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19. Im weißen Häuschen

Heiß schien die Julisonne auf das weiße Häuschen. Die grünen Rolläden waren geschlossen und im dunklen Raum lag Elfriede mit gefalteten Händen. Tante Auguste waltete draußen und sorgte für ein gutes Mittagbrot. Liebe Gäste sollten einkehren, in Kürze wurden sie erwartet. Otto wollte der Tante vor Antritt seiner Stelle einen Abschiedsbesuch machen. Jetzt ertönten feste Männertritte.

»Willkommen, Otto,« rief Tante Auguste, »wo ist die Mutter?«

»Sie kommt mit dem ganzen Troß nach. Tante Gustchen, du hast uns alle haben wollen; wenn's zu euch geht, bleibt keins dahinten. Mutterchen kann bei der Hitze nicht so schnell gehen, ich bin vorausgeeilt, um zu melden, daß wir da sind.«

Und nun kam Lorchen mit ihren Kindern. Johanna und Martha waren zu schlanken Mädchen erwachsen, aus den Knaben waren stattliche Gymnasiasten geworden. Ein fröhliches Begrüßen fand vor dem Häuschen statt. Sobald Tante Auguste die Wohnstube öffnete, traten Mutter und Kinder leise auf, auch dämpften sie die Stimmen. Die Liebe zur kranken Tante ließ sie diese Rücksicht nicht vergessen. Lorchen hatte das Vorrecht, schon jetzt Elfrieden begrüßen zu dürfen, sie trat unangemeldet ein und viel war's, was sich die Freundinnen mitzuteilen hatten.

»Heute,« sagte Elfriede, »feiern wir unsres Otto Abschiedsfest. Lorchen, wie freue ich mich für unsren lieben Jungen, daß sich eine so vorteilhafte Stelle für ihn gefunden hat.«

Lorchen nickte zustimmend und sprach sich gegen Elfriede aus, wie Otto die Freude und der Stolz ihres Lebens geworden sei, wie er seinem Vater immer ähnlicher werde und wie sie so glücklich sei.

Auch Elfriede sprach ihre Freude aus und wie sie Gott danke, der aus dem Sorgenkind ein Kind Gottes gemacht habe. Dann erzählte sie Lorchen, wie sie noch ein Sorgenkind gehabt habe, das sie stets auf betendem Herzen getragen. Das sei ein junges Mädchen, die ihr fremd ins Haus geflogen sei, aber bald durch ihr empfängliches Gemüt ihre Liebe erobert habe und nun ihr teures Herzenskind geworden, das sich immer lieblicher entfalte, wie sie aus ihren Briefen merken könne. Diese Elli sei niemand anders, als das Kind ihrer beiderseitigen Freundin Elise. Nun berichtete Elfriede dem erstaunten Lorchen von den traurigen Familienverhältnissen, von Elise, die jetzt bei der Mohrdorfer Tante weilte, und von Elli, die bei Philippine die Wirtschaft lerne.

Lorchen traute ihren Ohren kaum ob der wunderlichen Mär. Ihr Otto war kürzlich in Seehausen gewesen, der mußte sie ja gesehen haben, ihrer Elise Kind. Aber es gab viele junge Mädchen in Seehausen bei der Tante. Otto war stets ihnen gegenüber zurückhaltend gewesen, er würde vielleicht kaum wissen, welche gemeint sei.

Elfriede erzählte weiter, daß sie Elise hatte bitten lassen, sie zu besuchen, aber bis jetzt sei sie nicht gekommen. Elli habe aber geschrieben, daß die Mutter anfange, in ihrer Not Gott zu suchen und aus seinem Wort Trost zu schöpfen. Lorchen war tief bewegt von allem, was sie über der Freundin trauriges Los hörte, Elfriede aber nahm ihre von der Arbeit gehärtete Hand in ihre weichen Hände und sagte: »Lorchen, wenn auch Elise für den Heiland gewonnen würde, dann reifen wir drei mit Gottes Hilfe der Ewigkeit entgegen, eine früher, die andern später.«

Lorchen strich ihr über die schmalen Wangen und sagte: »Herzensfriede, du hast zu viel gesprochen, ruhe jetzt aus, ich will sehen, was Auguste mit meinen Kindern vorhat.«

