen, mit seinem Verstand ermessen. Die Mutter sah es mit tiefem Schmerz. Sie versuchte, ihm das Bild des verstorbenen Vaters vor Augen zu malen. Doch umsonst. Seit er einmal unmutig geäußert hatte, »von Frauenhänden lasse er sich nicht mehr leiten,« war sie still geworden, befahl aber seine Seele Gott. Da kam der unfreiwillige Besuch im weißen Häuschen. Elfrieden, die eine eigene Macht über die Herzen hatte, war es gegeben, die rechten Worte zu finden. Otto war seitdem still und in sich gekehrt. Was in ihm vorging, konnte die Mutter nur ahnen. Es gärte und wogte in ihm, es war eine Zeit des Kampfes, das merkte sie wohl. Sie drängte sich nicht in sein Vertrauen, ließ ihn aber mehr denn je ihre volle mütterliche Liebe fühlen. Ohne davon zu sprechen, wiederholte er seine Besuche im weißen Häuschen. Jedesmal kam er innerlich gestärkt und gefestigt zurück.

Er achtete mehr als sonst auf das stille Sorgen und Walten der Mutter, auf ihre selbstlose Liebe, die für die Kinder alles opferte, auf ihren fröhlichen Sinn, mit dem sie die Herzen der Kinder für die kleinen Freuden des Lebens empfänglich und dankbar machte.

Er sah mit Beschämung, wie seine jüngeren Geschwister der Mutter Liebe reichlich vergalten, wie sie selbst mit Freuden Opfer brachten, während er all die Jahre selbstsüchtig nur an sich gedacht und oft Ansprüche erhoben hatte, die er in anbetracht der beschränkten Verhältnisse nicht hätte machen dürfen. Er wurde weicher und rücksichtsvoller, blieb mehr daheim. Die Mutter merkte an allem, daß der Geist Gottes seine Arbeit begonnen hatte, und doch sah sie mit einem gewissen Bangen der Zeit entgegen, wo ihr Sohn sich zu einem bestimmten Beruf entscheiden sollte.

Eines Abends, die Geschwister waren zu Bett, die Mutter besserte Kleidungsstücke aus, kam Otto ungeheißen und setzte sich zu ihr.

»Mutter,« begann er, »Ostern rückt heran, es wird Zeit, daß ich mich zur Wahl eines Berufes entschließe.«

Sie blickte bange auf. Nun würde es kommen, was sie so lange bewegt hatte. Was würde es sein?

»Hat der Vater früher wohl den Wunsch geäußert, daß ich denselben Beruf ergreifen möchte, in dem er glücklich gewesen ist?«

»Ich möchte es lieber nicht sagen, um dich nicht zu etwas zu bestimmen, was gegen deine Neigung wäre.«

»Es könnte nur dazu dienen, mich in dem, was ich beschlossen habe, fester zu machen.«

»Dann muß ich dir allerdings sagen, daß es sein Lieblingswunsch war, sein Erstgeborener möchte Theologie studieren.«

»Du hast es mir nie gesagt, Mutter.«

»Weil dein Entschluß freiwillig sein sollte. Ein aufgezwungener Beruf kann fürs ganze Leben unglücklich machen. Die Entscheidung liegt ganz in deinen Händen.

Er schwieg eine Weile. »Mütterchen, würdest du dich freuen, wenn ich zu Ostern Studiosus der Theologie würde?«

Er las die Antwort aus dem strahlenden Blick, mit dem sie ihn ansah. Aber doch hielt sie es für ihre Pflicht, zu sagen: »Um meinetwegen sollst du dich nicht zwingen, nur wenn es freier, selbständiger Entschluß ist.«

»Ich will,« sagte er plötzlich, und in dem Ton seiner Stimme lag ein so männlicher Ernst, eine so entschiedene Festigkeit, daß die Mutter sah, es war keine augenblickliche Aufwallung, sondern ein in der Stille gereifter, überlegter Entschluß. Und doch warf das besorgte Mutterherz noch einmal ein:

»Hattest du nicht früher Neigung zum Studium der Medizin oder der Naturwissenschaften? Du kannst in jedem Beruf Gott dienen.«

»Ich dachte es mir schön, die Erde zu ergründen mit allem, was darauf und darin ist. Aber Tante Elfriede hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß die edelste aller Wissenschaften die ist, das Gold und Silber aus dem tiefen Schacht des Wortes Gottes zutage zu fördern, und seit ich angefangen habe, die Schrift zu erforschen, lerne ich verstehen, wie unergründlich die Tiefe ist, welche Schätze darin verborgen sind.«

»Wie würde sich dein seliger Vater freuen, wenn er diesen Tag erlebt hätte. Doch, Otto, sein Segen wird mit dir sein in Zeit und Ewigkeit.«

So war Ottos Entschluß an jenem Abend zur Reife gelangt, und nun waren drei Jahre vergangen, und er hat's nicht bereut. Nein, er dankt Gott für die gnädige Führung. Durch anhaltenden Fleiß hat er's so weit gebracht, daß er in Kürze die erste Prüfung zu machen gedenkt. Dann kommt die Zeit, wo er seiner Mutter zu vergelten hofft, was sie an ihm getan. Tante Elfriede ist voll Lobes und Dankes gegen Gott, daß Otto für den Heiland gewonnen ist, daß er ihn mit hinausgenommen hat ins Leben, das also ein gesegnetes sein wird.

Mühselig waren die Studienjahre gewesen, es ging knapp her und Otto mußte sich einschränken. Sonderlich dann, als er eine fremde Universität bezog. Doch ward ihm durch Stipendien und gute Freunde manche Erleichterung zuteil.

Durch Zufall hatte er in der fernen Universitätsstadt ein Stäbchen in einem Hause inne, das Doktor Körners Großvater gehörte. Dadurch wurde er mit dem jungen Mann bekannt. Doktor Körner war, da seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war, als kleines Kind zu den Großeltern gekommen. Da sein Vater sich sehr bald wieder verheiratete, und sein Beruf ihn in die weite Welt führte, so hatten die Großeltern den Knaben bei sich behalten, um so mehr, als die junge Frau an alles andere eher dachte, als sich mit dem Kinde der ersten Frau zu beschweren. Was aus den Eltern geworden war, ob sein Vater überhaupt noch lebte, wußte der junge Mann nicht anzugeben. Seit vielen Jahren fehlte jegliche Kunde. Es mußten wohl traurige Verhältnisse sein. Er hatte bei den Großeltern volle Liebe und vermißte die Eltern nicht.

Als Otto seine Bekanntschaft machte, war er bereits Hilfsarzt in der Klinik des Doktor Burg in G., einige Stunden von der Stadt, in welcher Otto studierte. Durch angestrengtes Studium war Körners Gesundheit angegriffen und er sah sich gezwungen, einige Monate vollständig auszuruhen. In dieser Zeit der Erholung, die er im großelterlichen Hause zubrachte, lernte Otto Heinrich Körner kennen und befreundete sich mit ihm. Der alte Herr Körner, der Otto seines bescheidenen Wesens halber gern hatte, lud ihn oft ein, und so entspann sich zwischen den jungen Leuten eine Freundschaft, die um so fester war, als sie in ihren Ansichten übereinstimmten.

Nun war kürzlich Körners Großvater gestorben, und da auch die Großmutter tot war, so stand der junge Mann ganz allein und es tauchte in ihm immer mehr der Wunsch auf, etwas über den Verbleib seiner Eltern zu erfahren. Aus dem Nachlaß seines Großvaters hatte er manches ersehen, was er noch nicht wußte. Es mochte nichts Erfreuliches sein, es hatte aber entschieden seinen Entschluß, den Ruf als Schiffsarzt auf einem größeren Schiff, das nach Südamerika ging, anzunehmen, beeinflußt. Sein Freund Otto wußte alles, sie hatten manche ernste Stunde miteinander verlebt. Der Freund hatte dem Freund vertraut, daß das Verlangen, seinen Vater, den er nie gekannt, in fernen Landen aufzufinden, ihn auf die weite See getrieben hatte.