Ja, die hatte herrliche Dinge vor. »Otto, du bist lang,« hatte sie gesagt, »steig einmal auf den Kirschbaum und pflücke von den saftigen Kirschen einen Korb voll zum Mittagstisch, die Brüder helfen dir, sie sehen, was sie von der Erde aus erlangen können. Verirrt sich eine in den Mund, bin ich auch nicht böse.«

Johanna und Martha aber hatte sie mit sich genommen und ihnen ihre Schränke erschlossen. Wenn Tante Auguste die Schrankschlüssel holte, schlugen der jungen Mädchen Herzen vor Freude. Es war immer etwas darin, was sie mit hinwegnehmen durften. So bekam Martha, die geäußert hatte, daß sie der Mutter gern ein wollenes Tuch häkeln möchte, ein großes Paket Wolle geschenkt und war überglücklich. Für Johanna, die ein Kissen zu sticken beabsichtigte, fand sich Wolle und Seide, wie sie es wünschte. Tante Auguste heimste auch gern ein und machte hier und da Gelegenheitskäufe, aber nicht die die Mohrdorfer Tante andern zur Last, sondern zur Freude. Sie spendete so gern und hieß im Städtchen die Schenktante.

Nachmittags ließ Elfriede Lorchens Kinder zu sich kommen. Otto, der Älteste, sollte gegen Abend Zutritt zu ihr haben. Das Kirschenpflücken hatte solchen Beifall gefunden, daß es nach dem Kaffee noch einmal wiederholt wurde, diesmal unter Johannas und Marthas Beteiligung. Sie waren im besten pflücken, Otto reichte eben seinen vollen Korb der ältesten Schwester mit der Weisung, ihn im Hause auszuschütten und ihn leer zurückzubringen, da rief Karl plötzlich: »Es kommt eine schwarze Dame aufs Haus zu.« Die jungen Mädchen unter dem Kirschbaum drehten sich verlegen um, während Otto, der sich von Tante Gustchen wieder Vaters Hausrock zur Schonung des eigenen erbeten hatte, sich schleunigst in das Innere des Baumes zurückzog.

»Es ist ein wunderhübsches Mädchen,« flüsterte Kurt, »sie geht jetzt ins Haus.« »Da bleiben wir einstweilen beim Pflücken, bis die Dame sich empfohlen,« sagte Otto, »es sind noch prächtige Kirschen an der Spitze.«

Drinnen im Hause aber sagte eine Stimme: »Elli, mein liebes, armes Kind, wo kommst du her?« Tante Auguste umschlang das junge Mädchen und nahm sie mit ins Wohnzimmer, wo Lorchen auf dem Sofa saß.

Elli weinte leise und fragte, ob sie Tante Elfriede sehen könnte.

»Sie hat heute schon viel gesprochen,« meinte Auguste, »aber sehen sollst du sie. Du hast wohl Trauriges erlebt, mein Liebling,« sagte Auguste, auf die schwarze Kleidung deutend.

»Die Tante ist plötzlich gestorben,« schluchzte Elli. »Sie kränkelte in letzter Zeit immer, aber wir glaubten das Ende nicht so nahe.«

»Was wird dann aus der Mutter?«

»Wir wissen noch nichts. Vorderhand bleibt sie in Mohrdorf, um den Nachlaß der Tante zu ordnen. Ich gehe nach Seehausen zurück. Da ich heute abend noch dort ankommen möchte, muß ich mit dem Fünfuhrzug zurück.«

Elli ging zu Elfriede, während Auguste Lorchen auf deren Frage, wer das reizende Mädchen sei, Auskunft gab.

»Meine liebe, liebe Tante,« sagte Elli, immer wieder Elfriedens Hände küssend, »wie habe ich mich nach dir gesehnt. Wir haben traurige Tage erlebt, es kam alles so plötzlich.«

Elfriede ließ sich erzählen und nahm an allem innigen Anteil. Dann erzählte sie Elli, wie sie heute gar lieben Besuch habe. Ein Pate von ihr sei da mit Mutter und Geschwistern, es sei der junge Theologe, von dem sie Elli schon öfter erzählt habe.

Ja, Tante Elfriede hatte von einem Paten immer mit besonderer Liebe gesprochen. Seinen Namen hatte sie nie genannt, das tat ja nichts zur Sache, aber aus allem hatte sie gemerkt, daß es ein gescheiter und frommer Herr sein müsse, von dem Elfriede so gern erzählte.

»Ich muß diesen meinen lieben Paten heute noch sprechen und Abschied von ihm nehmen; er geht auf mehrere Jahre ins Ausland. Meine Kräfte sind schon erschöpft, geh jetzt ins Wohnzimmer, meine teure Elli, und zürne mir nicht, wenn ich's heute kurz mit dir mache. Ich schreibe dir bald.«

Als Elli ins Wohnzimmer zurückkam, erhob sich die fremde Dame, die sie erst flüchtig begrüßt hatte, kam auf Elli zu, schloß sie in ihre Arme und küßte sie herzlich. »Das müssen Sie sich schon von mir gefallen lassen,« sagte sie freundlich. »Ihre Mutter war meine liebe Jugendfreundin.«

»Sie sind wohl Lorchen – verzeihen Sie,« stotterte Elli verlegen.

»Freilich bin ich Lorchen, für dich Tante Lorchen, mein liebes Kind. Hat die Mutter wohl von Lorchen erzählt?«

»Ja, sehr viel und von Elfriede.« Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, so wurde sie glühend rot und sagte erregt: »Tante Elfriede, die arme kranke Tante, ist doch nicht etwa die andere Freundin von der Mutter? Aber nein, die war sehr gesund und lebensfrisch und ist verheiratet – meint die Mutter.«

»Und doch ist sie's,« sagte Lorchen bewegt. Und nun erzählte sie dem jungen Mädchen aus der Jugendzeit und ließ sich von ihr erzählen, fragte immer wieder nach der Mutter und trug die herzlichsten Grüße für sie auf. Dann kamen Johanna und Martha, und nachdem sie sich mit Elli bekannt gemacht hatten, nahmen sie sie mit in den Garten.

Otto hatte denselben kurz vorher verlassen, um zu Tante Elfriede zu gehen. Sie sprach lange ernst mit ihm, es wurde ihr schwer, seine Besuche, die ihr immer unentbehrlicher geworden waren, zu missen und doch freute sie sich mit ihm seiner Zukunftspläne. Nun war Abschied genommen und er betrat ernst das Wohnzimmer, wo er das Mütterchen allein fand. Er wollte sich eben zu ihr setzen, da wurde von der andern Seite die Tür aufgerissen. Johanna und Martha kamen herein, in ihrer Mitte Elli führend. Kurt, Georg und Karl machten den Schluß.

»Mutter,« riefen sie fast alle zugleich, »denke dir, hier ist sie, das ist das junge Mädchen, das uns damals mit ihrer Freundin begegnete!«

»Die uns das Geld schenkte, damit wir die Lampe kaufen konnten –«

»Wir haben sie erst nicht wieder erkannt, aber sie hat uns fünf erkannt und fragt uns« –

So riefen die jugendlichen Stimmen durcheinander und während noch die Mutter fragte und sich berichten ließ, stand Elli in größter Verlegenheit vor Otto, der ihr eine tiefe Verbeugung machte und erstaunt sagte: »Sie hier?«

Sie erhob das Auge schüchtern und fragte: »Sind Sie – der Pate von Tante Elfriede?«

»Sie halten mich dessen wohl nicht wert?« sagte er ernst. Als Elli schwieg, fuhr er fort: »Und Sie kehren bei meiner Pate ein und nennen sie Tante Elfriede?« –

»Otto,« unterbrach seine Mutter ihn, »dies Fräulein ist die Tochter meiner Jugendfreundin Elise.«

Er sah Elli erstaunt und durchdringend an und während Mutter und Geschwister sie fröhlich in ihre Mitte nahmen, verließ er das Zimmer. Es war ihm gewiß unangenehm, daß Elli gekommen war und das friedliche Zusammensein mit Mutter und Geschwistern störte.

Wie prächtig waren sie alle. Frau Pastor Rost war so mütterlich und liebevoll gegen Elli, und Johanna und Martha erboten sich, sie an die Bahn zu geleiten. Die Zeit des Aufbruchs kam nur zu bald. Lorchen trug an ihre Schwestern Philippine und Berta viele Grüße auf und stellte einen baldigen Besuch in Aussicht; an Ellis Mutter wollte sie schreiben, sie hoffte, auch mit ihr ein Wiedersehen zu ermöglichen.

Die drei jungen Mädchen waren am Bahnhof. Johanna und Martha trafen daselbst eine Freundin, mit der sie einige Worte wechseln mußten. Elli stand allein und wartete auf den Zug.