Doktor Körners Abreise war, wie wir wissen, bereits erfolgt. Otto, der den Tag der Einschiffung erfahren hatte, machte es möglich, auf zwei Tage nach dem Seebad zu kommen, wo der Bruder seiner Mutter, Pastor Kunze, wohnte, und bei dieser Gelegenheit hatte er Elli, die vor einigen Jahren im Abteil mit ihm zusammen gefahren war, wieder gesehen.

Er hatte das junge Mädchen, welches die nichts weniger als schmeichelhafte Äußerung über ihn getan hatte, nicht vergessen. Im Gegenteil, er hoffte immer, wieder einmal mit ihr zusammenzutreffen, um das kleine Notizbuch, das er als ihr Eigentum achtete, zu gelegener Zeit in ihre Hände zurückzuliefern. Er freute sich schon im voraus über das erstaunte Gesicht der Kleinen, wenn gerade er ihr das Büchlein feierlichst überreichen würde.

Und nun hatte er sie gesehen, gerade da er es am wenigsten vermutete. Und welch seltsame Lage! Er hatte ihr mit stummer Verbeugung ein altes Familienerbstück überreicht, innerlich empört über des Onkels sorgloses Beginnen. Das junge Mädchen schien ein reichliches Maß Dreistigkeit zu besitzen, mir nichts dir nichts eine fremde Familie um alte Familienandenken anzugehen! Und doch wieder: der Gesichtsausdruck war ein so demütiger, hilfesuchender gewesen, als sie die Kanne in Empfang nahm. Es war zu dumm, daß die Sache sich gerade in der Stunde seiner Abreise zutrug. Er hätte am liebsten Hut und Stock hingeworfen und wäre da geblieben, um dieser Geschichte näher nachzuforschen. Jedenfalls mußten Onkel und Tante mit der Familie bekannt sein, sonst hätte das junge Mädchen so etwas gar nicht verlangen können. Aber der Onkel hatte auf dem Wege zum Dampfschiff jede Bekanntschaft mit dem jungen Mädchen aufs hartnäckigste geleugnet. Freilich, der Onkel war sehr zerstreut, er konnte, wenn er in Gedanken war, seinen liebsten Freunden fremd begegnen. Hätte er nur die Tante gefragt! Was konnte es aber helfen. Ihn ging die Sache nichts weiter an. Aber Tante Philippine würde sich grämen. Sie hing an allem Alten mit wahrer Leidenschaft; sie sollte es erfahren, damit sie den Onkel beeinflusse, künftig vorsichtiger zu sein.

Solche und ähnliche Gedanken hatten Otto beschäftigt, als er auf dem Dampfschiff den Fluß hinauf fuhr, unbekümmert um die laute, geschwätzige Gesellschaft, die ihn umgab. Dann folgte die sechsstündige Eisenbahnfahrt; darauf ein Ausruhen bei der geliebten Mutter, die ihn mit Sehnsucht erwartete, damit er seine Ferien bei ihr und den Geschwistern verlebe.

Erst Mitte Oktober kehrte er in die Universitätsstadt zurück. Obwohl das Haus des alten Herrn Körner durch Verkauf in andere Hände übergegangen war, konnte Otto in demselben wieder ein Stübchen erlangen. Es war ihm lieb um der Erinnerungen willen.