Da tönte eine wohlbekannte Stimme hinter ihr: »Ich wollte den Schwestern entgegengehen und« – er stockte – »Ihnen Lebewohl sagen. Ich werde für einige Jahre ins Ausland gehen. Ich freue mich, daß sie auch im weißen Häuschen einkehren. Als wir vor mehreren Jahren zusammen fuhren, machten Sie wohl einen Besuch dort?« –

Elli nickte.

»An demselben Abend,« fuhr Otto fort, »war ich auch bei Tante Elfriede. Der Abend war entscheidend für mein ganzes Leben. Doch, das wird Ihnen wenig wichtig sein; ich sage es nur, damit Sie wissen, daß ich von dem Tage an zu besserer Erkenntnis gekommen bin.«

»Herr Rost,« sagte Elli, nun allen Mut zusammennehmend. »Ich habe Agnes meine irrtümlichen Ansichten über Sie eingestanden. ES ist Ihnen hoffentlich lieb.«

Er lächelte eigentümlich.

»Sie wissen ja, wie Agnes über Sie denkt. Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie jedes Wort gehört haben.«

»Das weiß ich allerdings,« sagte er, wieder eigentümlich lächelnd. »Fräulein Agnes wird hoffentlich« –

Da kamen die Schwestern und der Zug pfiff. Elli mußte einsteigen. Die Schwestern verabschiedeten sich herzlich, Otto zog seinen Hut. Als der Zug eben abging, reichte er ihr plötzlich die Hand zum Wagen hinein und sagte: »Ich danke Ihnen für die mühevolle Arbeit, die Ihnen zu meinen Gunsten auferlegt worden ist. Wenn ich wieder nach Seehausen komme, schließen Sie mir nicht die Tür vor der Nase zu!«

Das war der alte humoristische Ton. Man konnte oft nicht unterscheiden, was Ernst oder Spaß sein sollte. War das das letzte Wort?

Der Zug war schon in Bewegung, die drei Geschwister standen noch da und wollten sich eben zum Gehen anschicken. Da lüftete Otto noch einmal den Hut und rief: »Auf Wiedersehen!« Dann reichte er seinen Schwestern den Arm und ging mit ihnen ins Städtchen zurück.

»Auf Wiedersehen!« Warum bewegte Elli das Wort so seltsam? Dasselbe hatte Doktor Körner zu Anna gesagt, als sie Abschied nahmen, aber sie standen ja ganz anders zueinander. Der Mann, der sie eben verlassen hatte, zog sie gewaltig an, das konnte sie sich nicht verhehlen, und doch wußte sie, daß er einer andern angehören würde, daß er sich einmal Agnes, die ihm so sehr zugetan war, holen würde. Mit ihr war er fertig. Er hatte es schließlich noch für seine Pflicht gehalten, für die Strickerei zu danken, und dem Wort: »Auf Wiedersehen!« wollte sie keine tiefere Bedeutung beilegen. Es wurde ja so oft gebraucht. Der Gedanke, daß sie sich wiedersehen würden, lag nahe, da sie beide im weißen Haus verkehrten. Sie wollte Herrn Rost ganz aus ihrem Gedankenkreis bannen, gab es ja so viel anderes, das sie augenblicklich tief bewegte.

Wie war alles so plötzlich über sie hereingebrochen! Die Nachricht von dem Schlaganfall, ihre schnelle Abreise, die traurige Ankunft am Begräbnistag der Tante und die darauf folgenden schweren Tage bei der Mutter. Ihre Zukunft lag ziemlich dunkel vor ihr. Sie hofften, die Tante werde ihnen so viel vermacht haben, daß sie würden leben können, aber das Testament war noch nicht eröffnet, es würde sich erst in den folgenden Wochen herausstellen. Die Mutter hatte gewünscht, daß Elli nach Seehausen zurück gehe, damit die Lehrzeit nicht unterbrochen würde. Sobald der Nachlaß der Tante geordnet war und sie einen Entschluß gefaßt hatte, wo sie künftig mit Elli leben wollte, sollte diese zur Mutter zurück. Mit schönen Zukunftsplänen trug sie sich. Sie wollte der Mutter Trost und Erquickung sein und zeigen, daß sie nicht vergeblich in der Pension gewesen sei. Wieviel hatte sie zu denken, als der Zug dahin rollte. Möchte nur alles so, wie sie es sich dachte, zur Ausführung kommen.


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