Er hatte rechts im Unterstock ein einfenstriges Zimmer inne, die angrenzenden waren auch an Studenten vermietet, mit denen er jedoch nicht in nähere Berührung kam. An den meisten Abenden der Woche war er mit seinen Studiengenossen zusammen, Sonnabends war er zu Hause und verbrachte die Abende mit Arbeiten und Briefschreiben oder er spielte auf der Zither. Auf diesem Instrument war er Meister. Er hatte durch die Töne, die er demselben zu entlocken wußte, sonderlich das Herz des alten Körner erobert. Oft mußte er ihm ein oder das andere Lieblingslied vortragen. Nun war der alte Herr nicht mehr, sein Enkel weilte in weiter Ferne. Otto vermißte beide.

Es war an einem Sonnabend im Südherbst. Rauhe Winde wehten draußen und jagten das gelbe Laub von den Bäumen. Auf der Straße war's still geworden und das Laternenlicht flackerte trübe hin und her; da irrte ein Fremder, der in seinem Aussehen und nach seiner Kleidung den besten Ständen anzugehören schien, suchend durch die Straßen. Er blieb an den Ecken stehen, um die Namen zu entziffern und bog endlich in eine Straße, die ihm die richtige zu sein schien, ein. Er sah nach den Hausnummern und stand vor einem mittelgroßen Hause still, angelockt durch ein wundervolles Zitherspiel, das, wenn die Windstöße eine Pause machten, hell und klar aus einem der unteren Zimmer drang. Der Fremde stieg die steinernen Stufen des Hauses hinan. Doch der trübe Schein der entfernten Straßenlaterne ließ ihn dieselben nicht deutlich erkennen. Er stolperte, glitt aus und fiel die Stufen so unglücklich, daß es die Verletzung eines Fußes zur Folge hatte.

Mit großer Mühe richtete er sich auf und mit Hilfe seines Stockes gelangte er bis zu Ottos Tür. Er klopfte, und Otto, der schon Geräusch im Hause vernommen hatte, öffnete dieselbe.

»Gestatten Sie einem Fremden, der einen kleinen Unfall gehabt hat, Ihre Gastfreundschaft ein Weilchen in Anspruch zu nehmen, und auch Ihre Kräfte, mein junger Herr.«

Mit diesen Worten lehnte er sich auf Ottos Schulter. Der letztere bemerkte, daß der Fremde hinkte und führte ihn sorgsam bis an sein Sofa, wo der Unbekannte erschöpft niedersank. Otto bat ihn, den Fuß besichtigen zu dürfen, doch meinte der Fremde, wenn der junge Mann kein Mediziner sei, würde er lieber bitten, nach einem Arzt zu schicken, damit gleich das rechte geschehe. Er könne sich hier nicht lange aufhalten, und in der Fremde krank liegen, sei nicht angenehm.

Otto schickte einen dienstbaren Geist des Hauses zum nächsten Arzt, der alsbald erschien und eine Verrenkung des Fußes feststellte. Er legte einen Verband an, verschrieb regelmäßige Einreibungen und empfahl dringend sofortige Übersiedelung in einen Gasthof.

Als er sich entfernt hatte, fragte der Fremde hastig, ob nicht ein alter Herr Körner, früherer Rittergutsbesitzer, hier wohne. Otto teilte ihm mit, daß derselbe allerdings in diesem Hause, das sein Eigentum gewesen sei, gewohnt habe. Er sei aber vor kurzem gestorben und das Haus sei verkauft.

Der Fremde seufzte leise: »Zu spät,« legte die Hände vors Gesicht und war eine Weile ganz still. Er schien nicht willens, Otto weitere Aufschlüsse zu geben. Nun kam der bestellte Wagen, und unter Ottos Beistand wurde der Fremde bald in einem bequemen Zimmer des nahen Gasthofes untergebracht. Nachdem Otto ihm beim Entkleiden behilflich gewesen, fragte er ihn, ob er etwa wünsche, daß er den Seinigen Kunde gäbe, worauf der Fremde erwiderte:

»Den Meinigen? Junger Freund, wenn ich Angehörige hätte, wäre ich heute gewiß nicht hier. Doch lassen wir das. Geben Sie mir etwas Warmes zu trinken, es fröstelt mich. Dann möchte ich versuchen zu ruhen, ich bin sehr müde.«

Otto besorgte dem Fremdling eine Erquickung und beschloß, so lange zu bleiben, bis der Kranke zur Ruhe gekommen sei. Er setzte sich an den Tisch, stellte die Lampe so, daß das Licht den Kranken nicht traf und ließ den Gedanken freien Lauf. Was konnte es mit dem Fremden für eine Bewandtnis haben? Warum hatte er nach dem alten Körner gefragt und war so erschrocken und traurig gewesen, als er von dessen Tode hörte? Sollte er mit der Familie in nahem Zusammenhang stehen? Sollte er – doch nein, das konnte wohl nicht sein – von Heinrichs Vater Kunde bringen?

Der Fremde ließ von Zeit zu Zeit tiefe Seufzer hören. Endlich wurde er ruhiger und fiel, von Erschöpfung und Müdigkeit überwältigt, in einen tiefen Schlaf.

Am andern Morgen klagte er über vermehrte Schmerzen im Fuß. Der Arzt mußte aufs neue verbinden und empfahl Schonung und Ruhe. Otto mußte ihm viel von seiner freien Zeit opfern und tat es gern. Einen kranken Fuß haben und doch dabei gesund sein, ist eine harte Geduldsprobe, zumal für jemand, der gewöhnt ist, tätig zu sein. Otto fühlte sich zu dem Fremdling hingezogen. Es war ihm, als müsse derselbe in irgend einem Zusammenhang mit seinem Freund Heinrich stehen, doch verbot ihm sein Zartgefühl darauf anzuspielen. Seine Zither, die während des arbeitsreichen Semesters oft unbeachtet liegen bleiben mußte, kam jetzt zur vollen Geltung. Er mußte sie dem Fremden zulieb mitbringen und sich täglich darauf hören lassen.

Eines Abends, die letzten Töne eines Liedes waren verklungen, sah der Fremde Otto lange und ernst an, als wollte er ihn prüfen, ob er nicht zu jung sei, von traurigen Erlebnissen erzählen zu hören. Plötzlich fragte er hastig:

»Sagen Sie, hatte der vormalige Besitzer des Hauses, in dem Sie wohnen, einen Sohn?«

»So viel ich weiß, nicht,« antwortete Otto. »Nur eine Tochter, die Mutter meines Freundes.«

»Die Mutter Ihres Freundes,« rief der Fremde erregt. »Haben Sie die Mutter gekannt?«

»Nicht doch,« versetzte Otto. »Sie ist kurz nach der Geburt Heinrichs gestorben. Er ist von seinen Großeltern erzogen worden.«

»Und der Vater?« sagte der Fremde mit gepreßter Stimme, die Hand vors Gesicht legend.

»Den Vater hat er gar nicht gesehen, nie gekannt. Der soll sich sehr bald wieder verheiratet haben und ins Ausland gegangen sein, woher er stammt. Mein Freund ist von den Großeltern angenommen, sie haben ihm volle Liebe angedeihen lassen und ich glaube, er hat seinen Vater wenig vermißt.«

»So ist es, wenn Eltern ihre Pflichten vergessen; wie können sie Liebe ernten, wo sie keine säen. Sie sagten, der Enkel des Herrn Körner sei Ihr Freund. Erzählen Sie von ihm, es ist mir wichtig. Wo hält sich der junge Mann auf, was für einen Lebensberuf hat er ergriffen? Er ist wohl mehrere Jahre älter als Sie?«

Otto bejahte das letztere und erzählte ohne Rückhalt, was er von seinem Freunde wußte, wie sie noch gar nicht so lange miteinander bekannt seien, wie aber dennoch die Freundschaft eine feste und dauernde sei, trotz des verschiedenen Lebensberufs, und wie großen Schmerz ihnen beiden die jetzige Trennung verursacht habe.

»Wo weilt denn Ihr Freund?« fragte der Fremde erregt.

»Er ist Schiffsarzt eines größeren Seeschiffes, das nach Südamerika bestimmt ist. Einesteils wollte er seine Kenntnisse erweitern, andernteils hoffte er im fernen Weltteil eine Spur – Otto stockte – seines Vaters zu entdecken.«

»Und der Vater geht nach Europa, um endlich seinen Sohn aufzusuchen,« rief der Fremde leidenschaftlich. »Mein Gott, warum mußte es so kommen? Gerade, wo ich meinem Sohn zu begegnen hoffe, gehen unsere Wege weiter denn je auseinander. Das ist aber die gerechte Strafe für den Leichtsinn früherer Jahre, der mich meine Vaterpflichten vergessen ließ. Aber, mein junger Freund, Sie trauen es mir nicht zu, daß nur Lieblosigkeit und Kälte an meiner Versäumnis schuld sind. Nein, schwere, harte Schicksalsschläge haben mich betroffen. Ich werde Ihr junges Herz nicht damit belasten, aber glauben Sie mir: die Liebe und Sehnsucht nach meinem Erstgebornen ist beständig groß und mächtig in mir gewesen. Der Schmerz, fern von ihm weilen zu müssen, hat immer an meinem Herzen genagt. Seine teure, mir unvergeßliche Mutter wurde mir nach kaum einjähriger Ehe durch den Tod entrissen. Die Eltern, außer sich vor Schmerz über den Verlust der einzigen Tochter, nahmen das teure Vermächtnis, das sie hinterlassen, zu sich, und ich, der ich nur auf einige Jahre nach Deutschland gekommen war in Geschäften des großen Handlungshauses, das mein Vater in Neuyork inne hatte, dachte nicht anders als mein teures Kind einst mit hinüber nehmen zu können. Da lernte ich etwa ein Jahr nach dem Tode meiner Frau ein junges Mädchen kennen, das äußerlich eine wunderbare Ähnlichkeit mit der Verstorbenen hatte. Das zog mich an und erweckte in mir den Gedanken, daß sie und keine andere mich am besten würde trösten können. Ohne lange zu prüfen, nur nach dem Äußern urteilend, band ich mich. Erst nachdem wir verlobt waren, erkannte ich nach näherer Bekanntschaft, daß ihr Inneres nicht dem Äußeren entsprach. Sie war kalt und berechnend und brachte dem Kinde der ersten Frau kein freundliches Herz entgegen. Die Großeltern, die das Kind über alles liebten, wollten es nicht fortgeben, und da sich bei meiner zweiten Frau keine große Neigung fand, das Kind zu nehmen, so beharrten die Großeltern um so hartnäckiger darauf, es zu behalten. Es war ein harter Kampf für mich. Meine Zeit in Deutschland war abgelaufen, ich mußte hinüber an meinen Platz. Die Frau, die auf ein glänzendes Los an meiner Seite hoffte, folgte mir. Der Knabe blieb zurück. Ich wußte ihn wenigstens von Liebe umgeben und mußte die Dinge ihren Lauf gehen lassen. Daß ich erst jetzt, nach vielen Jahren des Kampfes und der Not dazu komme, meinen Sohn aufzusuchen, ist nicht meine Schuld, Gott weiß es. Lassen Sie mich über alles Weitere schweigen, es taugt nicht für Ihre Ohren.«

Otto hatte mit wachsender Spannung zugehört. Als der Fremde schwieg, ergriff er seine Hand und sagte:

»Mein Herr, wenn Heinrich das geahnt hätte, würde er nicht abgereist sein. Doch nach Jahresfrist kehrt er zurück, können Sie ihn nicht hier erwarten?«

»Ich bin ein freier Mann. Drüben fesselt mich nichts. Hat mir Gott noch einige ruhige, ich will nicht sagen glückliche Jahre beschert, so will ich sie hier in Deutschland in der Nähe meines Sohnes verleben. Ich gehe mit dem Gedanken um, mir in schöner, friedlicher Gegend ein Heim zu schaffen, habe auch schon in einem Städtchen, das mir seiner Lage nach sonderlich gefiel, Unterhandlungen wegen eines leerstehenden Hauses angeknüpft. Doch es ist alles noch unsicher. Ich wollte erst über den Verbleib meines Sohnes hören und hätte, wäre er schon ansässig gewesen, meinen künftigen Wohnort durch ihn bestimmen lassen. Nun, da ich ihn nicht gefunden habe, ist's gleich, wo ich armer ruheloser Mann meine letzten Tage beschließe,« fügte er traurig hinzu.

»Aber Ihr lieber Sohn wird wiederkehren, und mit ihm werden Sie glücklich sein,« rief Otto. Und nun schilderte er in beredten Farben die edlen Eigenschaften seines Freundes, sagte ihm auch, wie derselbe sich oft nach dem Vater gesehnt habe, obwohl er ihn nie gesehen. »Er hoffte stets, noch einmal von seinem Vater in die Arme geschlossen zu werden, während ich, der ich den Vater früh durch den Tod verloren habe, weiß, daß ich ihn auf Erden nie wieder haben werde.«

Der Fremde erkundigte sich nun zum erstenmal teilnehmend nach Ottos Familienverhältnissen. Da gab's nichts zu verheimlichen. Mit Stolz und Freude erzählte er von den Eltern. Zwar mit Wehmut von dem frühen Heimgang des Vaters, aber mit um so größerer Liebe von der Selbstlosigkeit und Treue der Mutter, die in allem ihren Kindern ein leuchtendes Vorbild war, die die Kinder zur Genügsamkeit und Zufriedenheit erzog, sie aber dabei für die kleinen Freuden des Lebens empfänglich und dankbar machte, die es verstand, das Leben zu schmücken, obwohl sie selbst viel Kreuz und Widerwärtigkeiten zu tragen hatte.

Der Fremde hörte schmerzlich bewegt zu. »So ist's recht,« sagte er. »Das ist eine Mutter nach dem Herzen Gottes. Kinder, die so beeinflußt werden, müssen wohl geraten.«

Otto nickte und sah ernst vor sich hin. Er wußte es am besten, was die Gebete einer frommen Mutter, die Worte einer treuen Patin zu bedeuten hatten.

Von diesem Tage an war die Freundschaft zwischen dem Fremden und Otto besiegelt. Seit letzterer wußte, daß der Unbekannte der Vater seines Freundes war, hatte er ihn schon um seinetwillen lieb. Er mochte kaum an die Zeit denken, wo derselbe die Stadt verlassen und der Verkehr mit ihm ein Ende haben würde.

Der Fuß heilte. Schon konnte der Fremde im Zimmer umhergehen, bald einen Gang ins Freie wagen. Otto meinte, wenn der Herr noch keinen festen Wohnsitz habe, solle er doch für die nächste Zeit hier bleiben. Doch derselbe erwiderte, daß er verschiedene Geschäfte abzuwickeln habe, die keinen Aufschub duldeten. Auch sei er nun doch entschlossen, den Kauf des Hauses in Seehausen abzuschließen. Er habe Nachricht, daß sich noch ein Käufer gemeldet habe, doch daß ihm, als dem zuerst gekommenen, die Vorhand gelassen werden sollte.

So schieden die beiden, die sich vor einigen Wochen noch nie gesehen hatten, als die besten Freunde.

Bald teilte der Fremde Otto mit, daß er den Besitz des bewußten Hauses angetreten habe, und gab ihm gleichzeitig seine vollständige Adresse an. Als Otto dieselbe gelesen hatte, war er hocherfreut, denn das Haus lag in einer Stadt, wo eine Schwester seiner Mutter, Tante Philippine, die an einen Doktor Willers verheiratet war, wohnte. Doch wir haben unserer Erzählung vorgegriffen, gehen wir um einige Monate zurück.


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